Aufbruch in neue Welten

Die Internationalen Filmfestspiele Berlin fungieren als ein wichtiger Seismograph für die Filmbranche. Im Programm der Berlinale spiegeln sich gesellschaftspolitische Befindlichkeiten, ästhetische und technische Entwicklungen ebenso wider wie aktuelle Finanzierungs- und Distributionstrends auf dem Filmmarkt.

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Aufbruch in neue Welten

Mit dem mitreißenden Eröffnungsfilm „True Grit“ von Joel [&] Ethan Coen, der das Festivalpublikum mitten in den Wilden Westen katapultierte, gab der Festival-Direktor Dieter Kosslick den Startschuss für die 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin. In diesem Remake des gleichnamigen John Wayne-Westerns heizt die unerschrockene 14-jährige Hauptdarstellerin Hailee Steinfeld selbst hart gesottenen Kerlen wie Jeff Bridges als versoffenem Marshal kräftig ein. Mit Methoden wie im Wilden Westen warten auch die gewissenlose Finanzjongleure in dem amerikanischen Thriller „Margin Call“ auf, der eindringlich den Niedergang eines großen renommierten Bankkonzerns vor Augen führt, der die gesamte Wall Street tief in den Abgrund stürzen ließ.

Die Finanzkrise ist nach Einschätzung der Experten im Filmgeschäft noch nicht überstanden. Die weltweit rückläufigen Fernsehverkäufe setzen der Branche erheblich zu, weil dadurch ein wichtiger Baustein für die Refinanzierung von Kinofilmen fehlt. Erschwerend hinzu kommt der schrumpfende DVD-Markt, der weder durch die Blu-ray-Auswertung noch durch Video-on-Demand-Angebote kompensiert werden kann. Während früher nahezu jede Produktion mit Unterstützung der europäischen Sender realisiert werden konnte, gestaltet sich dieser Prozess heutzutage als erheblich schwieriger. Die alten Finanzierungsmodelle brechen weg, doch es gibt noch keine neuen Geschäftsmodelle, welche diese ersetzen könnten.

„Der Long Tail wird immer länger“, konstatiert Irina Ignatiew, Sales Agentin von der Münchener Vertriebsfirma Telepool bei den EFM Industry Debates. Bisher seien die Einnahmen mit der Auswertung im Kino-, Fernseh- und Home-Entertainmentbereich generiert worden. Das Management der verschiedenen Rückflüsse aus vielen kleinen digitalen Auswertungskanälen gestalte sich hingegen wesentlich aufwändiger. „Wir müssen heute härter arbeiten, um die gleichen Ergebnisse mit einem Produkt zu erzielen.“
Besonders kompliziert sei die Situation für ausländische Arthousefilme, berichtet Ben Robert vom britischen Weltvertrieb Protagonist Pictures. „Wenn kleinere fremdsprachige Filme über keinen Kinoverleih verfügen, der sie mit gezieltem Marketing unterstützt, werden diese Filme kaum wahrgenommen und lassen sich entsprechend schwer im Fernsehen und auf DVD herausbringen.“

Die Kinoauswertung von Independent-Produktionen sei schwieriger geworden, erklärt Glen Basner von FilmNation, da es immer teurer werde, einen Film im Kino zu starten und gleichzeitig weniger Einnahmen aus der Nebenauswertung generiert würden. „Das erschwert die Filmauswahl, denn das Auswertungspotenzial spielt eine zunehmend wichtigere Rolle.“ Aber auch im Independentbereich gibt es durchaus erfolgreiche Produktionen wie beispielsweise den Berlinale-Wettbewerbsfilm „The King’s Speech“, dessen Marktpotenzial Paul Brett von der britischen Finanzierungsfirma Prescience frühzeitig erkannte. Für diesen zwölf Millionen Dollar teuren Kinofilm wurde ein Finanzierungskonzept erstellt, das neben Vorverkäufen, Steuervorteilen, Fördermitteln und der Minimumgarantie von Film Nation eine Equity-Beteiligung von privaten Investoren beinhaltete, die sich nun über den großen Erfolg des Oscar-Favoriten freuen können, der weltweit bereits über 200 Millionen Dollar eingespielt hat. „Dieser Film hat alle unsere Erwartungen übertroffen“, gestand Glen Basner.

Weltpremiere für Stereo3D-Filme

Ein wachsendes Potenzial auf dem Kinomarkt besitzen Stereo3D-Filme, die bisher dem klassischen Mainstream-Bereich vorbehalten waren. Mit drei ausgewählten 3D-Arthouseproduktionen eröffnete der Festival-Direktor Kosslick den Festivalbesuchern eine neue Dimension. Den Aufbruch in die 3D-Welt gewagt hat Wim Wenders, der mit „Pina“ der Wuppertaler Tanztheater-Ikone ein filmisches Denkmal setzt, das dem Zuschauer sowohl die Theaterbühne als auch die Außenwelt in 3D vor Augen führt. Dieses Kinoerlebnis ließen sich selbst der Bundespräsident Christian Wulff und die Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht entgehen. Sie folgten gerne Kosslicks Einladung zum 3D-Kinotag. Auf großes Interesse stieß ebenfalls Werner Herzogs in 3D gefilmter Dokumentarfilm „Cave of Forgotten Dreams“, in dem er die rund 30.000 Jahre alte Höhlenmalereien in einer Tropfsteinhöhle in Südfrankreich eingefangen hat.

Angesichts der fortschreitenden Kinodigitalisierung, für die nun die FFA und das BKM die Mittel fließen lassen, schauen sich auch die Programmkinomacher interessiert nach Arthouse-affinem 3D-Content um. Allein in Nordrhein-Westfalen rüsten ein knappes Dutzend Kinos wie das Cinema in Wuppertal ihre Projektionssysteme um, damit sie „Pina“ in 3D spielen können. Rund die Hälfte der 70 Startkopien von „Pina“ seien an Einzelhäuser und Programmkinos vermietet worden, berichtete der „Pina“-Produzent Erwin M. Schmidt.
„3D ist eine Ergänzung zu 2D-Filmen, aber kein Ersatz“, betonte der CinemaxX-Geschäftsführer Christian Gisy. „Mit 3D-Filmen wird ein Event kreiert, das vom Publikum gewünscht wird.“ Auf die Auswertung von Stereo3D-Filmen setzt jetzt auch der deutsche Verleih MFA+ Filmdistribution mit 3D-Titeln wie dem koreanischen Animationsfilm „Tarbosaurus“ oder dem Fantasy-Film „Sector 7“, den Geschäftsführer Christian Meinke auf dem EFM akquiriert hat. Insgesamt wurden auf dem European Film Market rund 40 neue Stereo3D-Produktionen angepriesen. Zu den Highlights, um die in verschiedenen Territorien regelrechte Bieterstreits entbrannten, gehörte der Dokumentarspielfilm „African Safari 3D“ von Ben Stassen, dem Regisseur des 3D-Animationshits „Sammys Abenteuer“. Den Zuschlag für den deutschen Markt erhielt Kinowelt. Während die Chinesen im „Jahr des Kaninchens“ den 3D-Animationsfilm „Legend of a Rabbit“ produziert haben, der ab Juli in über tausend chinesischen Kinos laufen soll, wird in England an einer Neuverfilmung von „Oliver Twist“ in Form eines 3D-Actionfilms gearbeitet.

Der massive Kinoeinsatz von 3D-Blockbustern, die in manchen Multiplexen im Halbstundentakt angeboten werden, hat in dem kleinen Filmland Österreich bereits dazu geführt, dass selbst erfolgreiche Filme in Hochfrequenz-Zeiten an den Rand gedrängt werden. Von dieser Entwicklung sind die Majors mit kleineren Filmen ebenso betroffen wie die Independents. „Es spielt für die Prolongationsmechanismen keine Rolle mehr, ob ein Film gute oder schlechte Zahlen schreibt, denn irgendwann ist kein Platz im Kino mehr“, erklärt der Arthouse-Verleiher Michael Stejskal vom Filmladen in Wien.

Die Folgen der digitalen Revolution

Verschärft wird diese Situation durch teilweise kontraproduktive öffentliche Förderungen, welche die bestehende Überproduktion von Filmen weiter vorantreiben, von denen sich nur ein Bruchteil über die Kinoauswertung finanzieren lässt. Die in dem europäischen Netzwerk Cine-Regio zusammen geschlossenen Regionalförderungen haben auf der Berlinale die Studie „Die digitale Revolution“ vorgelegt, der zufolge die Filmproduktion in Europa in den letzten fünf Jahren um 25 Prozent auf einen Output von 1.145 Filmen pro Jahr angestiegen ist, während die Anzahl der Kinofilmproduktionen in den USA im Vergleichszeitraum um 21 Prozent gesunken ist. Demgegenüber steht ein rückläufiger Kinobesuch mit bis zu neun Prozent weniger Zuschauern in den letzten fünf Jahren. Die beiden Majorstudios Warner Bros. und Disney haben bereits angekündigt, ihre Aktivitäten künftig auf eine kleine Anzahl von globalen Mega-Starts zu reduzieren.

Mit Steueranreizen, wie sie der Deutsche FilmFörderFonds (DFFF) bietet werden große Hollywoodproduktionen an den entsprechenden Standort gelockt, um dort die heimische Filmproduktion anzukurbeln. In Deutschland profitieren auch viele heimische Produktionen von den jährlich 60 Millionen Euro DFFF-Geldern, die allerdings an die Bedingung geknüpft sind, dass ein Verleih vorab die Kinoauswertung des Films mit einer bestimmten Kopienanzahl garantiert. Diese Regelung führe dazu, dass auch Filme in den Markt drängten, die im Kino sonst keine Chance hätten und nur unnötig die Leinwände blockierten, kritisierte Stephan Hutter, Geschäftsführer vom Prokino Filmverleih.

Der Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, kündigte auf der Berlinale an, sich für die Fortsetzung des DFFF um weitere drei Jahre einzusetzen. „Der Kinofilm ist existent und lebt – international wie national“, bekräftigte der Kulturstaatsminister. „Für mich ist der Kinofilm ein eigenständiges ästhetisches Kulturgut – hier ist besondere Filmkunst gefordert für die ganz große Leinwand.“ Insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen sollte dem Kinofilm in seinem Programm bessere Chancen geben – und zwar auf ordentlichen Sendeplätzen, forderte Neumann bei der Berlinale-Eröffnung.

Schwierige Finanzierung von Arthouse-Filmen

„Die Sender setzen gerne auf große Blockbuster mit bekannten Namen, mit denen sich hohe Quoten und attraktive Werbeeinnahmen erzielen lassen“, weiß Matthias Peipp, Geschäftsführer von Constantin Film. Die Finanzierung und der weltweite Verkauf von Arthouse-Filmen würden sich hingegen als schwierig erweisen, da diese auch von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland kaum noch gekauft werden. „In diesen Zeiten ist es wichtig, innovativ zu sein“, unterstreicht Peipp, „denn der Kuchen wird nicht größer.“

Bei der Vermarktung von Kinofilmen sind die Amerikaner nach wie vor Weltmeister. Um die Aufmerksamkeit der Einkäufer auf dem EFM auf den neuen Spielfilm „W.E.“ von Madonna zu lenken, flog der US-Weltvertrieb IM Global die Popsängerin nach Berlin ein, die persönlich erste Ausschnitte aus ihrer zweiten Regiearbeit im Kino vorstellte. Mit dem auf 40 Millionen Dollar budgetierten Actionfilm „Headshot“ mit Sylvester Stallone präsentierte IM Global zudem das größte Filmprojekt auf dem EFM, für das Constantin Film mehrere Millionen Dollar hinblätterte.

Die Branche kämpft um MEDIA

Für helle Aufregung in der Branche sorgte die Nachricht, dass das MEDIA-Programm zur Förderung der audiovisuellen Industrie in Europa von der EU-Kommission auf den Prüfstand gestellt werden soll.
Während Androulla Vassiliou, die EU-Kommissarin für Bildung und Kultur, im Martin-Gropius-Bau stolz das neue Programm MEDIA Mundus zur Entwicklung internationaler Netzwerke für Filmschaffende vorstellte, wurde hinter den Kulissen bereits um die Fortsetzung von MEDIA gekämpft, für das im Zeitraum von 2007 bis 2013 insgesamt 755 Millionen Euro zur Verfügung
stehen. „In Zeiten der finanziellen Krise muss in allen Bereichen mit Kürzungen gerechnet werden“, erklärte Aviva Silver. „Wir arbeiten bereits am Nachfolgeprogramm und unternehmen alle Anstrengungen, damit es fortgesetzt wird. Dafür benötigen wir die Unterstützung der Branche.“

Noch während der Berlinale unterzeichneten namhafte europäische Regisseure wie Wim Wenders, Roman Polanski, Pedro Almodóvar, Nanni Moretti, Francois Ozon, Stephen Frears und Lars von Trier eine Petition, in der sie die Fortsetzung von MEDIA fordern. Inzwischen haben ein Dutzend europäische Filmverbände ein gemeinsames Schreiben an den EU-Kommissionspräsidenten Jose Manual Barroso geschickt, für den die Filmindustrie keine Priorität besitzt. „Es ist Aufgabe unserer Branche, die nationalen und europäischen Politiker von der Wichtigkeit dieses Programms, aber auch der Filmwirtschaft selbst zu überzeugen“, betonte Aviva Silver. Daher sei es notwendig, nicht nur den Kulturministern, sondern auch den Finanzministern zu erklären, dass die Filmindustrie eine Wachstumsbranche sei, in der in Europa mehr als eine 1,2 Millionen Menschen beschäftigt sind.
Am 18. März wird bei der EU-Kommission in Brüssel ein öffentliches Hearing stattfinden, bei dem erörtert wird, wie die Zukunft von MEDIA aussehen wird. Um den Politikern diese Botschaft zu vermitteln, will die MEDIA-Chefin bekannte Branchenvertreter nach Brüssel einladen. Ganz oben auf ihrer Liste der Wunschkandidaten steht Berlinale-Direktor Kosslick, der als Initiator und Präsident der ersten europaweiten Vertriebsförderung efdo 1986 in Hamburg das MEDIA-Programm mit aus der Taufe gehoben hat.
Birgit Heidsiek
(MB 03/11)