TV wird Empfehlungsmaschine

Der Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT), Die Medienanstalten und die Deutsche TV-Plattform organisierten unlängst in Berlin die Tagung „Suchen – Finden – Navigieren“. Diskutiert wurde hier die Auffindbarkeit von Medieninhalten und der zunehmende Einsatz von Empfehlungs-mechanismen fü̈r die Bewegtbildnutzung. neben den damit verbundenen Herausforderungen für Gerätehersteller sowie für Inhalte- und Plattformanbieter wurden auch Marktkennzahlen und die Frage nach Regulierungsbedarf erö̈rtert. MEDIEN BULLETIN sprach darüber mit dem VPRT-Medientechnologie-Experten Sebastian Artymiak.

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TV wird Empfehlungsmaschine

Herr Artymiak, worum ging es bei der Veranstaltung, was war der Hintergrund?

Die Digitalisierung hat zu einer schier unübersichtlichen Vielfalt an TV-Programmen geführt, wobei es zusätzlich eine Vielfalt an Video-Online-Angeboten im Internet gibt. Beides zusammen wird von den SmartTV-Geräten abgebildet. Entscheidend ist heute deshalb die Frage, wie der Nutzer welche Programme findet. Denn nur der Inhalt, der gefunden wird, kann auch geschaut werden.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Navigationssysteme für Ihr Demonstrationsprojekt „Live und in Farbe“ ausgewählt?

Aus den Dutzenden von existierenden Systemen haben wir acht ausgewählt. Dabei waren neue SmartTV-Geräte, Set-Top-Boxen und Sticks, mit denen man ein älteres TV-Gerät mit dem Internet verbinden kann und so daraus quasi einen aktuellen SmartTV macht. Wir haben die marktführenden SmartTV-Geräte von Samsung, LG und Phillips mit ihren aktuellen Betriebssystemen gezeigt, die Set-Top-Box Horizon Go von Unitymedia, weil die sehr nahe am Live-TV mit Online-Verknüpfungen ist, die Sky-Set-Top-Box als Beispiel des prominentesten Pay-TV-Anbieters und als Blick über den Tellerrand die internationale Tivo-Box. Hinzu kamen zwei Beispiele auf dem relativ neuen, Feuerzeug-großen Streaming-Stick von Amazon Prime Video und Netflix.

Es war ein ziemlich aufwändiges Demonstrationsprojekt, zumal jeweils Vertreter der Hersteller selber anwesend waren, um die Systeme zu präsentieren. Welches politische Interesse hat speziell der VPRT damit verfolgt?

Es geht zuallererst um Veranschaulichung. In der Folge geht es dann auch um die Frage, ob die aktuelle Medienregulierung noch zeitgemäß ist. Allein wenn man die rasanten technischen Entwicklungen beobachtet, lautet die Antwort: nein. Medien-politisch relevant ist dann die Frage, was genau neu reguliert werden müsste, was muss angepackt werden? Und da sind wir wieder bei der Frage nach der Auffindbarkeit der Inhalte. Konkret: Müssen nicht die Programme, die heute bereits reguliert werden, auffindbar sein? Wenn man diese Frage theoretisch diskutiert, führt das meistens nicht weiter. Deswegen hatten wir uns für ein praktisches Demonstrationsprojekt entschieden, das zeigt wo der Haken liegt.

Sie haben bei der Demonstration die verschiedensten Navigationssysteme, die zur „Auffindbarkeit“ führen, nach drei Kategorien unterteilt. Erstens Senderlisten, die von SmartTV-Herstellern per Werkseinstellung geboten werden. Zweitens die neue App-Online Welt und die Benutzeroberflächen, wie sie auf dem Screen angeboten werden. Drittens die persönlichen Empfehlungssysteme. Wo liegt der von Ihnen genannte Haken?

Schwerpunkt für uns sind auch heute noch die Senderlisten der SmartTV-Geräte, die auch ohne Online-Verbindung offeriert werden. Es ist für TV-Sender entscheidend, auf welchem Platz in der Senderliste sie stehen, um tatsächlich aufgefunden und geschaut zu werden. Wer beispielsweise auf dem Platz 300 landet, hat wenige Chancen. Ebenso wichtig ist, in welcher Sichtbarkeit in der Bedienoberfläche die Applikationen wie AV-Angebote per Werkseinstellung vorinstalliert werden und wie die Empfehlungen funktionieren. Beispiel: Wenn immer nur die Dokus von einem Sender empfohlen würden und nie die von anderern, dann wäre das für diese unvorteilhaft. Oder anders gesagt: Da die Programmvielfalt für den Konsumenten unüberschaubar geworden ist, haben diejenigen Hersteller, die die Empfehlungssysteme entwickeln oder durch Dritte entwickeln lassen, eine hohe Steuerungsmöglichkeit, was der Nutzer findet und guckt.

Mittlerweile hat aber auch der VPRT nichts mehr dagegen, dass die sich neue, bislang kaum regulierte Online-Video-Welt nicht nur auf Smartphones und Tablets, sondern auch auf dem TV-Bildschirm breit macht?

Was sollten wir dagegen haben? Wir können den Fortschritt nicht aufhalten. Bleiben wir bei der Senderliste. Dafür hat der VPRT schon vor Jahren einen Vorschlag gemacht, wie man listen könnte, so dass es aus unserer Sicht eine gerechte Platzierung für öffentlich-rechtliche und private Sender und faire Wettbewerbsbedingungen für alle gibt. Die Vorsortierung der Sender muss ausgeglichen sein, was aber immer noch nicht bei allen Geräteherstellern der Fall ist. Beispielsweise listet, wie gezeigt, ein Gerätehersteller in der Vorsortierung nur insgesamt 21 Sender aus, womit viele private Sender benachteiligt werden.

Charakteristisch für SmartTVs der ersten Generation war die App-Benutzeroberfläche, die den Zugang in die Online-Welt nach Auswahl der jeweiligen Gerätehersteller möglich machte. Wie wichtig sind die Apps heute und was hat sich geändert?

Apps haben eine steigende Relevanz. Bei den ersten SmartTV-Geräten war die App-Welt, die das Online-Angebot wie Smartphones als „Kacheln“ präsentierte, noch vom Live-TV getrennt. Wenn man die App-Taste drückte, war man weg vom Live-TV. Bei den aktuellen Geräten verlasse ich die Fernsehwelt nicht mehr. Online kommt hinzu und bietet dadurch beispielsweise, wie bei LG, Empfehlung an, dass wenn der Zuschauer das Eine oder Andere geschaut hat, ihn auch noch das Eine oder Andere interessieren könnte. Und das macht das Thema Empfehlungen so richtig spannend.

Und wo ist da der Haken bei solcherart Empfehlungssystemen?

Es muss sichergestellt werden, dass alle vorliegenden Programm-Daten auch ausreichend verarbeitet werden, so dass eine Gerechtigkeit gewährleistet ist, dass keine Programme vernachlässigt werden. Das ist der Knackpunkt: Kein Programm darf benachteiligt werden oder Vorteile bei der Auswahl haben. Denn auch bei den Empfehlungen ist es so, dass der Nutzer das anklickt, was vorne steht. Die Empfehlungen müssen chancengleich und diskriminierungsfrei sein.

Wie will man das bei der Vielzahl von verschiedensten Empfehlungssystemen regeln? Durch eine Programmierungsvorgabe?

Im weitesten Sinn schon, denke ich: Wenn der Gesetzgeber definiert, dass bestimmte TV-Programme in unserer Gesellschaft aufgrund ihrer Inhalte besondere Werte repräsentieren und deshalb auffindbar sein müssen, muss der Hersteller, der die Software entwickelt, diese Regel berücksichtigen. Unser gemeinsames Ziel war es hier aber erst einmal zu sensibilisieren – nicht mehr und nicht weniger.

Laut neuester GFK-Zahlen nutzen hierzulande aktuell 15 Prozent die Internetfähigkeit ihres TV-Gerätes. Das sind zehn Millionen Personen in Deutschland. Wie intensiv nutzen diese Menschen bereits die neuartigen Empfehlungssysteme?

Die Empfehlungssysteme nehmen jetzt Fahrt auf. Wir, der VPRT, die Deutsche TV-Plattform und die Medienanstalten haben zusammen mit der GFK eine Ad hoc Studie zum Suchverhalten nach TV-Programmen in SmartTV-Haushalten durchführen lassen. Danach nutzen bereits 50 Prozent auch die Empfehlungssysteme, die Hälfte davon sogar regelmäßig. Das hat selbst uns überrascht. Ganz offensichtlich werden Empfehlungssysteme für Fernsehzuschauer attraktiv, um sich in der zunehmenden Programmvielfalt orientieren zu können, ohne zuvor minutenlang Listen durchforsten zu müssen, um überhaupt zu wissen, was angeboten wird.

Dann haben ja die Entwickler der Empfehlungssysteme heute und erst recht in Zukunft einen sehr großen Einfluss darauf, was im TV geguckt wird – ähnlich wie Social Media oder Google als Suchmaschine im Internet. Was heißt das für die Regulierung?

Mit unserer Praxis-Demonstration haben wir auch gezeigt, wer die Software-Entwicklung für Empfehlungssysteme verantwortet. Das sind Dritte, die sie im Auftrag von beispielsweise TV-Geräte-Herstellern oder Plattformanbietern entwickeln. Das heißt für uns: Die Sammelleistung hinsichtlich des Programmangebots, seiner Auswertung und die daraus resultierende Empfehlung liegt in den Händen von Firmen, die wir bisher gar nicht im Blickfeld hatten, obwohl sie eine Schlüsselstellung einnehmen.

Die ARD hat jetzt eine kompakte App auf den Markt gebracht, mit der sich TV-Zuschauer das gesamte Live-Programm aller ARD-Anstalten einschließlich der Dritten und ihrer Mediatheken via Google Chromchast oder Apple TV auf den Fernseher holen können, neben der mobilen Nutzung via Smartphones und Tablets, wobei Smartphones als Fernbedienung dienen. Da muss man sich nicht unbedingt immer ein neues SmartTV kaufen, um up to date zu sein. Blöd gelaufen für die Gerätehersteller?

Die Bewertung von Geschäftsmodellen steht uns nicht zu. Wettbewerb belebt grundsätzlich das Geschäft. Das Angebot richtet sich in der Tat offenbar an Besitzer von älteren TV-Geräten, die noch nicht mit dem Internet verbunden werden können – oder an ältere Geräte, die nicht die aktuellen Apps anbieten. Ein Stick kostet etwa 40 bis 100 Euro. Damit können die Geräte auf den neuesten Stand gebracht werden, samt der Mediatheken von beispielsweise auch Amazon, Netflix, Maxdome und vielen mehr. Aber die Veranstaltung hat ja Folgendes klar dargestellt: Wir haben immer mehr Geräte auf dem Markt, etwa SmartTV, Smartphone, Tablet. Damit verfügen wir gleichzeitig über immer mehr Schnittstellen als Quellen, um daran neue Peripherie anschließen zu können. Man muss schauen, wie man sich mit der Online-Welt arrangiert. Aber zu unserer Freude bleibt Fernsehen nach wie vor sehr beliebt.

Ihre Bilanz nach der Veranstaltung?

Alles ist im Fluss, alles entwickelt sich kontinuierlich weiter. Dennoch gibt es einige Bereiche wie Senderlisten und Überblendungen, wo Probleme seit Jahren bekannt sind und Lösungsvorschläge auf dem Tisch liegen. Für den Markt sind die Entwicklungen positiv: So haben sich die Benutzeroberflächen der TV-Geräte in den letzten Jahren sehr stark verändert. Neue SmartTVs bieten heute nicht mehr die Entweder-Oder-Alternative, um TV zu gucken oder Online zu sein, sondern lassen beide Welten zusammenwachsen. Die Lösungen die von verschiedensten Geräteherstellern dafür angeboten werden, sind unterm Strich sehr ähnlich. Es gibt jetzt nicht mehr nur noch die spezielle „Kachel“-Welt wie auf den Smartphones, um die Apps der Online-Welt zu präsentieren, sondern es wurden ähnlich wie bei HbbTV Lösungen gefunden, das laufende TV-Bild und die Online-Welt zu vermischen. Als eine überraschend spannende Weiterentwicklung haben sich personalisierte Em-pfehlungssysteme entpuppt, die unter anderem in die Mediatheken führen, um nach einem geschauten Programm etwas anzubieten, das ähnlich oder weiterführend ist. Das ist beindruckend und wird ein hochrelevantes Thema der Zukunft sein.

Sie haben bei Ihrer Präsentation Netflix als besonders stark personalisiertes Empfehlungssystem hervorgehoben. Warum?

Ich habe in einem Fachartikel gelesen, dass bei Netflix rund 700 Programmierer täglich daran feilen, das Empfehlungssystem in die Richtung zu optimieren, dass der bestmögliche persönliche Vorschlag raus kommt. Voraussetzung dafür ist, dass der potentielle Netflix-Nutzer bereits bei seiner Anmeldung jede Menge Angaben darüber machen muss, wie er bislang Fernsehen schaut, was er am liebsten sieht und welche Programm-Genres er gar nicht mag. Mit jeder konkreten Aktion des Netflix-Nutzers lernt dann das Empfehlungssystem weiteres über seine Vorlieben, Abneigungen und Verhaltensweisen hinzu wie auch darüber, welche Darstellungsweisen in der Benutzeroberfläche wie wirken können. Das alles führt zu einer extrem hohen personalisierten Empfehlung. Ob ein Action-Thriller-Fan, ein Comedy-, Show-, Doku-, oder Romantik-Film-Liebhaber, der Zuschauer erhält so immer genau das, was er besonders gerne mag. Das haben wir an konkreten Beispielen demonstriert.

Aber Netflix kann ja auch nur die Filme zeigen, für die die Rechte vorliegen, das ist ja doch ein begrenztes Angebot?

Das ist richtig: nicht jede Videoplattform hat alle Filme, die es gibt. Wenn man wirklich alles zur Verfügung haben möchte, muss man sich mindestens drei, vier Videoplattformen zusammen suchen …

Ob das reicht? Zumal Netflix ja gar nicht das Live-TV der Hunderte von TV-Sendern im Archiv hat?

… Da wird der Zuschauer dann doch in die große Haribo-Schale greifen müssen, um das Goldstück zu finden – oder doch die Senderlisten nutzen.

Und welche Rolle spielt heute HbbTV als senderspezifische weitere Programmempfehlung im Kontext der Navigationssysteme?

HbbTV spielt eine sehr wichtige Rolle in der Branche. Hierzu sind die Positionen insbesondere auch der TV-Plattform bekannt. Deshalb haben wir das Thema bei der Veranstaltung nicht weiter vertieft haben. HbbTV ist eine große Erfolgsstory und wird von den Zuschauern intensiv genutzt. HbbTV zählt zu den erfolgreichsten Fernsehinnovationen der letzten Jahre. Man geht derzeit von 10,7 Millionen angeschlossenen Geräten aus, die knapp 28 Millionen Zuschauer erreichen. Die Senderseiten von Sat.1 und Pro7 werden pro Monat von über zehn Millionen Zuschauern angeschaut.

Erika Butzek

MB 5/2015