Wir setzen einen Virus frei

Mit dem innovativen Projekt „360 Grad“ werden bei Radio Bremen, Strategien für den Einsatz sozialer Netzwerke entwickelt, um die jungen Zielgruppen wieder stärker an den Sender zu binden. Der Initiator dieses ungewöhnlichen „digitalen Garagen“-Experiments ist Jan Metzger, der Intendant von Radio Bremen.

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Wir setzen einen Virus frei

Was gab den Ausschlag zum Projekt 360 Grad?
Ist dies eine Reaktion darauf, dass sich das Nutzungsverhalten junger Zielgruppen verändert?

Wir haben in allen öffentlich-rechtlichen Medien das gemeinsame Problem, dass junge Leute unsere Programme in immer geringerem Maße wahrnehmen. Die jungen Radio-Wellen besitzen noch die stärkste Verbindung zur jungen Generation. Bei den Fernsehhauptprogrammen und den Dritten Programmen kommen junge Zuschauer nur noch in homöopathischen Dosen vor. Wir haben ein klares Problem bezüglich der nachwachsenden Akzeptanz, weil junge Menschen Medien auf eine ganz andere Art nutzen. Es sind schon viele Versuche unternommen worden, junge Programme aufzulegen. Mit Ausnahme der jungen Radioprogramme hat das aber nicht funktioniert.

Mit Fernsehformaten wie zum Beispiel „Neo“ erreicht das ZDF Zuschauer im Alter von 40 Jahren, aber nicht die jungen Menschen zwischen 15 bis 25. Deshalb haben wir die Box unseres üblichen Denkens verlassen und junge Leute für das Projekt „Digitale Garage“ engagiert; und zwar ohne eine inhaltliche Vorgabe. Unser Ansatz war: Gebt ihnen eine Garage und einen Kasten Bier und lasst sie mal zwei Monate tüfteln.

Welche Ergebnisse haben Sie davon erwartet?

Unsere Hypothese ist, wenn diese jungen Kreativen uns nicht sagen können, wie wir die Anschlussfähigkeit zwischen unseren Inhalten, unserer öffentlich-rechtlichen Qualität und der jungen Zielgruppe herstellen können, dann kann das niemand. Dies ist ein etwas ungewöhnlicher Weg, der uns jedoch Ansatzpunkte für die Lösung dieser Fragen liefert. Fertige Rezepte wird es nicht geben, zumal sich die digitale Medienwelt ständig in Bewegung befindet.

Daher bekommen wir kein bestimmtes Programm oder Format, sondern ein Patchwork von unterschiedlichen Projekten, die sich leicht anschieben und auch wieder verändern oder auch stoppen lassen. Wir müssen die Nase ständig im Wind der Nutzungsgewohnheiten der jungen Zielgruppe behalten und mit unseren Angeboten flexibel darauf reagieren. Insofern schaffen wir eine Arbeitsstruktur, um unsere Inhalte, die wir gezielt für junge Menschen produzieren, in diese Zielgruppen zu transportieren.

Besitzt Radio Bremen als kleiner Sender mit kürzeren Wegen mehr Freiheiten, um mit neuen Projekten zu experimentieren?

Wir haben einen immensen strukturellen Vorteil, der aus der Größe des Hauses resultiert, denn bei uns sind die Wege kürzer und die Verständigungsmöglich-keiten einfacher. Der Mangel an Geld führt dazu, dass wir keinen großen Produktionsapparat auf ein solches Projekt ansetzen können, sondern erfinderisch sein müssen. Nach der Reorganisation von Radio Bremen besitzen wir eine Gesamtstruktur, die uns das erleichtert:
Wir haben nur noch einen Programmdirektor, der für alle unsere Medien und Inhalte zuständig ist und einen Chefredakteur, der diese Inhalte über mehrere Medien steuert. Wir verfügen zudem über eine multimediale Nachrichtenredaktion, die für unterschiedliche Plattformen arbeitet. In anderen Häusern ist es bereits ein Problem, wenn die Online-Redaktion Inhalte aus dem Fernsehen oder aus dem Hörfunk übernehmen will, weil dafür technische Infrastrukturgrenzen überwunden werden müssen. Radio Bremen ist schon aufgrund seiner Organisationsweise dazu prädestiniert, über Mediengrenzen hinweg integriert zu arbeiten. Hinzu kommt die Experimentierfreude, die dieses Haus in den Genen hat, woraus seinerzeit Sendungen mit Loriot, Hape Kerkeling oder auch „Der Beat-Club“ entstanden sind.

Liegt die Zukunft im digitalen Zeitalter im trimedialen System?

Ich bin davon überzeugt, dass sich diese Struktur in den nächsten Jahren auch in den anderen Landesrundfunkanstalten durchsetzen wird. Die Aufteilung in die Programmsäulen Radio, Fernsehen und Online ist angesichts der Entwicklung der Medienwelt obsolet. Wir haben diese Veränderung in den letzten Jahren aufgrund von finanziellen und wirtschaftlichen Zwängen vornehmen müssen. Daraus haben wir ein Modell entwickelt, das zukunftsfähig ist.

Wie strategisch ist das Projekt 360 Grad?

Es ist in zweierlei Hinsicht strategisch: Zum Einen versuchen wir, einen anderen Ausgangspunkt für die Arbeit mit jungen Zielgruppen zu finden und eine bewegliche Struktur aufzubauen, die dem Markt folgt. Wir möchten unsere Inhalte dorthin bringen, wo sich die jungen Leute gerade befinden. Derzeit erzeugt Facebook einen großen Hype, doch in zwei Jahren kann das schon etwas ganz Anderes sein.

Unser zweiter strategischer Ansatz zielt darauf ab, mit diesem Projekt zugleich ein Labor für unsere anderen Programme auszubauen. Bremen 4 hat als unser jüngstes Programm schon sehr früh eine App entwickelt, die es erlaubt, das Programm über ein Smartphone zu hören und Zusatzinformationen zu beziehen. Wir sind anfangs davon ausgegangen, dass nur bei den jungen Hörern ein Bedürfnis nach Radio-Apps besteht, doch auch bei der Hörerschaft des Nordwestradios ändern sich die Gewohnheiten.

Unser Kulturprogramm bedient eine tendenziell ältere, gut gebildete und materiell besser ausgestattete Zielgruppe, die Zugang zu den neuen Technologien besitzt.
Insofern werden wir das Know-how, das durch das Projekt „360 Grad“ entsteht, auch für unsere anderen Programme nutzen. Dazu gehört die Frage, wie wir mit den sozialen Netzwerken umgehen. Von diesen Entwicklungen sollen auch die anderen Programme profitieren und dies für ihre Zielgruppen und ihre Bedürfnisse adaptieren. Damit setzen wir innerhalb des Hauses einen Virus frei, der dafür sorgen soll, dass alle Teams lernen, sich mit diesen neuen Technologien und
Verbreitungswegen auseinanderzusetzen.

Warum heißt dieses Projekt „360 Grad“?

Langfristig wird sich Radio Bremen als Gesamtorganisation auf 360 Grad orientieren. Bisher waren wir ein klassischer Broadcaster, der als Sender den Empfänger bedient, wenn Sie so wollen eine 180 Grad-Perspektive. Für die Zukunft müssen wir lernen, das Wissen und die Diskussionen, die es da draußen gibt, systematisch aufzunehmen und für unsere Programme zu nutzen. Das bedeutet, die 180 Grad-Perspektive auf 360 Grad zu erweitern. Wir möchten den Rückfluss organisieren und in unsere Arbeit einbeziehen.

Bremen ist dafür prädestiniert, da es in dieser kleinen Stadt sehr leicht ist, Resonanzen herzustellen. Das Land Bremen ist für die Werbewirtschaft ein Testmarkt, in dem ausprobiert wird, ob bestimmte Kampagnen funktionieren. Wir werden die Möglichkeiten, die uns dieses kompakte Land bietet, nutzen, um zu testen, wie die mediale Zukunft funktioniert.

Ist Radio Bremen mit diesem Projekt ein Vorreiter im ARD-Verbund?

Wir sollten uns selbst nicht überschätzen, jede Landesrundfunkanstalt sucht ihren Weg. Wir haben strukturell jedoch ungewöhnlich gute Voraussetzungen, um ein solches Projekt umzusetzen. Wenn wir die Einführung von sozialen Netzwerken beschließen, erfolgt das nicht nur in einer Redaktion, sondern gleich im gesamten Haus. Wir versuchen, die Vorteile, die eine kleine Größe hat, zu nutzen. Unser größter Nachteil ist, dass wir im Vergleich zu den anderen Sendern nur über eine geringe finanzielle Feuerkraft verfügen. Wir können unseren Beitrag für die Gemeinschaft der ARD deshalb nur in Form von Innovationen und intelligenten Lösungen leisten. Das allerdings wollen wir auch tun.

Wie wird das Projekt „digitale Garage“ fortgeführt?

Nach dem zweimonatigen Konzept-Workshop befinden wir uns noch in der Projektphase. Bei der ersten großen Ergebnispräsentation wurden viele gute Ideen vorgestellt. Wir werden jetzt entscheiden, womit wir anfangen. Ein Teil der Arbeitsgruppe wird weiter in der „digitalen Garage“ aktiv sein. Wir werden
das Projekt zunächst bis zum Herbst 2011 verlängern, damit einzelne Vorhaben weiter entwickelt werden können. Wir befinden uns jetzt an der Nahtstelle, wo diese Ideen im Haus kommuniziert werden und wir entscheiden müssen, was davon umgesetzt werden soll.
Birgit Heidsiek
(MB 02/2011)