Wilder Westen in der digitalen Welt

Am 23. März fand in Berlin das Symposium der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) unter dem Motto: „Werbung ist tot! Es lebe die Werbung!“ statt. Diskutiert wurde auch über „Smart-TV als Spion im Wohnzimmer“. Ein politisch brisantes Thema, das durch unlängst bekannt gewordene CIA-Aktivitäten wieder mehr in den Fokus gerückt ist. Dazu News und Impressionen.

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Wilder Westen in der digitalen Welt

Seitdem sich die Medienanstalten weniger als Kontrolleure, sondern mehr als Lobbyisten-Partner der kommerziellen deutschen Rundfunkveranstalter verstehen, versuchen sie sich mitunter in ihrer öffentlichen Kommunikation einen flotteren, provokanten Anstrich zu geben. So ließen sie sich für die Presseeinladung zu ihrem jüngsten Symposium am 23. März in Berlin brisante Beobachtungen als Einstieg einfallen: Handelt es sich bei Smart-TV um einen „Spion im Wohnzimmer oder (eine) ultimativ konvergente Werbemaschine“? Und weiter: „Hacken sich CIA-Spione von Frankfurt aus in unsere Smart-TV-Geräte ein, um lückenlose Überwachung auch in heimischen Wohnzimmern zu gewährleisten?“ Aber I wo. Alles in Butter: Schon im Folgesatz distanzierten sich die Medienanstalten von den selber aufgestellten Vermutungen.

Zwar habe eine WikiLeaks-Enthüllung jüngst „mit diesem Horrorszenarium kokettiert“ – doch nur so lange bis „Journalisten feststellten, dass die veröffentlichten Unterlagen keinen Rückschluss auf solche Fernzugriffe zulassen“. Auch wenn die Medienanstalten es populistisch zu verharmlosen versuchen, die Sache mit der Spionage ist Fakt: Dass der Rückkanal des Internets für Spionagezwecke genutzt wird, ist spätestens seit den Enthüllungen des US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden weltweit bekannt, seit fast vier Jahren. Weil jeder Mensch bei der Nutzung des Internets (und dessen „Dinge“) persönliche Daten über seine Kommunikation, seine Interessen, sein Verhalten und seine Standorte hinterlässt, können die im Guten erfasst und ausgewertet werden (zum Beispiel, wenn nach Verbrechern wie Terroristen gefahndet wird) oder im Bösen (zum Beispiel, wenn sich Interessensgruppen über das Ausspionieren von Personen Vorteile jenseits der Rechtslage, also kriminell, zu verschaffen versuchen). Es handelt sich politisch um ein sehr heikles Thema, bei dem es darum geht, ob sich das Internet in Zukunft mehr als Fluch oder Segen für Menschen, die Gesellschaften und ihre Staaten entpuppen wird.

Wobei im Internet auch medienrechtlich gesehen eine große Grauzone zwischen Gut und Böse existiert. Weil nämlich, wie DLM-Direktor Siegfried Schneider auf dem Symposium einräumte, die digitale Entwicklung „eine Unzahl von neuen Fragen aufwirft, die gesetzlich gar nicht geregelt sind“. Und das gilt für alle Medien mit Internetzugang, eben auch für Smart-TV, das via HbbTV oder speziellen TV-Apps ins Netz führt. Weder ist geregelt, welche Anbieter sich mit welchen Intentionen und Glaubwürdigkeitsnachweis auf den Smart-TV-Displays tummeln dürfen, (sie können aus dem auch heute noch regulierten Broadcast- oder dem unendlichen, nahezu unregulierten Online-Bereich des Internets stammen). Noch gibt es verbindliche Richtlinien, wie man via Smart-TV-Werbung betreiben darf, weil damit zwei Welten mit unterschiedlichen Regularien vermischt werden („Rundfunk“- und „Telemedien“-Gesetz).

Genau so wenig existieren IT-Spezifizierungen, nach welchen Datenschutz- oder anderen rechtlichen Bedingungen Smart-TV-Geräte hergestellt werden dürfen. Für Smartphones oder Tablets gibt es die genau so wenig. Wie genau die durch Algorithmen gesteuerte individualisierte Werbung bei beispielsweise Google oder Facebook wirklich funktioniert (oder nicht) ist völlig intransparent. Dennoch gilt auch hierzulande „persönliche Werbung“ als Innovation und Kennzeichen für so gut wie alle neuen Geschäftsmodelle in der Online-Welt. Doch war die Empörung riesengroß, wie die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Maja Smoltczyk, anmerkte, als Journalisten vor rund zwei Jahren aufdeckten, dass mit den Smart-TVs „Spione in die Wohnzimmer“ Einzug hielten. Will heißen: Bei Geräten, zum Beispiel von Samsung, wurden die eingebauten Kameras automatisiert aktiv, um das Verhalten der Zuschauer zu beobachten. Zudem wurden, wie es bei Google, Facebook und Co. seit Jahren Usus ist, die Daten des Mediennutzungsverhaltens ohne Erlaubnis von den Nutzern erfasst und an Dritte zur Auswertung weiter geleitet.

Erst einmal als „Spione“ in aller Öffentlichkeit gebrandmarkt, waren die Smart-TV-Gerätehersteller gezwungen, Datenschutz-Regeln für die Nutzung nachträglich einzubauen. Zum Beispiel müssen die Nutzer heute öfter „Häkchen“ als Erlaubnis dafür setzen, dass Daten über ihr Mediennutzungsverhalten automatisiert erfasst und ausgewertet werden dürfen. Auch Google und Facebook blenden solche Abhak-Mechanismen mittlerweile häufiger ein. Doch „wer hat denn die Datenschutzerklärung schon jemals durchgelesen?“, warf Staatsminister Dr. Fritz Jaeckel (CDU), Chef der Staatskanzlei des Freistaat Sachsens, als Frage in den Raum. „Die meisten klicken auf Zustimmung. Ich gehe davon aus, dass 90 Prozent gar nicht wissen, wozu sie zugestimmt haben“.

So gilt bis auf weiteres im Online-Medienbereich das Gesetz des Wilden Westens. Es geht darum, Land zu besetzen und zu besitzen, jenseits von Gesetzen. Das neue Land sind die persönlichen Daten von Nutzern, die sich durch vermeintlich individualisierte Werbung monetarisieren lassen. Es wird nicht mehr nach Gold, sondern nach Daten gegraben. Schon seit Jahren wird von der IT-Industrie behauptet, Daten seien „das Öl des 21. Jahrhunderts“. Die Big Player aus Silicon Valley haben sich dank dieser frohen Botschaft eine Kapitalisierung verschafft, die sie zu den heute global mächtigsten Wirtschaftsunternehmen katapultiert hat, zu einem Goliath, gegen den viele Davids zu kämpfen versuchen. Auch die große EU, die mit ihren 500 Millionen Bewohnern einen wesentlich größeren Markt als die USA repräsentiert, will etwas tun, mit dem Ziel die Daten-Allmacht der großen IT-Unternehmen in Europa zu begrenzen. So soll etwa die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung, wovon noch die Rede sein wird, ab Mai 2018 greifen. Dabei könnte es aber passieren, dass im deutschen neuen Wilden Westen der Online Welt, nicht die Medienanstalten die Sheriffs sind, sondern die Datenschutzbeauftragten. Was den Medienanstalten nicht sonderlich schmeckt. Aber auch manchen Politikern nicht. Staatsminister Jaeckel gab auf dem Symposium zu Protokoll: „Ich bin ein massiver Kritiker der Autonomie der Datenschutzbeauftragten, weil sich dort ein völlig neuer Politikbereich verselbständigen könnte“. Zwar werde auch Sachsen die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung in die Praxis umsetzen, „aber“, so Jaeckel „ich weiß nicht, ob es die richtige Antwort auf die Herausforderung ist. Ich persönlich bin der Meinung, sie ist es nicht“. Für diese Aussage wurde Jaeckel spontan mit tosendem Beifall der über 200 Symposiums-Teilnehmer belohnt, die mehrheitlich aus dem Umfeld des Privatfunks stammten. Vorgezogen wird die Idee der Medienanstalten, nur eine „Ex-Postkontrolle“ zu betreiben, wie es Schneider betonte. Das heißt: Nur wenn bereits eklatante Missstände im Medienwettbewerb aufgedeckt worden sind, will man einschreiten. Zumal speziell die Vertreter des privaten, ­– oder besser gesagt: kommerziell-orientierten – Rundfunks in Deutschland das sogenannte „Level-Playing-Field“ rechtlich fordern: Gleichberechtigung. Sie wollen in Zukunft nicht mehr stärker reguliert werden als die großen Player der Online-Welt, insbesondere hinsichtlich der Werbung. Weg mit Regularien! So hat der Wilde Westen in der Internetwelt bislang freie Fahrt, zumal er einen hochrelevanten Wirtschaftswachstumsfaktor repräsentiert, national und international. Einen Grundsatz aus der analogen Welt allerdings, so wurde mehrfach auf dem Symposium von Vertretern der Medienanstalten betont, wolle man doch unbedingt treu bleiben: Der strikten Trennung zwischen Werbung und Programm, wie auch die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt, Cornelia Holsten, erklärte. Gleichwohl fügte sie hinzu, dass ihr die Innovationen der Online-Welt „Spaß machen“ würden, einschließlich das Marketing mittels „Influencer“. Diese neue Online-Werbeform hätte man in der analogen Welt vermutlich noch als Manipulation bezeichnet und verboten. Doch was Werbung ist, was sie darf, und wie sie funktioniert, dazu hat es im Markt längst einen Paradigmenwechsel gegeben.

Was genau ist die Funktion der Werbung in der aktuellen digitalen Welt? Die Keynote zu dieser Frage war Christof Baron vorbehalten, der seit kurzer Zeit Geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsagentur Pilot ist, die sich eben mit diesem Thema beschäftigt. Baron ist nicht irgendwer. Man nennt ihn in der Werbebranche „The Brain“. Seit rund 30 Jahren ist der heute 53-Jährige als Mediaplaner tätig, zuletzt viele Jahre davon bei der größten Mediaagentur in Deutschland, GroupMD. Die schaltet zusammen mit zwei weiteren Agenturen (Dentsu Aegis und Omnicom) rund 90 Prozent der Werbung hierzulande, die insgesamt ein properes Volumen in Höhe von 29 Milliarden Euro umfasst. Dennoch stellte Baron in seiner Keynote die Werbung und die Mediaagenturen nicht als Treiber, sondern als „Opfer“ in der digitalen Welt dar. „Wir sind ideologisch die Getriebenen“, erklärte er. Denn man müsse den Vorgaben der großen IT-Unternehmen folgen. „Gewinner“ seien vielmehr „Google, Facebook, Amazon & Co“.

Kennzeichen des neuen Wettbewerbs sei eine unbegrenzte Kommunikation, „unlimited communication“ auf Basis der von Nutzern generierten Daten. Wobei zunehmend Videos bei den verschiedensten Geschäftsmodellen bei der Distribution und im Inhalte-Marketing in den Vordergrund rückten: auf allen denkbaren Screens. Dabei seien neue Arten von TV-Sendern entstanden, etwa Vice TV, Sportdeutsch-land.TV (DOSB) oder Red Bull TV. Das sei erst der Anfang der Entwicklung. Die digitale Transformation werde sich noch beschleunigen. Künftig „werden die Produkte selber vernetzt“ („Internet of Things“), die künstliche Intelligenz werde eine tragende Rolle spielen – und „Daten von Konsumenten und von Produkten, die sie kaufen wollen, landen alle in einer großen Datenwolke“, referierte Baron.

Der neue Wettbewerb in der Werbebranche werde durch die „Marktkapitalisierung führender Unternehmen im Bereich Medien, Kommunikation und Markttechnologie“ bestimmt. Das seien laut Yahoo!Finance-Daten vom März 2016 die IT-Unternehmen Apple (mit 737 Milliarden Dollar), Alphabet/Google (591), Facebook (407), Amazon (404), IBM (165), SAP (114). Alle anderen Marktteilnehmer wie Telekommunikationsunternehmen, außer der US-Telekom-Riese Verizon (204), oder Media-Netzwerke spielten mit Margen von weit unter 100 Milliarden Dollar auf dem globalen Markt eine untergeordnete Rolle. Ganz zu schweigen von den Werbeeinnahmen der nationalen TV-Veranstalter. 45 bis 50 Prozent der globalen Werbeausgaben fließen laut Baron in die Töpfe von Facebook und Google. Neuerdings würden neue Audiosysteme wie Alexa von Amazon in den Wohnzimmern von Konsumenten „Verkaufsempfehlungen machen“ – was einmal die Aufgabe der Werbung war. Was kann man gegen diese IT-Vormachtstellung tun? Müsse man da nicht doch regulieren? „Ich mag das Wort regulieren nicht“, antwortete Baron auf die Frage der Moderatorin. Aber sicher: „Wir brauchen Gegengewichte, die man europäisch betrachten muss“, meinte er.

Beim Symposium flirrten allerlei Fachbegriffe wie „Programmatic Advertising“, „Realtime-Bidding“ oder „Targeting“ für die neuen Werbeformen in der digitalen Welt durch die Luft. Wobei „Addressable-TV“ zu den Lieblingswörtern zählte. TV mit Adressierbarkeit sei „das Thema der Zukunft“, weshalb „HbbTV so wichtig“ sei, meinte Conrad Albert, Vorstandsmitglied ProSiebenSat.1. Lieblingsmedium der Konsumenten sei immer noch Fernsehen, dessen Steuerung man nicht den großen US-IT-Unternehmen überlassen sollte. Tatsächlich hat sich Googles YouTube-Angebot auch über Smart-TV schon längst in die Herzen der deutschen Konsumenten geschlichen, und liegt laut jüngster Studie der Gesellschaft für Unterhaltungselektronik in der Beliebtheitsskala der neuen Smart-TV-Dienste mit nur kleinem Abstand auf Platz zwei hinter den Mediatheken der deutschen TV-Veranstalter und vor den neuen VoD-Angeboten, die ihre Wurzel zum Großteil in den USA haben.

Es geht um Geschäfte, um Wettbewerbsvorteile und -Nachteile. Doch, „dass aus wirtschaftlichen Gründen Persönlichkeitsrechte der Konsumenten geopfert werden, eine der großen Errungenschaften, die wir in Deutschland und Europa haben, kann aus meiner Sicht nicht sein“, argumentierte die Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk. Sie bemängelte, beim Symposium sei nicht zur Sprache gekommen, welche Daten genau über Nutzungsverhalten, Interessen und Abneigungen der Konsumenten durch den Rückkanal des Smart-TV erhoben werden. Das Telemediengesetz erlaube es zwar, Nutzungsdaten zu erheben, wenn diese für die Abrechnung des Dienstes erforderlich seien. Was aber nicht gleichbedeutend damit sei, dass ein Finanzierungsmodell auf Basis der Erhebung von persönlichen Daten erlaubt sei. Grundsätzlich sei der gravierende Unterschied zwischen traditioneller und neuer Werbung, dass „früher in der Werbung keine personenbezogenen Daten erhoben wurden“. Diese unbegrenzt zu sammeln, auszuwerten und zu vermarkten sei nicht rechtskonform: „Es darf keinen gläsernen Fernsehzuschauer geben“. Das Bundesverfassungsgericht habe schon 1983 hervorgehoben, dass der Schutz persönlicher Daten der demokratischen Grundordnung diene, in der „Menschen das Recht haben, sich frei und unbeobachtet zu informieren“, um sich letztlich „eine freie Meinung“ zu bilden. Es gehe um „demokratische Grundrechte“, referierte Smoltczyk, wozu gehöre, dass weder Staat noch wirtschaftliche Unternehmen Menschen in ihrem gesamten Verhalten erfassen und analysieren dürften. Wozu man nur applaudieren kann!

Die wichtigste datenschutzrechtliche Vorgabe dazu sei: „Jede Verwendung personenbezogener Daten ist verboten, es sei denn, es gibt eine gesetzliche Erlaubnis oder die Einwilligung des Nutzers davon“. Nun ist es ja heute so, worauf auch Staatsminister Jaeckel hingewiesen hat, dass Nutzer nicht von der digitalen Welt ausgeschlossen sein wollen. So wird YouTube per Häkchen explizit mal rasch erlaubt, die persönlichen Daten zu erfassen und weiter zu verarbeiten, weil man gerade einen bestimmten Videoclip unbedingt sehen möchte. Wie gehen Datenschützer mit dieser Situation um? Die Lösung, die Datenschützer präferieren, sei, dass Google seine Dienste nicht gegen Abgabe persönlicher Daten leiste, sondern gegen Geld, hat Smoltczyk geantwortet.

Und Geld wird auch in der EU-Datenschutzverordnung eine große Rolle spielen. Anstatt nur maximal 300.000 Euro wie bisher, sollen IT-Unternehmen bei Datenmissbrauch 20 Millionen Euro und weltweit tätige Unternehmen vier Prozent ihres Jahresumsatzes als Strafe zahlen. Smoltczyk forderte die deutsche Medien- und Werbewirtschaft auf: „Schaffen Sie sich einen Wettbewerbsvorteil durch einen verantwortlichen Umgang mit nutzerorientierten Daten“.

Erika Butzek

MB 2/2017

© Andreas Franke / panabild.de