Brainware statt Software

Mit der außergewöhnlichen dreiteiligen Dokumentation „Soundtrack Deutschland – Liefers und Prahl ermitteln“ hat die ARD unter Federführung des MDR-Unterhaltungschefs Peter Dreckmann Mut für ein Experiment bewiesen, nämlich eine „witzige, nachdenkliche, musikalische, emotionale und politische Revue d’histoire“ auf die Beine zu stellen. Wobei Sergej Moya als Autor und Regisseur des Projekts die große künstlerische Verantwortung für das Gelingen übernommen hat. Ein Hintergrundbericht zur Produktion.

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Brainware statt Software

Selbstredend ist der 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung ein sehr wichtiger Termin für die öffentlich-rechtliche ARD. Rund um das Datum 3. Oktober musste ein Event-Programm her. Nun ist aber die emotionale Freude im Volk, die es einst rund um den Mauerfall gab, dokumentarisch mittlerweile ein recht ausgelutschtes Thema, weil es immer die gleichen Bilder zu sehen gibt. Als Glücksfall hatte sich indessen gezeigt, dass die ARD-Manager rechtzeitig die dritte, sechsteilige Staffel für die fiktionale Serie „Weissensee“ in Auftrag gegeben hatten, die sich prima für eine 20.15 Uhr-Event-Programmierung (an drei Tagen jeweils in Doppelfolge) anbot, um den Weg in die Wiedervereinigung an Hand von Einzelschicksalen in der ehemaligen DDR dramaturgisch spannend zu erzählen. Hier wird aber nur der kurze, wenn auch historisch höchst bedeutsame Zeitraum von der Grenzöffnung am 9. November 1989 bis zum Januar 1990 behandelt, als die potentielle Wiedervereinigung politisch öffentliches Thema wurde. Wo bleibt aber der große historische Bogen, und wo die emotionale Verbindung der Sichtweisen von in der DDR (Ost) und BRD (West) geborenen Menschen?

Projektidee

Es war im Januar oder Februar dieses Jahres, wie sich MDR-Unterhaltungschef Peter Dreckmann erinnert, als er die große Ehre hatte, dass ihn Jan Liefers in seinem Büro besuchte. Liefers schlug ihm das Projekt „Soundtrack Deutschland – Liefers und Prahl ermitteln“ vor. Liefers, der beliebte „Tatort“-Kommissar, ein Ossi, hatte bereits seinen ebenso beliebten Kollegen Axel Prahl, ein Wessi, mit ins Boot geholt. Beide sind nicht nur Schauspieler, sondern auch begeisterte Musiker mit eigenen Bands. Liefers beispielsweise hat die hohe Relevanz, die Musik in seinem Leben spielt, auch in seiner Autobiografie „Soundtrack meines Lebens“ niedergeschrieben und zusammen mit dem rührigen Autor und Regisseur Sergej Moya, recht erfolgreich für die MDR-Unterhaltung als Musikdokumentation verfilmt. Moya, geboren 1988 in Ost-Berlin, quasi ein Kind der Wiedervereinigung, hat auch bei Soundtrack Deutschland die kreative Verantwortung für die Realisierung übernommen. Als Backing für das Projekt hatte Liefers Jörg A. Hoppe und Simone Adelsbach im Gepäck, die man als wohl versierteste Produzenten im deutschen Musikbereich bezeichnen kann, und die nicht nur über einen riesigen einschlägigen Fundus an Archivmaterial, sondern über beste Beziehungen zu allen hiesigen Musikern verfügen, die Rang und Namen haben. Sie hatten bereits im letzten Jahr die eher abstrakte Idee, Musik, die die Kraft der Emotionen repräsentiert, in den Mittelpunkt eines Films zu stellen, der die gesellschaftlichen Entwicklungen von Deutschland in seiner Trennung und Wiedervereinigung erzählt. Mit Hoppe hat Liefers die für das Projekt verantwortliche Produktionsfirma Radio Doria Film GmbH gegründet, die gleichwohl zusammen mit DEF Media von Hoppe/Adelsbach zusammenarbeitet.

Dreckmann war von der Projektidee, die Liefers ihm vorgetragen hatte, spontan begeistert: „Ich wollte es machen“. Besonders reizte ihn am Projekt, dass mit Jan Liefers und Axel Prahl „extrem populäre Protagonisten“ – und obendrein ein Ossi und ein Wessi – die deutsche Musikgeschichte aus ihren jeweiligen Blickwinkeln erzählen. Ein Umgang mit dem Thema, der auf „neuartige Machart fiktionale und dokumentarische Elemente zu einer sehr unterhaltsamen, informativen, nachdenklichen und witzigen Mischung verwebt“. TV-Unterhaltung, die mit ernsthaften historischen Informationen verbunden ist, „wie Gesellschaft Musik beeinflusst und Musik Gesellschaft“, welche Unterschiede und Gemeinschaften es hinsichtlich der Musikentwicklung in den getrennten Deutschlands gab und wie die Situation heute, im seit 25 Jahren wieder vereinten Deutschland, ist. Angetan vom Projekt war Dreckmann als Unterhaltungschef natürlich auch, weil sich eine Menge renommierter Musiker bereit erklärt hatten, als Interview-Partner in der Dokumentation aufzutreten, die bei Jung und Alt auf Interesse stoßen, etwa Herbert Grönemeyer, Silly, Campino, Nena, Udo Lindenberg, Peter Maffay, die Puddhys, Judith Holofernes, Annette Humpe, Clueso, Rammstein oder Scorpions.

Um die anspruchsvolle und entsprechend teure Dokumentation, die über 55 Jahre Musikgeschichte in Deutschland berichtet, finanzieren zu können, suchte Dreckmann Kooperationspartner unter den Unterhaltungs-Chefs weiterer ARD-Sender. Es zeigte sich, dass seine Kollegen genauso begeistert wie er selber waren, weshalb auch überraschend schnell ein „wunderbarer Sendeplatz“ ausfindig gemacht werden konnte: Die Dokumentation mit den Quotenzugpferden Liefers/Prahl wurde als Dreiteiler (jeweils 45 Minuten) geplant, die jeweils um 21:50 Uhr im Anschluss an die Doppelpack-Ausstrahlung von „Weissensee“ auf Das Erste kommt und somit mit zur „Event-Programmierung“ gehört.

Als wir Mitte August mit Dreckmann sprechen, brennt seine Begeisterung für das Projekt zwar noch lichterloh, doch gleichzeitig räumt er ein, dass man noch abwarten müsse, ob die Mischung von den Spielszenen, in denen Liefers und Prahl die Musikgeschichte unterhaltsam vermitteln, den Musiker-Interviews und dem riesigen historischen Archivmaterial im Ergebnis tatsächlich eine so gelungene schöne Geschichte wird, die auch die Zuschauer begeistern kann. „Es ist ein einmaliges Projekt“, sagt Dreckmann, wohlwissend, dass einmalige Projekte Experimente sind, von denen man erst hinterher weiß, ob und wie gut sie gelungen sind. Grundsätzlich sei es so, „dass, wenn man etwas Neues macht, daraus auch wieder etwas Neues erwachsen kann. Das ist, was Medienmachern Spaß macht. Da hoffen wir immer drauf“, erklärt Dreckmann seine Philosophie. Und er findet wunderbar, wie gerade der Autor und Regisseur Sergej Moya für das Projekt leidenschaftlich brennt.

Magische Momente im Visier

Szenenwechsel von Leipzig nach Berlin: Die Postproduktion bei Radio Doria und DEF Media läuft Mitte August auf Hochtouren. Nach rund sechsmonatiger Recherche hat das fünfköpfige Musikredaktions-Team nach den Vorgaben des von Moya verfassten Drehbuchs „alles zusammengesammelt und beschrieben, was uns relevant erschien, und was die wichtigsten Eckpfeiler in der Musikgeschichte sind“, erklärt Moya. Neben dem Hoppe-Archiv sind als Quellen insbesondere das Deutsche Rundfunkarchiv benutzt worden, in dem das gesamte Bildmaterial des DDR-Fernsehen eingelagert ist, die Archive der ARD sowie besonderes Material von privaten Lizenznehmern. Der Dreh der Spielszenen mit Liefers und Prahl in Berlin ist genauso im Kasten wie die Interviews mit den vielen Musiker-Persönlichkeiten. Man hat dabei ein Equipment genutzt, das mit dem vom „Tatort“ vergleichbar ist. Es kam die Arima Arri zum Zuge. Selbst bei den Interviews wurde mit gleich zwei Kameras recht aufwändig gedreht.

Für Jan Liefers und Axel Prahl als Emotions-Ermittler in Sachen deutscher Musikgeschichte hat man sich eine Glitzergarderobe ausgedacht. „Das ist die Uniform für dieses Format“, erklärt Moya: eine Art „Zwischensprache“. Damit wollte man einen „eigenen Look“ schaffen, der signalisiert, dass Liefers und Prahl nicht als Privatmenschen auftreten, sondern als „Zeitreisende“ in der Musikgeschichte und als unterhaltsame Gastgeber einer revue d’histoire, in der sie „von einem Thema zum anderen führen oder eine reflektierende Abbindung bringen“. Zwar gab es für den Dialog, den Liefers und Prahl führen, einen roten Faden im Drehbuch. Aber „die beiden haben mit ihrem Talent die Vorlage weiter gesponnen und oft ist es gerade dann spannend geworden, wenn beide zu improvisieren begannen“, erinnert sich Regisseur Moya an den Dreh. Er betont gleichzeitig, dass die Geschichten, die die Musiker erzählen „genauso im Vordergrund stehen wie die Spielszenen“ mit Liefers und Prahl.

Was genau ist denn die besondere Herausforderung, um dem vielschichtigen Material, das miteinander verwoben werden muss, in der Postproduktion Herr zu werden? Moya: „Wir brauchen viel Zeit!“ Was er damit meint: Es ist nicht eine effektive Software, sondern die Brainware, die den kreativen Prozess steuert. Gerade im Prozess der Postproduktion „sind wir selber Ermittler und müssen gucken, Where is the beef?“ weiß Moya. Ermittelt wird: „Wo liegt die Relevanz und wie klingt der Film“? Beides muss zusammengebracht werden wie auch die monatelang zusammen recherchierten Themen, Fakten und Bilder. „Es geht um die Suche nach dem magischen Moment“.

Film sei „ein vielschichtiger, feinfühliger und filigraner Prozess“. Die spezielle Herausforderung bei „Soundtrack Deutschland“ liege „in der richtigen Gewichtung bei der Auswahl historischer Fakten und der Musik, die dazu erklingen soll“. Wobei die Musik zentral im Vordergrund stehe und die Geschichte vorantreiben soll. Ein spannender Prozess, meint Moya, der viel Spaß macht. Wobei er sich aber auch bewusst ist: „Musik ist emotional und individuell, was der eine toll findet, findet der andere furchtbar“.

Moya spielt mit vielen Gedanken und Fakten rund um das „Faszinosum, dass Musik viele Umbrüche in der Gesellschaft bewirkt hat und umgekehrt“. Er schaut dabei auf historische Fakten. Beispiel: Schwabinger Krawalle. 1962 nahm die Münchner Polizei fünf Teenager fest, nur weil sie auf der Straße russische Lieder gespielt hatten. Woraufhin fünf Tage lang ein Aufstand von Zehntausenden gegen die Polizei als Establishment entbrannte.

Ein Thema, das sich im Format durchziehe, sei, „dass die deutsche Musiklandschaft stark beeinflusst ist von Menschen, die von draußen kommen: Emigranten und singende Gastarbeiter, die sich mehr und mehr in die Herzen der Menschen gesungen haben“. Moya: „Musik hat Bezüge zur Biografie eines Menschen“. Und Musik rufe Erinnerungen wach. Gerade in der heutigen Zeit, in der Politik und Menschen mit schwierigen Fragen konfrontiert werden, wie wir beispielsweise mit den großen Flüchtlingsströmen umgehen sollen, „wo die Empathie verankert sein soll, da findet Musik oft einen Zugang und die einfachere Antwort“. Peter Maffay beispielsweise schildere im Interview toll, wie er mit seiner Familie selber als politischer Flüchtling aus Rumänien in die BRD übersiedelte – und zieht den Vergleich in die Gegenwart zu den Menschen, die versuchen nach Europa zu kommen. Oder Herbert Grönemeyer, der Hintergründe zum „Heute die! Morgen du!“-Festival gegen rechtsextreme Gewalt 1992 erzählt und über den Protest der G8-Gegner mit dem ´P8´-Gipfel-Konzert 2007 wie über sein jüngstes Engagement in Dresden.

In der DDR, so weiß Moya, war Musik ein Instrument des Machtapparats, um die Menge zu halten und zu kontrollieren, weshalb bestimmte Musik verboten wurde. Aber auch in der BRD war beispielsweise Rock- und Beat-Musik wie von Elvis und den Beatles zunächst auf die Ablehnung des Establishments geprallt. Aber schon als Deutschland noch getrennt war, habe es mit dem Song „Über sieben Brücken muss du gehen“ eine emotionale Verbindung zwischen Ost und West gegeben. Das wiedervereinte Deutschland sei Mitte der 90er Jahre das Land der Welt mit den meisten Rechts-Rock-Bands gewesen. Mit diesem historischen Fakt führe die Dokumentation nach Lichtenhagen (Rostock), wo mit Marteria ein deutscher Rapper und Hipp Hopp Rocker aufgewachsen ist, der heute die Charts anführt. Er berichtet im Interview sehr eindrucksvoll, welche Rolle Musik für die Identitätsfindung von Jugendlichen hat – und auf welche Seite man sich schlägt.

Der erste Teil der Dokumentation beginnt mit dem großen Konzert, das David Bowie 1987 in Westberlin wenige Meter von der Mauer entfernt gegeben hat. Da haben die Ostfans, die an die Mauer geströmt waren, erstmalig „Die Mauer muss weg“ gefordert. Während das Konzert noch läuft, so erzählt Moya, tauchen Jan Liefers und Axel Prahl wie aus dem Nichts in der Speisekammer einer DDR-Familie in Ost-Berlin auf, in der der DDR-Vater gerade seine Gewürzgurken sucht, stattdessen aber die beiden Herren in der Glitzergarderobe findet. Die Ermittler Jan und Axel gucken den Zuschauer in Shakespeare-Manier an und steigen in die Geschichte ein. Auf die Frage, ob er, Moya, in dem Projekt viel mit technischen Tricks arbeite, antwortet er verwundert: „Was soll das heißen? Film ist doch ein einziger technischer Trick“. Recht hat er. Selbst Computer und Software gehören seit langem zum selbstverständlichen Handwerkszeug.Von Dreckmann ist indessen zu erfahren, dass Teil der Besonderheit des Projekts ist, dass auch das Archivmaterial komplett nachbearbeitet wird, so dass es HD-tauglich ist. Steht das ambitionierte Projekt „Soundtrack Deutschland“ für einen neuen öffentlich-rechtlichen Unterhaltungstrend, zumindest dann, wenn es guten Erfolg beim Publikum ergattern sollte? Dreckmann antwortet diplomatisch: „Das Schöne am Job eines Unterhaltungschefs ist, dass man eine große Bandbreite an Themen und Sujets hat. Ich hänge genauso an den Shows mit Florian Silbereisen, die wir fünf Mal im Jahr erfolgreich ins Erste einbringen. Wir werden als MDR im nächsten Jahr die große Dokumentation zum Geburtstag von Udo Lindenberg machen. Der Anteil der Musikdokumentationen, an dem was wir insgesamt machen, ist aber gering. In diesem Jahr machen wir Soundtrack Deutschland und eine weitere Doku – aber 20 Musik-Shows, den Bambi genauso wie die Goldene Henne. Für den MDR ist Musik traditionell ein sehr wichtiges Thema. Mir ist es wichtig, dass wir es ein Stück weit aufmachen für andere Erzählformen. Nicht nur die große Show. Musikdokus ist nicht unser Kerngeschäft. Es ist ein kleiner, aber sehr feiner Teil dessen, was wir tun.“

Gute Brainware: „Tatort-Kommissar“ Liefers hat auch als Projektinitiator im wahren Leben die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt ermittelt, zusammen mit seinen Produktionspartnern – leider soll es dann im Projekt geknirscht haben.

Erika Butzek

MB 6/2015

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