Beharrungstendenzen

Am 20. März fand in Berlin das jüngste Symposium der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten, DLM, unter dem Titel „Reichweiten –Inhalte – Regulierung. Wie finanziert sich der konvergente Rundfunk?“ statt. Zu zwei Fragen gab es interessante Informationen: Wie ist die deutsche Fernsehindustrie aktuell aufgestellt? Und was gibt es Neues zur Konvergenz-Quote?

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Beharrungstendenzen

Wie gewohnt ging es auch beim jüngsten DLM-Symposium insgesamt um viele, zu viele höchst abstrakte Themen, die ohne vorbereitende zusammenhängende Relevanz-Einordnung abgehandelt wurden. Es waren viele spezielle Spezial-Experten geladen, die die Themen im jeweiligen Fachjargon erörterten, so dass es am Veranstaltungsort (dbb forum) in Berlin-Mitte mal wieder weitgehend nur ein großes Rauschen gab. Immerhin wusste aber der DLM-Vorsitzende Dr. Jürgen Brautmeier schon bei seiner Begrüßungsrede ganz konkret, worin die ganze Veranstaltung einmünden solle. Am Ende werde der Begriff „Medienstaatsvertrag“ fallen. Ziel der Medienanstalten ist, dass ihnen mit diesem Vertrag, der den Rundfunkstaatsvertrag ergänzen könnte, von der Politik eine Kompetenzerweiterung zugesprochen wird. Sie möchten gerne künftig die Aufsicht „über das Bewegtbild im Netz bundeseinheitlich“ ergattern. Das hieße, sie würden dann wohl auch über öffentlich-rechtliche Bewegtbilder im Netz wachen.

Den privaten Sendern wäre das recht. Zumal Bräutigam für sie erstaunlicherweise in seiner Rede eine Verschlechterung ihres „Kostendeckungsgrades“ in den letzten Jahren konstatierte, was „zum Handeln zwinge“, obwohl sowohl die ProsiebenSat.1- wie die RTL-Gruppe bekanntlich laufend neue Rendite-Rekorde melden. Aber: Nachdem die einstige Funktion der Medienanstalten, über den Privatfunk zu wachen, mehr und mehr Makulatur geworden ist, und man sich auf regionaler Ebene längst in den unübersichtlichen Bereich der „Medienkompetenz“ verabschiedet hat, tut eine neue große Aufgabe not, um die Existenz für die Zukunft abzusichern. Auch eine Art von Beharrungstendenz.

Über „Beharrungstendenzen“ in der Fernsehindustrie macht sich Prof. Dr. Susanne Stürmer, Präsidentin der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (HFF); Sorgen. Diese, so referierte die promovierte Volkswirtin, die noch im letzten Jahr Mitglied der Geschäftsführung des in Deutschland marktführenden TV- und Film-Produktionsunternehmen UFA war, in ihrer Keynote zum Symposium könnten dazu führen, dass die deutsche Fernsehindustrie „im internationalen Wettbewerb Chancen verpasst“. Konkret gemeint ist damit, wie sie an anderer Stelle erklärt, die deutsche „Handelsbilanz“ im internationalen Programm-Markt, die „die schlechteste insgesamt“ sei. So würden deutsche TV-Sender „am meisten“ TV-Programme importieren, mehr als Belgien, Israel, Schweden oder die Türkei, beispielsweise. Umgekehrt würde aber kaum deutsches Programm exportiert und damit eben auch keine internationalen Investitionsgelder gewonnen. Im Online-Bereich der neuen VoD-Plattformen (etwa Watchever von Vivendi, Maxdome oder My Video von ProSieben) würden hierzulande zusätzlich vor allem internationale Programme genutzt. Speziell von den 14- bis 29-Jährigen, so behauptete Stürmer, werde „kaum deutsches Programm konsumiert“. Tatsächlich sind ja selbst Entertainment-Formate wie etwa „Germany‘s next Topmodel“, DSDS oder ähnliches importiert. Stürmer appellierte: Das deutsche Fernsehen „sollte sich dringend neu erfinden“.

Hintergrund: Stürmer ist nicht nur HFF-Präsidentin, sondern auch Mitglied des Gesamtvorstands der Produzentenallianz. Die wiederum zeigt sich durchaus von der vielfach in Zeitungen geäußerten TV-Sender-Kritik mit betroffen, dass hochqualitative fiktionale Serien von „Borgen“ über „Breaking Bad“ bis zu „House of Cards“ ausschließlich aus dem Ausland stammen. Man strebt im Verhältnis zu den TV-Sendern an, zumindest an den Zweitverwertungsrechten insbesondere auch für den Weltvertrieb partizipieren zu können, um auf diese Weise mehr Geld und Investitionspotential für weitere Projekte zu erhalten. Aber Voraussetzung dafür wäre, Aufträge – oder wie Stürmer sagt – eine „Aufgabenstellung“ von den TV-Sendern zu erhalten, die sich an den internationalen Markt orientiert. Doch die TV-Sender, so Stürmer, seien speziell hinsichtlich der fiktionalen Serienproduktion allein am Erfolg im lokalen Markt interessiert. Schlimmer noch: Es existiere im nationalen TV-Markt kaum Innovationsbereitschaft, sondern mehr die Orientierung an preiswerten Programm-Genres. Das belegt Stürmer mit Zahlen aus der UFA-Marktforschung, für die sie viele Jahre neben anderem verantwortlich war: Zwar sei der „Tiefpunkt von 2009“ überwunden, als es lediglich 196 Neustarts von eigenproduzierten seriell angelegten Programmen insgesamt bei den hiesigen TV-Sendern gegeben habe. Die gute Nachricht relativiere sich aber bei näherem Hinsehen, da es sich heute fast ausschließlich um preiswerte, für Produzenten niedrig budgetierte Programmgenres handele. Von den 361 seriellen Neustarts – mit mindestens zwei Folgen – in 2013 habe es sich nur bei rund 15 Prozent, nämlich 47 Projekte, um Fiction gehandelt, wobei auch die Scripted Reality mit eingerechnet sei. Dagegen seien 230 Factual- und 107 Entertainment-Formate von den TV-Sendern in Auftrag gegeben worden. Immerhin stammten 24 Prozent der Neustart-Aufträge von kleineren Sendern, die im Zuge der Fragmentierung auf den Markt gekommen sind, wie etwa ZDFneo, joiz, Dmax oder RTLnitro. Doch sowohl die kleineren digitalen TV-Sender wie auch in Deutschland tätigen VoD-Plattformen seien „weit entfernt davon fiktionale Aufträge zu erteilen, die den Backbone der Produktionswirtschaft bilden“. Sie haben, wenn überhaupt, nur niedrige Auftrags-Budgets. Stürmer gibt sich zwar optimistisch, was die Entwicklung von Sky Deutschland als künftiger fiktionaler Auftraggeber angeht, glaubt aber nicht daran, dass beispielsweise die Online-Plattform Netflix, dessen Eintritt im deutschen Markt Ende des Jahres erwartet wird, schnell für neue Aufträge an die Produktionswirtschaft sorgen wird.

So bleibe es im deutschen Fernsehmarkt bei einer „Spreizung“ zwischen sehr teueren Event-Programmen wie auch Sport und „einem immer breiter werdenden preiswerten Programm“, mit dem man international nicht reüssieren kann. Stürmer nennt einen Grund, warum aus ihrer Sicht die deutschen öffentlich-rechtlichen und privaten Sender aktuell nicht in der Lage sind, solche fiktionalen Serien in Auftrag zu geben, die auch „international Aufsehen erregen“. In den vergangenen Jahren seien die TV-Sender vor allem mit ihren vielfältigen Aktivitäten im Internet hinsichtlich des Aufbaus verschiedener Plattformen beschäftigt gewesen, unter anderem auch mit den am Kartellamt gescheiterten Projekten „Germanys Gold“ (ARD/ZDF) und „Amazonas“ (RTL/ProSiebenSat.1), in das bereits hohe Investitionen flossen. Dabei sei der Inhalte-Wettbewerb nach hinten angestellt worden. Eine „Win-Win-Situation“ zwischen Sendern und Produktionswirtschaft mit internationalen Dimensionen könne aber nur entstehen, wenn „die Dynamik der Inhalte“ berücksichtigt werde: der Kern des Geschäfts.

Was tun, um die Beharrungs-Situation aufzubrechen? „Woanders“, so Stürmer, sei man den regulatorischen Weg gegangen, „oligarchische Strukturen zu Gunsten eines Wettbewerbs zu entbündeln“. Das heißt: die Segmente TV-Sender und Verwertungsrechte als Auftraggeber auf der einen Seite und die Produktionswirtschaft als Auftragnehmer auf der anderen Seite sei aufgebrochen worden. Für diesen eher revolutionären Weg, der auch das gesamte hiesige ordnungspolitische System samt der Aufsichtsgremien wie Medienanstalten in Frage stellen würde, plädiert Stürmer allerdings nicht. Sie sieht eine Lösung darin, dass neuartige Verträge zwischen Sendern und einzelnen Produzenten geschlossen werden. Ihr schwebt „eine Gleichrichtung der Interessen“ zwischen TV-Sendern und TV-und Film-Produktionswirtschaft vor. Wie auch immer.

Konvergenzquote ab 2015

Ob sich allerdings tatsächlich eine hohe fiktionale Qualität allein dadurch ergibt, dass man sich vornimmt, für den internationalen Markt zu produzieren, um mehr Geld zu verdienen? Martin Krapf, der noch bis vor kurzem Chef beim RTL-Werbezeiten-Vermarkter IP Deutschland war, heute Geschäftsführer der privaten und öffentlich-rechtlichen Werbevermarkter-Initiative „WirkstoffTV“ ist, merkte zu Stürmers Vortrag an, der habe ihm prima gefallen. Nur habe er einen Aspekt vermisst: Könne die Produktionswirtschaft ihre internationalen Ziele nicht besser mit mehr eigenem unternehmerischem Engagement erreichen, anstatt sich nur an Aufgabenstellungen der TV-Sender zu halten? Damit war die offizielle Diskussion über den Vortrag beendet. Allerdings blieb er in den Pausen Gesprächsstoff im Foyer, wo sich manch einer darüber wunderte, dass deutsches Fernsehprogramm so wenig internationale Beachtung findet, zumal man es doch bislang als einen internationalen Qualitätsmaßstab wahrgenommen hatte – oder man den Vortrag als „Highlight“ des Symposiums empfand, weil endlich mal jemand beschrieben habe, warum die Situation hierzulande so ist wie sie ist: ein eintöniger TV-Programm-Markt ohne Innovationsdynamik. Klar geht es in der Fernsehindustrie vorrangig um Geld. Davon ist bei den großen deutschen TV-Sendern sogar reichlich vorhanden. Bei den Öffentlich-Rechtlichen sowieso und auch bei den privaten Sendern der RTL- und ProSiebenSat.1-Gruppe sei durch die stetig steigenden Renditen „Investitionspotential“ da, hatte Stürmer in ihrem Vortrag erwähnt. Nun fließt aber das Geld bei ARD/ZDF massenhaft in Verwaltung und Pensionen, bei RTL an den Mutterkonzern Bertelsmann und bei ProSiebenSat.1 ist es über viele Jahre in die Kassen der Finanzinvestoren geflossen – anstatt ins Programm. Doch die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) die für die berühmte Einschaltquote verantwortlich ist, hat nun, um noch einmal Stürmer zu zitieren, mit dem „Videostreaming Projekt“ einen neuen Topf für „das Einsammeln von Werbegeldern“ im Visier. Zum einen. Zum anderen, das ist aus der Berichterstattung in der Werbe-Fachpresse zu erfahren, geht es auch darum, die VoD-Nutzung der Mediatheken der großen TV-Senderfamilien zu erfassen, um unter anderem auf diese Weise den eklatanten Schwund an jüngeren TV-Zuschauern, wie auch den Rückgang in den Netto-Reichweiten des linearen TV-Konsums, messtechnisch wieder einzufangen. Die Nutzung von Videostreaming und VoD analog zur Aussagekraft der klassischen Quote (z.B. Nutzungsdauer, detaillierte soziodemografische Daten, Marktanteils-Daten) zu messen, ist allerdings hoch komplex: Bei der Konvergenz-Quote, die ab 2015 eingeführt werden soll, handele es sich um „den komplexesten Ansatz, den es weltweit gibt“, wie die AGF-Vorstandsvorsitzende Karin Hollerbach-Zenz (von der ProSiebenSat.1-Vermarktungstochter Sevenone Media) sagte. Wobei, nur um es zu erwähnen, neben der AGF auch noch AGMA und AGOF beteiligt sind. Wie die Messung im Einzelnen funktionieren wird, wird für Außenstehende ein noch größeres Geheimnis sein als die jetzige Quote mit einem Panel von über 5.000 repräsentativ ausgewählten TV-Haushalten.

Um aus dem Rauschen der Diskussion wesentliche Fakten zu destillieren: Erstens wird die Quote, so wie sie ist, weiter erhalten bleiben. Sie ist „ein hohes Gut“ erläuterte Hollerbach-Zenz, mit der man „den Löwenanteil der TV-Nutzung“ erfasse und bleibt deshalb Basis des Werbegeschäfts, auch wenn das TV-Haushalte-Panel permanent überarbeitet werden muss. Zur Erinnerung: Diese Quote wird zusammen von ARD/ZDF, RTL und ProSiebenSat.1 finanziert und berücksichtigt über 600 TV-Sender, egal ob über Kabel, Satellit, DVB-T, IPTV als Pay- oder als Free-TV. Jeder TV-Sender kann eine Lizenz von der AGF für Geld erwerben und erhält im Gegenzug die erfassten Quoten samt Nutzungsdauer dafür. Kontrolliert wird die Währung „Quote“, wie Krapf referierte, von der werbetreibenden Wirtschaft und ihren Mediaagenturen, die Vertreter in die AGF entsandt haben. Die klassische Quote ist eine Konvention oder wie Krapf betont die „Währung“ einer „joint industry community“.

Das Prinzip der Vergleichbarkeit einer Währung soll künftig in der Konvergenz-Quote einmünden, die die Video-Nutzung im Internet mit einbezieht. Auch hierfür sind die vier großen, in der AGF versammelten TV-Senderfamilien maßgeblich verantwortlich, – eine weitere Art „Beharrungstendenz“. Krapf nennt es eine „Frechheit“, dass sich internationale Internet-Konzerne wie YouTube weigern, sich der deutschen Joint Industry Community und ihrer neuen Währung, die Vergleichbarkeit schaffen will, nicht unterordnen wollen, sondern weiterhin ihre eigenen Geschäftsmodelle im Werbegeschäft verfolgen wollen. Das führt aber zu erheblichen Aussageproblemen für die neue Konvergenz-Quote. Im Gegensatz zur klassischen Quote könne man ohne Beteiligung von beispielsweise YouTube, wie Hollerbach-Zenz erklärt, „Marktanteile und Prozentwerte im allgemeinen“ nicht öffentlich ausweisen, weil darin beispielsweise dann der „relativ große Marktanteil von YouTube“ nicht berücksichtigt werden könne (den man intern übrigens längst kennt und offensichtlich nicht als alarmierend einschätzt).

Tatsächlich hat die AGF für den Online-Bereich längst ein repräsentatives Panel mit 25.000 Nutzern in Betrieb. Es bezieht sich auf Online-Abrufe von zu Hause aus via Laptops und PCs. In den Geräten der beteiligten Haushalte ist eine Mess-Software installiert, die das jeweilige Nutzungsverhalten trackt. Die Messergebnisse davon sollen ab 2015 mit Hilfe eines mathematischen Berechnungsverfahrens mit der klassischen Quote zu einer Konvergenz-Währung fusioniert werden. Dass sich die neue Videostreaming-Quote negativ auf die bisherige Reichweite und Sehdauer der Programme der großen TV-Sender auswirken wird, ist nicht zu erwarten. Wie Hollerbach-Zenz auf Anfrage erklärte, haben die laufenden Tests gezeigt, dass „die bisherigen Highlights aus dem Fernsehen auch die Highlights bei Video on Demand“ sind. Noch eine Beharrungstendenz.

Doch die Werbewirtschaft, die, wie zu vernehmen war, für GZSZ im Online-TV das Doppelte im Vergleich zum linearen TV zahlen soll, drängt auf schnelle statistische Zahlen. Wie Kirsten Nachtigall, Geschäftsleitung der Mediaagentur Carat Deutschland, auf dem Symposium forderte, müsse die Diskussion über eine neue Konvergenz-Währung „endlich beendet“ und Zahlen veröffentlicht werden. Und oh Wunder: Obwohl Hollerbach-Zenz auf Anfrage beim Symposium noch erklärte, dass es noch lange Zeit keine Lösung geben werde, wie man auch die mobile Nutzung der Videos etwa in Büros, Universitäten, Schulen usw. nach den Maßstäben der hehren bisherigen Quote messen könne, veröffentlicht die AGF seit Ende März offiziell die Zahlen, die sie sowieso schon lange hat: Top-10-Hitlisten, welche Programme der an der AGF beteiligten Sender am meisten als Videostreaming abgerufen werden. Diese Messung stammt vom globalen Medienmarkt- und Konsum-Forschungsunternehmen Nielsen.
Erika Butzek

(MB 3/14)

© Andreas Franke – panabild.de

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