Technologiesprung für die Berlinale

Dank der fortschreitenden Digitalisierung sind bei den 64. Internationalen Filmfestspielen Berlin erstmals sämtliche Filme zentral in einem Rechenzentrum gespeichert und per Glasfaserleitung in die Kinos geschickt worden. Die mit der Technik einhergehenden globalen Strukturveränderungen und Reformen stellen die internationale Filmbranche allerdings auch vor neue Herausforderungen.

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Technologiesprung für die Berlinale

Mehr als 1.000 Filme, die zehn Tage lang auf der Berlinale und dem European Film Market (EFM) in rund 2.500 Vorführungen präsentiert wurden, sind von EMC zentral gespeichert und in 25 Spielstätten mit über 60 Leinwänden überspielt worden. „Es ist ein logistischer Vorteil, dass die Filme jetzt über Glasfaserleitungen direkt in die Kinos transportiert werden“, erklärt der Berlinale-Direktor Dieter Kosslick. „Wir hatten in der Übergangsphase nicht nur große technische, sondern auch finanzielle Probleme zu lösen, weil wir für die nahezu 70 Kinosäle jeweils entsprechende Server und Abspielgeräte brauchten. Jetzt müssen wir keine Geräte und Festplatten mehr quer durch die Stadt schicken, was eine erhebliche Erleichterung für unser Film Office darstellt. Das bedeutet einen großen technologischen Sprung für die Berlinale.“

Fast sämtliche Filme lagen als DCP vor. Unter den rund 400 Filmen, die beim Festival gezeigt wurden, befanden sich nur noch knapp 50 herkömmliche 35mm-Kopien, die analog in die Kinos gebracht werden mussten, darunter 30 Filme, die in der Retrospektive liefen. Alle anderen Filme sind direkt aus dem Rechenzentrum überspielt worden. EMC hat dafür eine Speicherkapazität von mehr als 400 Terabyte zur Verfügung gestellt. Dabei kam die Isilon X-Reihe zum Einsatz, durch welche die Speichervorgänge dank der SSD-Technologie für Dateisystem-Metadaten und dateibasierte Speicherworkflows beschleunigt werden. „Unsere Scale-Out-NAS-Lösung bietet optimale Performance“, bestätigt Thore Rabe, Vice President EMC Isilon EMEA.

Bereits zum zweiten Mal hat die Rohde [&] Schwarz DVX GmbH die Internationalen Filmfestspiele Berlin als Digital Cinema Partner unterstützt und mit ihren Systemen für effiziente Workflows vom Video-Ingest und -Speicherung bis hin zur Erzeugung der Digital Cinema Packages (DCPs) gesorgt. Das Hannoveraner Unternehmen stellte dafür drei Clipster Mastering-Stations sowie die Speicherlösung SpycerBox Flex bereit. Mit der Mastering-Station, die eine Vielfalt von Formaten unterstützt, können DCPs schneller als in Echtzeit produziert und Anpassungen wie Änderungen der Untertitel in letzter Minute vorgenommen werden. Die SpycherBox Flex fungiert als zentraler Speicher, der sich dank seiner Vielzahl von Schnittstellen nahtlos in die Infrastruktur bei der Berlinale einbinden lässt. „Die DVS-Systeme erleichtern unsere Arbeit maßgeblich“, berichtet Ove Sander, der als technischer Manager für die digitalen Vorführungen bei der Berlinale verantwortlich ist. „Zu den großen Vorteilen der Mastering-Station Clipster gehört ihre Geschwindigkeit, dank der wir einen hohen Durchsatz bei der Erstellung von DCP‘s erzielen können.“

Die Überspielung der DCPs aus dem Rechenzentrum erfolgt über ein Glasfasernetzwerk mit 200 Faserkilometern, das Colt dem Festival zur Verfügung stellt. Das Rechenzentrum ist mit zwei 10 Gbit/s-LANlink-Leitungen mit dem Filmbüro der Berlinale am Potsdamer Platz verbunden. Von dort aus erfolgt über ein sternförmiges Netz aus 10-Gbit/s- und 1-Gbit/s-Leitungen die Filmbelieferung der 16 Spielstätten, darunter auch dem neu eröffneten Zoo-Palast mit seinen sieben Sälen.

Darüber hinaus wird das Netzwerk genutzt, um Events wie die Eröffnungsgala sowie die Preisverleihung im Berlinale-Palast live in weitere Kinosäle im CinemaxX und Zoo-Palast zu übertragen.

Bei der Eröffnungsgala konnte Dieter Kosslick die neue Kulturstaatsministerin Monika Grütters begrüßen, die mit ihrer Rede ein beeindruckendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst und Wissenschaft hielt. „Wir brauchen die mutigen Künstler, denn sie sind das Korrektiv der Gesellschaft.“ Damit Künstler von ihrer Arbeit leben können, sei es wichtig, sie auch abzusichern, betonte die Kulturstaatsministerin, was die deutschen Filmschaffenden durchaus als Signal werten können, dass sie sich für den Erhalt der Künstlersozialkasse einsetzen will.

Olympia-reife Schlittenfahrt im Kino

Zum Auftakt präsentierte der Festivalchef die knallbunte Kinokomödie „The Grand Budapest Hotel“, die der amerikanische Regisseur Wes Anderson mit Stars wie Ralph Fiennes, Bill Murray, Adrian Brody, Tilda Swinton, Jason Schwartzman und Edward Norton in Babelsberg gedreht hat. Zu den Höhepunkten in diesem skurril-komischen Kinoabenteuer gehört eine wilde Verfolgungsjagd auf der Schneepiste im Stil eines James Bond-Films, mit der die Berlinale-Besucher zugleich auf die bevorstehende Winter-Olympiade eingestimmt wurden.

Tief verschneite Winterlandschaften prägen auch den Look des norwegischen Wettbewerbsbeitrags „Kraftidioten“ von Hans Petter Moland, der von dem Weltvertrieb TrustNordisk in über 30 Länder verkauft worden ist.

Für Furore auf der Berlinale sorgte Lars von Trier mit dem ersten Teil seines Director Cuts von „Nymph()maniac“(Concorde), in dem eine Heranwachsende ihren hemmungslosen Hunger nach Sex und Liebe auslebt. Der dänische Regisseur erzählt diese provokative Geschichte hautnah mit viel Humor und originell eingestreuten assoziativen Zwischenschnitten. Stärker und beängstigender als all diese Sexszenen ist darin die erschreckend realistisch wirkende Sterbesequenz im Krankenhaus, in welcher der Film eine ähnlich emotionale Wucht wie in „Breaking the Waves“ entwickelt. Der aufgrund seiner provozierenden Äußerungen vom Festival in Cannes verbannte Filmemacher nahm in Berlin zwar nicht an der Pressekonferenz teil, posierte aber beim Photocall genüsslich in seinem schwarzen T-Shirt, das mit einer Goldenen Cannes-Palme und dem „Persona non grata“-Schriftzug versehen war.

Für Medienaufmerksamkeit sorgte ebenfalls der „Nymph()maniac“-Darsteller Shia LaBeouf, der nach einer Frage zu den zahlreichen Sexszenen vorzeitig die Pressekonferenz verließ und sich bei der Premiere auf dem roten Teppich eine Papiertüte mit der Aufschrift „I am not famous anymore“ über den Kopf stülpte. Eine Außenseiterrolle kommt in Europa auch der Schweiz zu, die nach der Volkabstimmung über die Einwanderungsquote nicht nur ihr Freizügigkeitsabkommen mit der EU neu verhandeln muss. Damit stehen nun auch die Verhandlungen, sofern sie überhaupt stattfinden, über die Integration der Schweiz in das Creative Europe-Programm unter einem schlechten Stern. Die Swiss Film-Chefin Catherine Ann Berger bezeichnet die daraus resultierenden Konsequenzen als „verheerend“.

Währenddessen betonten der neue MEDIA-Chef Xavier Troussard und Michel Magnier, Leiter der Abteilung Kultur und Kreativität in der Generaldirektion für Kultur, beim Creative Europe-Day die Notwendigkeit mit den Mitgliedsstaaten in den Dialog zu treten, um die Förderungen aufeinander abzustimmen und die knappen Mittel optimal platzieren zu können.

EU-Kommission will Kinofenster kippen

Ein Thema bleibt für die EU-Kommission die Auswertung von europäischen Filmen per VOD. Nach Meinung von Claus Hjorth, Vertreter des dänischen Filminstituts, müsse eine Must Carry-Politik angestrebt werden, die multinationale Anbieter dazu verpflichten soll, nationalen Content anzubieten. Doch auch im Kinobereich steht derzeit einiges auf dem Spiel. Im Zuge der angestrebten Harmonisierung des Urheberrechts hat die Europäische Kommission nun einen weiteren Versuch gestartet, die Kinofenster in Europa auszuhebeln. Das Anfang Dezember dazu eröffnete Konsultationsverfahren der EU-Kommission ist bis zum 5. März verlängert worden, damit die Branchenvertreter zu Themen wie den territorialen Regeln im Binnenmarkt sowie den Beschränkungen und Ausnahmen vom Urheberrecht im digitalen Zeitalter Stellung nehmen können. Obwohl es eine anhaltende Diskussion über die Überproduktion von Filmen in der EU gibt, die klassische Kinoauswertung aber gleichzeitig immer schwieriger wird, haben deutsche Verleiher auf dem European Film Market wesentlich mehr Abschlüsse als in den Vorjahren getätigt.

Gleich mehrere französische Projekte sicherte sich der österreichische Filmhändler Herbert Kloiber mit der Tele München-Gruppe, die den Kinofilm „Suffragette“ mit Carey Mulligan über die Einführung des Frauenwahlrechts, die Komödie „La Famille Bélier“ von Eric Lartigau sowie Rose Boschs Familienfilm „A Summer in Provence“ mit Jean Reno erworben hat. Kloiber wird für sein Engagement für den französischen Film zum Chevalier des Arts et des Lettres geschlagen. Auf der Berlinale zeichnete der französische Botschafter Maurice Gourdault-Montagne die beiden Schauspieler Sophie Rois und Christopher Buchholz für ihre Vermittlung der deutsch-französischen Kultur mit diesem Kulturorden aus. „Wir freuen uns sehr, dass der französische Film wieder einen großen Stellenwert bei der Berlinale besitzt“, erklärte der Botschafter beim Soirée française du cinéma in der Französischen Botschaft. Insgesamt liefen 34 französische Filme und Koproduktionen auf dem Festival, darunter fünf Wettbewerbsbeiträge. Zu den prominenten französischen Gästen der Berlinale gehören Alain Resnais, Charlotte Gainsbourg, Catherine Deneuve und Michel Gondry.

Ein großes Event auf der Berlinale war die Welterstaufführung der digital restaurierten 4k-Fassung von Robert Wienes Stummfilmklassikers “Das Cabinet des Dr. Caligari “ in der Berliner Philharmonie. Für die Restaurierung wurden sowohl das Kamera-Negativ, das sich im Bundesfilmarchiv in Berlin befindet, sowie mehrere Verleihkopien aus internationalen Filmarchiven verwendet. Das Ziel war, sowohl die Bildqualität als auch die expressionistischen Zwischentitel und die Charakteristik der historischen Färbungen möglichst überzeugend wiederherzustellen. Musikalisch wurde die Aufführung mit neuer, teils improvisierte Musik von dem New Yorker Multi-Instrumentalisten John Zorn an der Orgel der Berliner Philharmonie begleitet. Die Musik wurde live aufgezeichnet und Mitte Februar zusammen mit dem Film von Arte ausgestrahlt. „Durch die weltweit beachtete Berlinale-Premiere von “Das Cabinet des Dr. Caligari” kommt die Digitalisierung des Filmerbes in den öffentlichen Fokus”, erklärte Ernst Szebedits, Vorstand der Murnau-Stiftung. “Was heute nicht verfügbar gemacht wird, droht im digitalen Medienzeitalter von der Bildfläche zu verschwinden.” Die Digitalisierung des nationalen Filmerbes ist inzwischen in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden. „Die kulturhistorisch wichtige Sicherung des Filmerbes ist jedoch eine große finanzielle Herausforderung, die auch eine Beteiligung der Filmwirtschaft selbst erfordert”, betonte die Kulturstaatsministerin Monika Grütters, „denn gerade sie wird der wirtschaftliche Nutznießer der künftigen Verfügbarkeit analoger Filmbestände sein.“

4K-Konzertfilm mit Peter Gabriel

Die Berlinale als Plattform genutzt hat auch Eagle Rock Entertainment, um der Branche Peter Gabriels neuen Konzertfilm „Back to Front“ vorzustellen, den der preisgekrönte britische Regisseur Hamish Hamilton in der O2 London in 4k Ultra HD mit einer 5.1 Surround Sound-Mischung aufgenommen hat. „Es reizt mich, neue Technologien einzusetzen, mit denen sich der Zuschauer stärker in das Geschehen einbinden lässt“, erklärt der Sänger Peter Gabriel, der sich als Sohn eines Fernsehtechnikers schon frühzeitig mit den Möglichkeiten im Audio- und Videobereich beschäftigt hat. „Unser Ansatz bei diesem Film sah vor, jeden Song visuell auf eine andere Art und Weise umzusetzen.“ Zudem wurden bei diesem ersten High Definition-Konzeptfilm die Kontraste bewusst hervorgehoben. „Wir haben die hochmodernen 4k-Kameras mit kleinen billigen Kameras kombiniert, um die extremen Kontraste zu zeigen“, sagt Gabriel. „Es war spannend die Möglichkeiten auszuschöpfen, die dieses neue Medium bieten kann.“ Der 4k-Konzertfilm „Back To Front“ wird am 13. März weltweit ins Kino gebracht.

Unter den rund eine halbe Million Besuchern, die zur Berlinale strömten, befanden sich auch sehr viele junge Leute. „Mit unserer Initiative Berlinale Talents sorgen wir dafür, dass sich die Berlinale auch statistisch erneuert“, unterstreicht Kosslick. „66 Filme in unserem diesjährigen Programm resultieren aus Berlinale-Initiativen wie dem World Cinema Fund, den Berlinale Talents oder dem Co-Produktion Market.“ Hinzu kommen rund 60.000 ganz junge Zuschauer, welche die Kinokultur schon von kleinauf vermittelt bekommen. Die Filmvorstellungen werden von den Schulen begleitet. Mit der Nutzung der digitalen Medien ändern sich die Gewohnheiten des Publikums und die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer. „Der Trend geht derzeit zum Binge-Viewing, dem Endlossehen. Immer mehr Zuschauer schauen sich die ganze Nacht oder das ganze Wochenende hindurch mehrere Folgen oder Staffeln von amerikanischen und europäischen Serien an“, berichtet der Festival-Direktor. „Auch bei der Berlinale beweisen die Besucher, dass sie über Sitzfleisch verfügen. Bei Wettbewerbsbeiträgen, die über zweieinhalb Stunden lang sind wie „Nymph()maniac“, ist das Publikum im Kino geblieben.“

Birgit Heidsiek

(MB 1/14)