Philosophische Unterschiede

Ben Stassen gilt als Pionier des 3D-Films. Mit seiner in Brüssel angesiedelten Firma nWave Pictures hat er zahlreiche großformatige 3D-Filme für IMAX-Kinos gemacht sowie „Rides“ für die Kinosäle der Vergnügungsparks. Das sind simulierte Fahrten durch virtuelle 3D-Welten bei denen auch der Zuschauersitzplatz entsprechend der Bild- und Toneindrücke bewegt wird. nWave existiert als Produktions- und Vertriebsunternehmen seit 1994. 2008 drehte das Studio seinen ersten abendfüllenden 3D-Film „Fly Me to the Moon“, der ausschließlich in 3D zu sehen war. Mit „Sammys Abenteuer“ folgt nun der zweite Spielfilm. Die Abenteuer der Meeresschildkröte Sammy folgen einer eigenen 3D-Philosophie. Stassen erklärte MEDIEN BULLETIN wie sie funktioniert.

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Philosophische Unterschiede

Zwischen dem 3D-Ansatz der USA und Ihrem gibt es einen erheblichen philosophischen Unterschied. Sie werfen den Amerikanern vor, nur 2.5D zu machen, da sie sich nicht trauen, das Bild in den Zuschauerraum hineinzutragen.

Können Sie Ihren Ansatz näher erläutern?

Der Kern des 3D-Kinos ist die Immersion, das Hineinziehen in die Szenerie. Wenn man einen Film sieht, wird der Zuschauer intellektuell und emotional in die Geschichte involviert. In 3D wird er darüber hinaus noch räumlich mit einbezogen. Dadurch hat er auch physikalisch das Gefühl Teil der Geschichte zu sein. Wenn ich eine 3D-Szene entwerfe, stelle ich mir nicht die Frage, wohin der Zuschauer schauen soll, sondern welchen Platz er als Teil der Szene einnehmen soll. Das ist ein komplett anderer Ansatz als beim 2D-Kino. Um Immersion tatsächlich herzustellen, haben wir aber noch einen weiten Weg vor uns. In den IMAX-Kinos gelingt uns das schon ganz gut, weil dort zumindest eine Grundvoraussetzung erfüllt ist.

Um welche Grundvoraussetzungen handelt es sich?

Damit 3D eine Zukunft hat, braucht es drei prinzipielle Voraussetzungen. Erstens, Filmemacher müssen 3D ernst nehmen und dürfen es nicht wegen des Effekts aus rein kommerziellen Gründen einsetzen. Zweitens, wir müssen die Produktions-
technik ändern. 24 Bilder die Sekunde ist für 3D zu langsam. Das führt schnell zu unangenehmen Stroboskopeffekten. Den gibt es zwar auch in 2D-Filmen, doch dort kann ihn das Gehirn bewältigen, weil er für beide Augen gleich ist. Der Stroboskopeffekt tritt immer dann auf, wenn eine Bewegung – die eines gefilmten Gegenstands oder aber der der Kamera – zu schnell ist. Dann springt das Bild. In 3D kann das Gehirn den Stroboskopeffekt nicht bewältigen, weil er für beide Augen unterschiedlich ist. Die Folge ist körperliches Unwohlsein. Wir
müssen also die Anzahl der Bilder pro Sekunde erhöhen. Auf 48 oder besser auf 72 Bilder in der Sekunde. Auch die Bewegungsunschärfe ist ein Problem. Bei 3D wird sie als Unschärfe wahrgenommen, bei 2D lediglich als Bewegung, weshalb wir sie in der Animation sogar künstlich erzeugen. Wie beim Stroboskopeffekt ist die Bewegungsunschärfe aufgrund der beiden Bilder nicht einheitlich. Das sind nur zwei kleine Beispiele für technische Probleme – und es gibt noch einige mehr, die uns zurzeit noch enorm einschränken.

In „Sammy“ sind alle dynamischen Szenen so geschaffen, dass sie sich auf die Kamera zu- oder wegbewegen. Es gibt keinen Schwenk und keine Seitwärtsfahrten, um die technischen Einschränkungen umgehen zu können. Und Drittens sind die meisten Kinos definitiv nicht für 3D geeignet. Die IMAX-Kinos sind ideal, und natürlich muss jetzt nicht jedes 3D-Kino so ausgestattet sein. Es reicht, wenn man das Gesichtsfeld mit der Leinwand füllt. Das heißt, man darf so gut wie Nichts mehr an den Rändern der Leinwand sehen. Wenn man zu weit von der Leinwand entfernt sitzt oder sie zu klein ist, hat man den Eindruck durch ein Fenster zu schauen und so kann Immersion nicht erreicht werden.

Ist es mit den modernen digitalen Projektoren nicht möglich die geforderte höhere Bildrate pro Sekunde zu erreichen?

Die Projektoren arbeiten mit 144 Bildern die Sekunde. Da es bei 3D-Filmen aber zu einem Ruckeln kommt, weil die beiden Bilder für das jeweilige Auge nicht gleichzeitig sondern hintereinander projiziert werden, wird jedes Bild drei Mal für jedes Auge projiziert, um dies zu verhindern. Der Projektor ist in der Lage den Film in einer höheren Bildrate zu zeigen. Auch moderne Fernseher mit 120 Hertz und höher können dies. Das Problem liegt in der Produktionstechnik, genauer in der Schnittsoftware, dem Rendering der Bilder oder der Farbkorrektur. Das ist alles nicht unlösbar. Aber nur, wenn die DCI-Spezifikation geändert wird damit wir auf den DCI-Projektoren Filme mit einer höheren Bildrate abspielen können. Noch sieht der Standard 24 Bilder die Sekunde vor.

In den USA gibt es bereits Kritik an 3D. Wird es sich durchsetzen
oder ein Nischenprodukt bleiben?

37 Prozent der US-Bürger wollen für 3D nicht mehr zahlen, mehr als 25 Prozent wollen 3D überhaupt nicht mehr sehen, weil sie enttäuscht sind. Sie sehen den Mehrwert nicht. Es gibt eine breite Stimmung gegen 3D, weil 3D das Versprechen, das es aufgestellt hat nicht einhält. Die Leute sehen 3D nicht als eine künstlerische Revolution des Kinos, sondern als eine schlichte kommerzielle
Evolution, und dies gerade zu rücken, ist die große Herausforderung. Allerdings wird die wahre Revolution nicht im Kino, sondern im Fernsehen statt finden. Es gibt ein starkes Interesse der Industrie 3D im Fernsehen durchzusetzen.

Aber das wird nicht durch fiktionale Programme geschehen, sondern durch Sport. Sport braucht allerdings eine deutlich höhere Bildrate als ein Actionfilm, weil Sport bewegungsreich ist und die Bewegungen dort sehr schnell sind. Ich habe eines der WM-Spiele in 3D gesehen. Solange es sich um Totalen oder Fotos handelte, sah es prima aus, aber sobald es Bewegung gab, wurde auf ein 2D-Bild umgeschaltet, weil es ansonsten unsehbar geworden wäre. Das ermüdet das Publikum rasch und um das zu verhindern, muss die Bildrate erhöht werden, damit es bei der Stange bleibt. Das ist nicht nur meine Ansicht. Auch James Cameron vertritt sie.

Beginnt bei den US-Produzenten durch die Kritik ein Umdenken, um 3D tatsächlich zu einer eigenen Ausdrucksform zu entwickeln? 3D also in Richtung Ihrer Philosophie zu treiben?

Im Augenblick sehe ich das nicht. Es wird leider so weiter gemacht wie bisher. Ich bin nicht besonders optimistisch und das obwohl ich 3D liebe und keine andere Art von Filmen machen möchte. Wenn wir uns nur darauf verlassen, dass sich 3D aus der Erfahrung des Sehens entwickelt, sehe ich keine Zukunft für 3D, weil die Entwicklung zu langsam ist. Die Industrie übt längst einen enormen Druck auf 3D aus. Einerseits hat der 3D-Hype auf das Fernsehen übergegriffen, das nun im Zentrum des finanziellen Interesses um 3D steht.

Andererseits geht es Hollywood nicht so sehr darum dem Zuschauer ein originäres Seherlebnis zu bieten, sondern die Kinobesitzer davon zu überzeugen, dass sie ihre Kinos endlich digitalisieren, damit sie an den Einnahmen partizipieren können, die 3D ermöglicht. Als „Star Wars – The Phantom Menace“ 1998 heraus kam, konnten 14 Kinos in den USA den Film digital spielen. Seitdem versucht man die Digitalisierung der Kinos durchzusetzen, aber es ist nicht wirklich was passiert. Jetzt mit 3D kommt die Umstellung, da die Betreiber wissen, dass sie ohne digitale Projektoren keine 3D-Filme zeigen können. Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs und letztendlich kommt es nicht darauf an was Hollywood oder Hersteller von 3D-Fernsehgeräten wollen, sondern was das Publikum will und das kann zu einem sehr unangenehmen Rückschlag führen.

Was kann man also tun?

Um zu verhindern, dass sich das Publikum abwendet, müssen wir schnell lernen 3D-Filme zu machen, die so nur in 3D gemacht werden können und ein völlig neues, originäres Seherlebnis bieten. Im Grunde gibt es zu viele 3D-Filme. Sechs oder sieben pro Jahr reichen vorerst völlig aus. Nicht jeder Film muss in 3D sein, aber wenn man es tut, dann bitte, bitte filmt ihn auch in 3D und filmt ihn nicht in 2D und konvertiert ihn später um. Ein Beispiel mit einem grundfalschen Ansatz ist
„Toy Story 3D“. Die Macher haben ihn erzählt, als sei er in 2D.

Es wurde nicht darüber nachgedacht wie die Action, die Geschwindigkeit oder die Inszenierung der Figuren innerhalb des Bildes in 3D aussehen würden beziehungsweise wie sie den besten Effekt erzielen würden. Der Film wurde in 2D gedacht und ausgeführt und zum Schluss in 3D gerendert. Das heißt aber auch, dass schnelle Bewegungen beinahe auf 2D zurückgefahren werden, damit sie scharf bleiben. Auch „Avatar“ ist nicht frei von diesen Problemen. Dort funktioniert 3D in den ruhigen Szenen am Besten. Sobald die Action eintritt, fällt der Film auf 2D zurück, weil 3D nicht mit der Geschwindigkeit zurechtkommt. Natürlich ist ein 3D-Film teuer und dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen. Zum Beispiel die Kosten für die Synchronfassungen.

Inwiefern?

Nehmen wir „Sammys Abenteuer“. Man kann den Film nicht untertiteln. Bei uns
liegen die Bilder für das rechte und das linke Auge weiter auseinander, als bei den US-Filmen. Dadurch würden die Untertitel direkt über dem Zuschauer schweben. Das wäre dann so, als ob man etwas liest, das man in der Hand hält und gleichzeitig auf etwas weit Entferntes schaut. Durch das ständige Anpassen der Augen an die unterschiedliche Entfernung, wird einem in zehn Minuten schlecht. Ein anderer finanzieller Aspekt ist der Mangel an 3D-Leinwänden. Hat man welche, kann es sein, dass man zwei Wochen später dem nächsten 3D-Film Platz machen muss, ohne dass das Zuschauerpotenzial ausgeschöpft ist. Die Industrie muss sich über ein paar grundsätzliche Fragen Klarheit verschaffen, wenn sie möchte, dass 3D ein dauerhafter Teil des Kinos bleibt.

Worauf muss man beim kreativen Prozess achten, wenn man einen 3D-Film macht?

In „Sammys Abenteuer“ sitzt Sammy auf einem kleinen Hügel aus Sand am Strand und spricht zum Publikum. Der Hügel reicht in den Zuschauerraum und Sammy spricht so individuell zu jedem Zuschauer im Raum, ohne dass dies als effekthascherisch erscheint oder gar sofort auffällt. Dieses Bild ist für mich die Essenz von 3D – die Immersion, das Gefühl des Zuschauers Teil des Geschehens auf der Leinwand zu sein. Er soll das Gefühl haben, dass Sammy zu ihm persönlich spricht. Das stellt auch eine Verbindung zum Zuschauer her. Wenn die kleine Schildkröte versucht aus dem Loch herauszukommen, in dem die Eier lagen, bin ich sehr nahe herangegangen, weil durch 3D und die Nähe Emotionen erzeugt werden. Man spürt richtig, wie hilflos sie da unten ist. Das Gefühl, man sei wirklich an einem realen Ort wie diesen, führt zu einer Emotion, die mit 2D nicht zu erzeugen ist.

Das Zusammenspiel von Immersion und Emotionen möchte ich mit 3D weiter erforschen. Auch bei den Reaktionen auf die Rides in den Vergnügungsparks geht es immer nur eines, um Immersion. Die Leute wollen das Gefühl haben wirklich mit der Lore durch die Goldmine zu rasen oder im Weltraum zu sein. Wir hören den Leuten zu und nehmen ernst, was sie erzählen, nachdem sie unsere Filme gesehen haben und berücksichtigen das in den Folgeprojekten.

Was haben Sie aus „Sammys Abenteuer“ mitgenommen, das Sie in weiteren 3D-Filmen ausbauen können?

Man lernt mit jedem Film. Und ich habe einige 3D-Filme gemacht. Da 3D eine neue Sprache ist, gibt es viel zu lernen. Sei es die Positionierung der Kamera, die Gestaltung des Raums oder wie man die Charaktere in diesem Raum platziert. Am Interessantesten ist aber die Beziehung zwischen den Charakteren und dem Publikum. Da habe ich am meisten gelernt und das ist ein Feld das ich in Zukunft weiter und weiter erforschen werde. Ich werde den Zuschauer in einem der nächsten Filme sogar als Charakter einbauen, weil das die mächtigsten Momente in einem 3D-Film sind. Und wir werden natürlich versuchen mehr Action und Dynamik hineinzubekommen.

Das haben wir in „Sammys Abenteuer“ mit dem Möwenangriff oder der Haiattacke auch schon ganz gut hinbekommen. Wir müssen aber vorsichtig sein, denn wir können uns keine Fehler leisten, weil wir sie nicht finanzieren können. Dummerweise wird man im Animationsgenre immer mit den Branchenführern Pixar und Dreamworks verglichen. Im Realfilmbereich ist das nicht der Fall. Für „Sammys Abenteuer“ hatten wir 25 Millionen Dollar zur Verfügung. In den USA belaufen sich die Budgets auf 150 bis 180 Millionen Dollar. Wir haben 95, sie haben 350 bis 400 Mitarbeiter, wir produzierten in zwei Jahren, die in drei bis vier. Den Zuschauer interessiert das aber nicht und das sollte es auch nicht. Die Herausforderung ist, ihn immer wieder ins Staunen zu versetzen und die Latte um
eins weiter nach oben zu legen. Ich möchte neue Dinge ausprobieren, aber ich darf auch nicht total daneben liegen, weil wir uns das nicht leisten können. Also müssen wir vorsichtig sein und die richtige Balance finden.

Glauben Sie, dass die Europäer bei 3D wettbewerbsfähig sind?

3D ist eine echte Herausforderung für europäische Filmemacher. Die Einkommensströme der US-Majors haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Der einheimische Markt ging von 50 Prozent auf 30 bis 40 Prozent zurück und der internationale Markt hat an Bedeutung gewonnen. 3D ist sehr teuer und kann dadurch von Hollywood genutzt werden, um den Weltmarkt noch weiter zu kontrollieren. Im 3D-Realfilmbereich haben wir zurzeit keine echten Möglichkeiten. Er ist noch im Versuchsstadium und wird behandelt wie ein Wissenschaftsprojekt und nicht wie ein Industrieunternehmen. Wenn man einen 150-Millionen-Dollar-Film macht und durch 3D kommen noch mal zehn Millionen oben drauf, macht das nichts. Aber wenn es ein Fünf-Millionen-Euro-Film ist, dann sind zwei bis drei Millionen mehr schon eher ein Killerkriterium. Für 3D gibt es eine Mindesteinstiegssumme und keine prozentuale Erhöhung des Budgets.

Da Hollywood 3D aber nicht als eine neue Kinosprache betrachtet, sondern es nur in der reduzierten 2.5D-Version nutzt, haben unabhängige Filmemacher an exakt diesem Punkt die Möglichkeit ihren Hebel anzusetzen. Wir können 3D nutzen, um ein komplett anderes Seherlebnis zu schaffen, das nicht aus den USA kommt. Sowohl die Kritik als auch die Zuschauer bemerken diesen Unterschied. Wenn die europäischen Filmemacher 3D wirklich als neue Filmsprache entwickeln, dann haben sie ein Verkaufsargument und 3D hat eine Zukunft.

Kann 3D ein Element sein, das man im Arthouse-Markt einsetzen kann?

3D ist sehr viel besser für ruhige, intime Filme geeignet als für Actionfilme. Nehmen Sie nur mal „Mein Dinner mit André“, wo zwei Männer am Tisch sitzen, die sich die ganze Zeit unterhalten. In 3D wäre das sehr interessant, denn der Zuschauer würde mit den beiden am selben Tisch sitzen und ihnen zuhören. Das würde die Erfahrung komplett verändern. Und weil wir zurzeit bei 3D noch auf 24 Bilder die Sekunde beschränkt sind, ist 3D eben für die ruhigeren, kontemplativen Filme besser geeignet.

Was ist das nächste Projekt?

Der Film spielt komplett unter Wasser und es werden einige Charaktere aus „Sammys Abenteuer“ auftauchen. Aber er ist keine Fortsetzung. Es wird eine Action-Comedy werden. Im Frühjahr starten wir mit der Produktion von „Enchunted House“. „Enchunted“ setzt sich zusammen aus „enchanted“ und „haunted“. Und dann mache ich eine Realfilm-Dokumentation über Afrika zwischen Namibia und Kenia. Das sind natürlich alles 3D-Filme – ich mache keine andere Art von Filmen!

Planen Sie auch Koproduktionen mit den USA?

Studio Canal ist unser langjähriger Partner, da erübrigt sich eine Partnerschaft mit einer US-Firma.
(MB 10/10)
Thomas Steiger