Wie ein Brandbeschleuniger

Die Corona-Pandemie hat das Medien-Business und das -Nutzungsverhalten grundlegend verändert. Der Trend geht Richtung digitaler Premiuminhalte und Paid Content. Mit der Studie „Future of Screens“ zeigt Marktforscher Deloitte auf, wie klassische Medienhäuser davon profitieren können. Klaus Böhm, Leiter Media & Entertainment bei Deloitte, im Interview.

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Wie ein Brandbeschleuniger

Herr Böhm, in drei „Media Consumer Surveys 2020“ haben Sie die Mediennutzung von 2.000 Personen vor, während und nach der Covid-19-Pandemie erhoben. Mit welchen Ergebnissen?

Die Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Covid-19 hat beim Medienkonsum wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Traditionelle Medien, die schon zuvor unter
Druck standen, haben noch rascher an Boden verloren. Zeitungen, Zeitschriften und das lineare Fernsehen konnten während der Pandemie kurzfristig zulegen, um nach dem Ende des Lockdowns hinter das Vorkrisenniveau zu fallen. Dagegen haben digitale Angebote, die schon vor der Pandemie eine Hausse erlebten, während und nach Covid-19 noch mehr Rückenwind bekommen. Video on Demand, Media- und Audiotheken dokumentieren diesen Aufwärtstrend.

Mehr Medienkonsum bedeutet nicht per se mehr Umsatz. Werden Inhalte immer schwerer refinanzierbar?

Das kommt auf den Inhalt an. Signifikant ist, dass der Werbemarkt seit der Pandemie eingebrochen ist. Der Rückgang hat sich leicht nivelliert, aber übers Jahr gerechnet wird es für Medienunternehmen ein deutliches Minus geben. Manche Verlagshäuser sind existenzgefährdet, das lineare Fernsehen wird sich wieder erholen. Darüber hinaus hat sich der Werbemarkt nicht nur nominal verschoben, sondern ist für analoge Medien diffiziler geworden, Strukturen und Prozesse ändern sich krisenbedingt noch schneller. So werden sich die Rollen der Intermediären verändern, klassische Werbebudgets werden neu verteilt. Damit sinkt die Relevanz von Mediaagenturen, bestimmte Werbeformate verschwinden, eine Fokussierung auf die Primetime wird die Folge sein, während Randzeiten uninteressant sind. Generell gilt: Qualitativ hochwertige Premiuminhalte lassen sich gut vermarkten, beliebige Massenware ist kaum mehr refinanzierbar.

Ist das ein Plädoyer für hochwertigen Paid Content?

Unbedingt. Während der Pandemie haben Paid Content und digitale Qualitätsinhalte ihren Durchbruch erlebt. Im Online-Newsmarkt wurden Probeabonnements in signifikanter Höhe abgeschlossen, die nach dem Lockdown automatisch zu Bezahl-Abos wurden. Kunde, Nutzer, Leser und Zuschauer sind bereit, für digitale Premiuminhalte zu bezahlen, wenn sie qualitativ gut und exklusiv sind. Der redaktionelle Mehrwert korrespondiert mit dem inhaltlichen Alleinstellungsmerkmal für die Nutzer.

Medienkonsum erfolgt meist via Screens. Wächst ihre Relevanz?

Bildschirme bieten ein hoch relevantes Nutzer-Interface und ermöglichen Interaktionen. Spracherkennung und anderen smarten Technologien gehören die Zukunft. Beispielsweise lässt sich über das Smartphone die Heizung steuern oder der leere Kühlschrank auffüllen. Die Gretchenfrage lautet: Wird es ein Endgerät geben, das uns als Nutzer durchs Leben navigiert oder werden wir von einer Vielzahl von Bildschirmen umgeben sein? Entscheidende Rollen spielen dabei Datenschutz, Datensparsamkeit und Datensicherheit.

In der Studie „Future of Screens“, die Sie zu den virtuellen Medientagen München 2020 präsentiert haben, skizzieren Sie vier Extremszenarien. Wie sehen die aus?

Das erste Szenario „Army of Interfaces“ ist durch eine Vielzahl von Screen-Funktionalitäten und Bildschirmen charakterisiert, die uns tagtäglich individuell begleiten. Nutzer sind umgeben von Bildschirmen, die ihnen Zugänge zu Medien und anderen Funktionalitäten wie Licht, Heizung oder Bereichen des professionellen Handels ermöglichen. Beim zweiten Modell „My Personal Assistant“ verfügt der Nutzer nur über ein einziges Endgerät, insgesamt sind nur wenige Endgeräte auf dem Markt, aber mit mannigfaltigen Funktionalitäten. Denkbar wäre eine Projektion auf die Iris oder der Nutzer geht mit Smart Glasses durch die Welt, um jederzeit Zusatzinformationen zu erhalten. Statt Auto-Bildschirme liest der Fahrer alle Daten durch sein Smart Glass ab und steuert so sein Auto. Eine dritte Situation haben wir „Escape from Reality“ genannt und geht in die Richtung der Virtual Reality. Einzelne Anbieter können in einem geschlossenen Ökosystem individuelle Angebote für den Medienkonsum anbieten, die nur individuell und nicht für Gruppen zugänglich sind. Beim vierten Szenario steht ebenfalls der Medienkonsum im Vordergrund, aber es gibt viele Bildschirme. Die Werbung ist omnipräsent und dient der Refinanzierung von Inhalten. Dieses „Source of the Distraction“ ist von einem offenen Ökosystem geprägt, viele Bildschirmhersteller haben die Möglichkeit, den Markt mitzugestalten. Nicht die Qualität der Bildschirme, sondern ihre Verfügbarkeit ist entscheidend. In diesem Markt sind keine exklusiven Inhalte relevant, sondern es geht um eine Diversität von Inhalten und Nutzeroberflächen. Der Nutzer fühlt sich verloren, weil unaufhörlich Informationen und Unterhaltungsangebote auf ihn einprasseln.

Stichwort Produktion 2.0. Welche Auswirkungen haben technologische, mediale und telekommunikative Entwicklungen für Produktionsmarkt, Studiotechnik und Bildtechnik?

Die Effekte sind gravierend. Wenn wir heute über inhaltliche Formate nachdenken, muss der Ausspielungsweg a priori berücksichtigt werden. Welchen Screen bespiele ich mit welchen Inhalten: TV, Smartphone oder Kino? Wo sieht der Produzent die höchste Wertschöpfung? Die Funktionalität wird zukünftig noch mehr die Produktionsweise bestimmen, die Klaviatur der Release-Windows und der unterschiedlichen Inhalte-Partnerschaften wird immer komplexer. Screens spielen für Produktionsart und -prozesse eine gravierende Rolle. Metadaten sind das Maß des Produktionsprozesses, von der Erstellung des Scripts über den ersten Produktionstag bis hin zur Ausspielung des Inhalts auf den Nutzerscreen. Alle Metadaten müssen zu jedem Zeitpunkt des Produktions- und Distributionsprozesses vollständig abrufbar sein. Nur so bekommt der Autor am Anfang der Wertschöpfungskette sein Honorar und der Nutzer am Ende der Wertschöpfungskette Zugang zum Paid Content.

Herr Böhm, aus Ihrer Tätigkeit bei NBC Europe und RTL kennen Sie auch die Medienseite. Wird das duale Rundfunksystem in zehn Jahren noch existieren?

Schon lange habe ich mich gefragt, warum wir Deutschen eine Aversion gegen Paid Content haben, obwohl wir für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Kabelgebühren bezahlen. Das duale Rundfunksystem in Deutschland wird Bestand haben, wenn es flexibel auf die neuen technischen und nutzerabhängigen Veränderungen reagiert. Dazu gehört, dass ARD und ZDF in allen digitalen Spielarten präsent sind. Durch eine Diversität auf den Plattformen wird nicht zwangsläufig die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Inhalte gesichert. Man sollte dafür sorgen, dass inhaltliche Nischen jenseits des kommerziellen Drucks erhalten bleiben, um seriöse Informationen und kulturelle Vielfalt für die Öffentlichkeit zu gewährleisten. Ein „Content Endgame“, bei dem nur ein Produzent Inhalte für die ganze Welt liefert, ist ein Horrorszenario, das keiner will. Insofern ist der duale Rundfunk mit seiner Vielfalt und Neutralität eine Grundvoraussetzung für unser demokratisches, offenes Gesellschaftssystem und sollte nicht in Frage gestellt werden, auch wenn sich die Spielregeln laufend ändern müssen.