Zeit für Experimente

Ob nun Netflix, derzeit im Anflug auf den deutschsprachigen Markt, oder YouTube mit seinen Multi- Channel-Netzwerken – Online-Videos haben viel Bewegung in den TV-markt gebracht. 85 Prozent der TV-Zuschauer schauen trotzdem noch lineare Programme. Beim newTV Kongress 2014 in Hamburg verständigten sich die rund 160 Teilnehmer über neue Produktionsformen und die digitalen Wege der Wertschöpfung. Es gibt viele neue Ideen, von der auch die klassischen TV-Anbieter profitieren.

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Zeit für Experimente

Der newTV Kongress, eine Veranstaltung der neuen Initiative der Medien- und Digitalwirtschaft nextMedia. Hamburg stand in diesem Jahr unter dem Leitthema „everybody everything – the new formula for media success“. Der Tenor der meisten Experten und Redner wies jedoch eher in die Richtung, sich zu fokussieren, eine Nische zu finden und vor allem angesichts der Transformation der Wertschöpfungskette sich unbedingt Partner zu suchen. „Nicht alle müssen alles machen, aber man muss den Mut haben, neues auszuprobieren“, sprach Christoph Falke von Axel Springer, der im neuen Bewegtbild-Segment des Verlagshauses vor allem dafür sorgen will, neue erfolgreiche Marken zu positionieren. Falke ließ keinen Zweifel daran, dass dazu viel Entwicklungsressourcen und ein langer Atem nötig sind. Denn nur zwei von zehn Formaten, die entwickelt werden, gehen on air, und von zehn Sendungen schafft es eine in die Fortsetzung. Falke ist sich auch sicher, dass beispielsweise YouTube-Kanäle ganz anders funktionieren. Nur wer sich bei der Content-Entwicklung von den traditionellen Denkansätzen lösen kann, werde dort erfolgreich sein.

In den so genannten Multi-Channel-Netzwerken von YouTube sieht Arnd Benninghoff, Chief Digital Officer Digital [&] Adjacement von ProSiebenSat1, dagegen eine große Chance. Das seien die Kanäle, um die jungen Talente aufzuspüren und zur Marke reifen zu lassen. Für den Medienkonzern sind diese Multi-Channel-Networks im Zuge der Transformation eine Art Vorreiter oder „die neue Generation der Studios“, wie es Benninghoff griffig formulierte. ProSiebenSat1, jetzt auch auf dem Streaming-Portal Zattoo mit seinen Free-TV-Angeboten vertreten, bereite sich auf den Start des Online-Portals Netflix in Deutschland vor, das erfolgreich wie kaum ein anderer das Feld Filme und Serien im Online-Abo besetzt hat.

Wer denkt, dass Vertreter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in dem eher von jungen Startup-Protagonisten getriebenen Markt alt aussehen müssen, durfte sich wundern über den erfrischenden Auftritt des NDR-Fernsehdirektors Frank Beckmann, der nur so von Innovations- und Experimentierfreude sprühte und mit dem Rucksack von LiveU auf die Bühne trat. LiveU bietet mit diesem Rucksack eine komplette tragbare Live-Übertragungseinheit für Live-Videos über schnelle Handynetze wie LTE. Die Erkenntnis des NDR-Direktors Frank Beckmann lautet: „Neue Technologie schafft neue Wege, um Experimente zu wagen.“ In der technologischen Weiterentwicklung liegt die Chance für die klassischen Sender, besser zu werden und gerade hinsichtlich Wirtschaftlichkeit auch günstiger zu produzieren. Neue Verbreitungswege schaffen Zugang zu differenten Zielgruppen weiß Beckmann, der das am Beispiel der Tagesschau demonstriert: Die Tagesschau im Ersten hat ein Durchschnittsalter von 60 Jahren, Tagesschau.de im Netz 40 Jahre und die App-Nutzer sind durchschnittlich 36 Jahre alt: „Für einen Sender wie den NDR heißt das, unsere Marken auf alle Plattformen zu bringen.“ Fernseh-Marken online zu verlängern, sei allerdings heute Standard, weiß der NDR-Fernsehdirektor. Spannender sei die Frage, was passiert, wenn Onlinemarken ins Fernsehen gebracht werden. Dazu gehöre es auch, die im Netz wichtigen Social-Media-Plattformen einzubinden. Noch im April wird der NDR die satirischen Nachrichten von der Seite „Postillon“ in „extra 3“ integrieren. Mit „extra 3“ besitzt der NDR selbst eine eingeführte Satire-Sendung im deutschen Fernsehen, die bei jüngeren Menschen und online sehr erfolgreich ist. Dies soll nun mit den witzigen Nachrichten von „Postillon” ausgebaut werden. Es gibt Pläne der ARD, die nordische Satire-Sendung „extra 3“ ins Erste holen. Und Beckmann arbeitet längst daran, auch die erfolgreiche App „Quizduell” als Showformat im Fernsehen zu etablieren. Im Mai will die ARD eine erste Staffel des „Quizduells“ im Vorabend starten.„Wenn ich aus einer TV-Sendung eine App machen kann, warum soll dann nicht auch umgekehrt, aus einer App ein erfolgreiches Fernsehformat werden können, fragt Beckmann rhetorisch. Die Quiz-App hat 15 Millionen registrierte Nutzer und es spielen derzeit rund acht Millionen Menschen online regelmäßig gegeneinander. Der große Reiz dieses Online-Spiels für Jedermann liegt darin, sich mit einem Unbekannten messen zu können. Der NDR arbeitet derzeit daran, dieses Online-Quiz in eine Livesendung zu holen, wo ein Studio Team live gegen TV-Zuschauer oder App User spielt.

Experimentieren und Allianzen schmieden, darin sieht Beckmann die großen Potenziale für die öffentlich-rechtlichen Sender, die zukünftige Bewegbildlandschaft mit zu prägen und zu gestalten. Axel Meiling von der Beratungsfirma Mücke Sturm [&] Company sieht für klassische Verlags- und Medienhäuser im digitalen Markt gute Entfaltungsmöglichkeiten. Es gelte jedoch die richtigen Nischen zu finden, diese dann konsequent zu besetzen und stets so zu agieren, dass es strategisch zu dem eigenen Markenmodell passt.

Und wie können sich kleinere unabhängig agierende Inhalte-Produzenten zukunftsfähig aufstellen, die ja nun nicht über die Entwicklungsetats verfügen, um die passenden Zukunftsformate zu schmieden? Eiko Wachholz hat mit einem Partner vor einem Jahr das Unternehmen Casei Media gegründet. Die Philosophie des ehemaligen NDR-Redakteurs und Moderators ist nicht nur, Inhalte für einen Auftraggeber zu produzieren, sondern auch Rechte zu generieren. „Wir haben klar gesagt, dass wir an den Rechten partizipieren. Mittlerweile kann man mit den Sendern darüber verhandeln.“

Wachholz und sein Partner zogen gleich einen dicken Deal mit RTL an Land, für zehn journalistische Formate im Jahr zu je 45 Minuten – mit einer Laufzeit von fünf Jahren. „Wir sind relativ unabhängig bei der Themenwahl“, so Wachholz weiter, der einen Garantiepreis verhandelt hat und sogar einige Rechte behält. Sich über den wachsenden Pay-TV-Markt eine Wertschöpfungskette aufzubauen, lautet hier die Devise: Für Mercedes Benz produziert das Unternehmen eine zehnteilige Doku-Serie über die Geschichte der Silberpfeile. Die Produzenten haben sich zudem Rechte an dem recherchierten, aufbereiteten und auch neu gedrehten Material gesichert. Mit Discovery Channel wurde eine weitere Auswertungs-Vereinbarung getroffen. Und für den Sender n-tv soll ein journalistisches Format über die Geschichte des deutschen Automobilbaus entstehen, wozu freilich neues Material akquiriert werden muss. Ein weiterer Auftraggeber für Casei Media ist das Meeresforschungsinstitut Geomar in Kiel: Casei Media wird für die Onlineseite der Meeresforscher geliefertes wie auch selbst produziertes Material zu einem journalistischen Online-Format aufbereiten. Ausgestattet mit den Weiterverwertungsrechten können die Produzenten auch je ein Format für Spiegel-TV und für Arte produzieren. Das noch junge Unternehmen sucht sein Profil wie auch sein Business-Modell mit qualitativ hochwertigen journalistischen Formaten zu gestalten. Sind die Rechte für Weitervermarktung gesichert, geht es darum, mit dem recherchierten und produzierten Material und dem Know-how eine Verwertungskette aufzubauen. Dies klingt ohne Frage sehr schlüssig: Inwieweit es kleineren Produzenten wirklich gelingt, in der hier geschilderten Art die Weiterverwertungsrechte für sich zu reklamieren, wird vom Standing und Verhandlungsgeschick jedes Einzelnen abhängen.

Es geht offensichtlich ziemlich viel in der neuen digitalen Welt von linearen Programmen und Video on Demand-Plattformen. Es werden neue Formate entwickelt, neue Vertriebswege sondiert und vor allem Allianzen geschmiedet.

Wie Medienkonvergenz funktionieren kann, hat schließlich Thomas Kowollik, Marketing Director für die XBox von Microsoft Deutschland anhand der Multimedia-Konsole demonstriert, die mühelos Games, Entertainment-Programme und Social Media auf einer Plattform vereint. Damit befriedigt wird auch der gerade bei jungen Menschen neue Trend des Multi Tasking in der Mediennutzung, ohne dass dazu ein weiteres Gerät erforderlich ist. Eine Konsole, mit der man spielen, Videos anschauen und auch Apps nutzen kann. Das Start-Menue lässt sich nach eigenen Nutzungspräferenzen konfigurieren und ein intelligenter EPG sorgt dafür, dass der Nutzer die Inhalte findet, die ihn interessieren. Und natürlich kann er während des Entertainment-Programms oder beim Gaming parallel mit seinen Netzkontakten kommunizieren. „Eine Spielekonsole ist heute nicht mehr nur eine Spielekonsole“, erklärte Kowollik. Und auch Fernsehen ist heute nicht mehr nur noch Fernsehen. Auf der abschließenden Panel-Diskussion sprach der Medienexperte und Journalist Ralf Klassen gelassen aus, was viele im Laufe des Nachmittags des halbtägigen Kongresses dachten und mit sich nach Hause nahmen: „Der Tsunami findet noch nicht statt und wir haben noch viel Zeit über neue Angebote nachzudenken.“ Und für Richard Gutjahr, Journalist und Blogger, ist ohnehin klar: „Das Fernsehen wird wiedergeboren.“ Daran will der newTV Kongress im nächsten Jahr anknüpfen.
Bernd Jetschin

(MB 3/14)