Die Erfüllung eines Kindertraums

Märchen, gemeint sind echte Märchen – nicht etwa Telenovelas – boomen neuerdings im Fernsehen und im Kino, vor allem zur Weihnachtszeit. Nachdem die ARD mit Märchen vor drei Jahren erstmals einen bahnbrechenden Quotenerfolg an den Weihnachtsnachmittagen feiern konnte, hat sie mittlerweile ein properes Paket von insgesamt 22 jeweils 60-minütigen aufwändig produzierten Filmen herstellen lassen. Neben den darin enthaltenen vier Neuverfilmungen, die sich von den 200 Jahre alten Geschichten der Brüder Grimm inspirieren lassen, kommt in diesem Jahr mit dem Vierteiler „Nils Holgerssons wunderbare Reise“ noch ein besonderes Märchen-Event hinzu. dank neuer technischer Möglichkeiten konnte er als Realfilm realisiert werden. Damit haben sich Kameramann Philipp Timme und viele andere im Produktionsteam einen Traum aus ihren Kindertagen erfüllt.

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Die Erfüllung eines Kindertraums

Die phantasievolle Idee, einen abenteuerlustigen Buben, der zur Strafe für seine Unartigkeit in einen winzigen Wicht verwandelt wird, auf dem Rücken einer Gans über wunderschöne Landschaften in Schweden fliegen zu lassen, hat Selma Lagerlöf ab 1902 in einem Roman niedergeschrieben. Sie hatte es weiland eigentlich als Schulbuch konzipiert, um Heimatkunde und Moral für schwedische Schüler lebendig zu machen. Tatsächlich hat das 1906 veröffentlichte Märchen dann weltweit bei Kindern und ihren Eltern Furore gemacht und wurde 1979 in einer japanischen Zeichentrickserie neu verpackt – und so auch als Film erfolgreich gemacht.

Vor rund drei Jahren sind dann Claudia Schröder (Bremedia Produktion GmbH) und NDR-Redakteurin Angelika Paetow auf die Idee gekommen, diesen „aufregenden, abenteuerlichen Stoff“ ganz neu und modern als Realverfilmung aufzulegen, weil es die technischen Aufnahmemöglichkeiten einschließlich der „mittlerweile bezahlbaren visuellen Effekte von Compositing bis CGI heute erlauben“, wie Schröder sagt.

Dabei war von Anfang an geplant aus „Nils Holgerssons wunderbare Reise“ ein „Familienereignis“ zu machen, einen Vierteiler mit insgesamt 240 Minuten, den Das Erste im Nachmittagsprogramm am ersten und zweiten Weihnachtstag als Abenteuerfilm für die ganze Familie bringt. Möglicherweise wird daraus auch noch eine verkürzte Kinofassung entstehen. Wobei wohl erst abgewartet wird, ob sich die jüngst gestartete ARD-Kinokoproduktion „Tom Sawyer“ nach dem Mark-Twain-Klassiker an der Kinokasse erfolgreich zeigt.

Nachdem das Bremedia Projekt in Kooperation mit Film I Väst und Fladen Film (Schweden) vom NDR genehmigt war, wurde in einem ersten Schritt der in 54 episodisch aufgebaute Lagerlöf-Roman in eine völlig neue Dramaturgie mit einem großen Spannungsbogen umgeschrieben, woran vier Autoren (David Ungureit, Gerd Lurz, Meibrit Ahrens, Martina Müller) beteiligt waren. Schnell stellte sich heraus, dass allein die Autoren nicht beurteilen konnten, wie genau die einzelnen Szenen tatsächlich in einer Realverfilmung umgesetzt werden konnten.

Zahlreiche Herausforderungen

Es waren Herausforderungen auf verschiedensten Ebenen zu meistern. Beispielsweise: Weil der 13-jährige Nils (gespielt von Justus Kammerer, der bereits mit Tom Cruise in „Operation Walküre“ zu sehen war) zu einem Wicht mutiert, der kleiner als ein Grashalm ist, musste festgelegt werden, wie dieses Größenverhältnis zu echten Tieren wie Gänsen und Füchsen, Pflanzen, Menschen und Gebäuden kontinuierlich in der Dramaturgie visualisiert werden kann. Zweitens mussten die Tiere, die neben Nils wichtige Rollen übernehmen, in langwierigem Tiertraining erst einmal für ihren Filmauftritt vorbereitet werden, wobei Autoren natürlich nicht wissen können, welches reale Tierverhalten dann vor der Kamera tatsächlich machbar ist. Drittens: Nils als Wicht hat die besondere Gabe, die Sprache der Tiere zu verstehen, auch von denen übrigens, die er noch als großer Junge versucht hat, mit der Steinschleuder oder Fußtritten zu erwischen. Also mussten die Tiere sprechen lernen.

Sie mussten so gefilmt werden, dass ihnen im Nachhinein eine digitale Mouth-Animation aufgesetzt werden konnte. Dafür wurde bereits im Vorfeld des Drehs eine sprachliche Vorlage produziert, die zum Beispiel von Bastian Pastewka, Katja Riemann, Ben Becker und Yvonne Catterfeld zunächst ohne Bildvorlage gesprochen wurde. Viertens: Bei den Szenen, in denen das Verhalten der Tiere selbst durch Training und Tricks am Set nicht so manipuliert werden konnte, um es in die Dramaturgie ein zu passen, mussten mechanische Tierpuppen her, so genannte Animatronics, deren Verhalten im Film stetig mit dem der realen Tiere abgeglichen werden musste. Fünftens war es unter anderem anspruchsvoll, eine Lösung dafür zu finden, wie der reale Nils auf einer digital animierten Gans zusammen mit echten Wildgänsen über reale Landschaften fliegen werde.
Es war „nicht eine einzelne Herausforderung“ von der Stoffentwicklung (der auch noch ein tüchtiger Schuss Humor neben seiner Modernität und einer märchenhaften Liebesgeschichte hinzugefügt worden ist) bis zur Umsetzung. Es gab vielmehr das Risiko, dass zum Schluss auch alles zusammen passen werde, weiß Schröder heute. „Aber wir haben Glück gehabt“, sagt sie.

So empfindet sie es sogar als Glück, dass das Projekt um ein Jahr verzögert worden ist, weil die Finanzierung auf schwedischer Seite plötzlich kippte und dafür erst einmal neue Finanziers gefunden werden mussten. Nordmedia und die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein sind dann eingesprungen, um dem sehr knappen Projektbudget ein bisschen mehr Volumen zu geben. Die Zeitverzögerung hatte dann aber den Vorteil, dass das dicke Storyboard, das der Produktion zu Grunde liegt, noch einmal Szene für Szene von allen maßgeblich an der Produktion Beteiligten – auch zum Beispiel von Tiertrainern, Kameramann, Postproduktion – Bild für Bild justiert werden konnte. Auch hatte sich zwischenzeitlich herausgestellt, wie Schröder berichtet, dass die trainierten Füchse, weil sie eigenwillig gealtert waren, für ihre Rolle im Film nicht mehr zu gebrauchen waren. Man konnte sich dann aber wegen der Zeitverzögerung durch die Finanzierungslücke zahme Füchse aus einem Forschungsprojekt in Sibirien besorgen, die dann einfacher zu trainieren waren. Auch Eichhörnchen beispielsweise, so hat Schröder von Tiertrainer Marco Heyse gelernt, lassen sich nicht trainieren: „bis die Kamera läuft sind sie schon weg“. Von ihm erfuhr Schröder ebenso, dass „eine weiße Gans nicht zusammen mit den grauen Wildgänsen fliegt“, es sei denn es handelt sich um eine trickreiche Märchenproduktion.

Schröder lobt unter anderem neben Regisseur Dirk Regel, der „mit seiner positiven Energie ein komplexes Team zusammen halten konnte“, den Filmarchitekten Dave Marshall, der für das Größenverhältnis von Wicht Nils zu seiner Umgebung verantwortlich war, sowie John Nolan und sein Team aus London für seine Animatronics, vor allem für die super optisch nachgebaute – und ferngesteuerten Gänsegruppe, Phil Eason, den exzellenten Puppenspieler (z.B. Sesamstraße) und last but not least Kameramann Philipp Timme, „ein Meister im Einsatz von Spezialeffekten“, wie Schröder sagt.

900 verschiedene visuelle Effekte

„Aus mehreren Gründen“, so erklärt Timme, sei „Nils Holgerssons wunderbare Reise“ für ihn „eine besondere Produktion“. Zuallererst hebt er hervor: „Ich kenne das Buch aus meiner Kindheit. Meine Eltern haben es mir vorgelesen, und deshalb liegt mir die Produktion am Herzen. Als ich gehört habe, dass Nils Holgersson als Realverfilmung geplant ist, habe ich gleich gewusst, ich muss das unbedingt machen, es ist ein Traum für mich“. Das andere Besondere für ihn an der Produktion sei, dass, wie ja auch Schröder betont, bei der Verfilmung verschiedene Herausforderungen ineinander gegriffen haben: Der Dreh mit Kindern, mit Tieren und ungewöhnlich vielen – schätzungsweise – 900 verschiedensten visuellen Effekten. Das ganze für ein Budget, für das man in Hollywood nicht einmal die Preproduction gemacht hätte, fügt Timme lachend hinzu, um sich sofort zu korrigieren: „Es ist ein deutscher Fernsehfilm“. Mit entsprechend engem finanziellem Rahmen.

Speziell als Visual-Effekts-Kameramann kann Timme auf langjährige Erfahrungen zurückgreifen. So war er als Trickkameramann schon Ende der 90er-Jahre an der Hollywood-Produktion „Independence Day“ beteiligt, die 1997 mit dem Oscar für „Best Visual Effects“ ausgezeichnet wurde. Und der US-Katastrophenfilm „Armageddon“, bei dem Timme ebenso bei seinem Aufenthalt in den USA mitgemacht hat, erhielt für seine tollen Effekte 1999 eine Oscar Nominierung.
Er habe damals viel zum Einsatz von visuellen Effekten in Amerika gelernt, sagt Timme. Aber natürlich entwickle sich die Technologie dynamisch weiter, „vor allem durch die immer schnelleren Rechner in der Postproduktion, die immer besser und anspruchsvoller wird, so dass man ständig am Ball bleiben muss“. Er habe dann das Glück gehabt, so Timme, auch in Deutschland zwischendurch immer auch mal wieder einen Film drehen zu dürfen, in dem visuelle Effekte eine tragende Rolle spielen. Um als Kameramann das Optimum aus diesen visuellen Effekten herausholen zu können, sei es insbesondere wichtig, sich auf dem Laufenden zu halten, wie sich die Möglichkeiten in der Postproduktion weiter entwickeln. Speziell bei der Realisierung von „Nils Holgersson“ sei die gute, enge Zusammenarbeit aller Beteiligten positiv hervor zu heben. So sei beispielsweise die Münchner Postproduktionsfirma D-Facto Motion mit ihrer fachlichen Kompetenz bei der Überarbeitung des Storyboards beteiligt gewesen, das von Regisseur Regel zusammen mit Timme in langwieriger Vorbereitungszeit, sozusagen als „Bibel“ für die Produktion, erarbeitet worden ist.

Ebenso begeistert ist Timme von den zwei Jungens aus Hamburg, Philip Scholz und Florian Gregor, die das Storyboard immer wieder neu „toll gezeichnet“ haben. Für ihn selber, so Timme, sei es sehr von Vorteil gewesen, „in allen Gewerken eingebunden“ gewesen zu sein. Man habe im Team sehr viel kommunizieren müssen, um die Vision umsetzen zu können. Nämlich: Einen möglichst glaubwürdigen Film zu schaffen, der den Charme des Kinderbuchs aufrechterhalte. „Die Balance zwischen einem technisch anspruchsvollem Film zu halten, der gleichzeitig einen märchenhaften Charakter hat, das war die große Herausforderung, fasst Timme zusammen.

Warum wurde für „Nils Holgersson“ als Kamera die Red MX auserkoren? Es war, so erklärt Timme, zum Zeitpunkt des Drehbeginns die einzige Kamera, die es erlaubte, im Nachhinein zu fast 200 Prozent in das Bild hinein zu zoomen, weil sie in 4K aufzeichnet. Will heißen: Man kann starre Einstellungen drehen und später in der Postproduktion in das starre Bild hereinzoomen, und so das Bild nachträglich mit einem Schwenk versehen. Timme nennt als Beispiel eine Szene, in der der kleine Wicht Nils über den Esstisch rennt. Er erklärt: „Wenn ich zunächst den Esstisch im so genannten Lock Off mit einer starren Kamera real drehe, kann ich dann im Green Screen-Studio den rennenden Nils im verkleinerten Maßstab vor grün filmen, auch mit einer starren Kamera. Anschließend kann ich beide Aufnahmen mit ein paar Bearbeitungstricks in der Post übereinander legen. Und ich kann dann die Bewegung, die ich tatsächlich haben wollte, nachträglich rein zoomen, also durch eine Vergrößerung des Bildes mit einem Schwenk versehen. Hätte ich den Schwenk bereits am Set selbst gemacht, so hätte ich in der Postproduktion Probleme gehabt, die zwei verschiedenen Einstellungen über einander zu legen, weil nicht gewährleistet gewesen wäre, dass die beiden Schwenks übereinstimmen. Zwar hätte man das mit einer Motion Control Kamera bewerkstelligen können, die ist aber sehr teuer und aufwändig und muss am Set programmiert werden, was viel Zeit kostet, die wir nicht hatten“.

Das Beispiel verdeutlicht, warum für die Produktion ein detailliertes Storybaord für alle Einzeleinstellungen erforderlich war. Es gab „viele Tricks, die alle ihre eigenen Herausforderungen hatten“. Wozu auch die Schlüsselszene zählt, in der der echte Nils auf einer digital animierten Gans zusammen mit echten Gänsen über wunderschöne Landschaften fliegt. Timme: „Man musste sich an das Projekt wie an einem Flickenteppich rantasten und schauen, wie die unterschiedlichsten Elemente hinterher zusammen passen“. Man hatte beim Dreh drei Red MX-Kameras an Bord, zwei für die First Unit, eine für die Second Unit von Kameramann Alex Lindén, der ausschließlich Landschaft und die realen Tiere drehte. Hinzu kamen auch noch Flugaufnahmen und der Dreh von Hintergründen für die fliegenden Gänse, die mit einer Cineflex aufgenommen wurden. In Schweden, so erzählt Timme, wurden die überdimensionierten Sets im Studio aufgebaut: Baumstämme, Moos, Felsen – alles fünfmal so groß als in Wirklichkeit. In Hamburg wurden die Green Screen-Aufnahmen gedreht und schließlich wurde alles in München in der Postproduktion von D-Facto Motion zusammen gebracht.

Digitalkameras im Umbruch

Ob er sich noch einmal für die Red MX entscheiden würde, würde der Dreh erst heute beginnen, ist sich Timme nicht sicher. Vielmehr müsste man „neu schauen, was es aktuell an digitalen Kameras auf dem Markt gibt. Sie entwickeln sich alle so schnell weiter, dass ungewiss ist, ob die Red MX in der Form noch aktuell ist“. Möglicherweise käme heute eher die Alexa oder auch eine Kamera von Sony in Frage. Man müsste sich wieder völlig neu orientieren, weiß Timme: „Alles ist noch im Umbruch“. Ein bisschen sehne er sich einerseits wieder nach einem Standard, wie es ihn mit der klassischen Filmkamera gab. Andererseits, so Timme, „sind wir Kameramänner heute in einer glücklichen Situation – es ist eine wunderbare Zeit, um Filme zu drehen. Es gibt noch 16mm, es gibt noch 35mm und es gibt verschiedenste digitale Formate. Man hat heute eine große Auswahl an Werkzeugen“, meint Timme, der in seiner aktuellen Produktion für den Hessischen Rundfunk (HR) mit einer Alexa dreht.

Kameramann zu sein, ist für Timme sein Traumberuf. Es kann möglich sein, dass ihn schon als Kind die Geschichte von „Nils Holgersson“ so sehr begeistert hat, weil in ihr so viele verschieden Perspektiven verankert sind, die ja auch irgendwie etwas mit der Bildgestaltung zu tun haben: Die Welt einmal aus der Vogel- bzw. Gänseperspektive zu erleben und dann auch wieder aus der gegenteiligen Sicht, als kleiner Wicht von ganz unten, der sich durch mannshohe Grashalme schlagen muss und Tiere und Menschen als Riesen erlebt.

Natürlich wird „Nils Holgersson“ auch im schwedischen Fernsehen gezeigt. Produzentin Schröder ist sich mittlerweile sicher, dass die Produktion auch in der Weltvermarktung erfolgreich sein wird. Die wird dann wohl von der Telepool übernommen werden, die wie Bremedia zur Bavaria-Gruppe gehört. Und auch Frank Beckmann, NDR Programmdirektor Fernsehen, ist ganz stolz auf die Produktion: „Welch eine Geschichte!“, sagt er. „Es geht um Freundschaft, um Verantwortung, um Selbsterkenntnis – kurz um das Abenteuer erwachsen zu werden“. Der Flug über die großartige Landschaft Schwedens werde „zum Symbol der Reise, die Tiere und Menschen machen müssen, um im Lebenskampf zu bestehen“. Also ein echtes Familienprogramm, das man Weihnachten nicht verpassen sollte. Vormittags gibt es dann auch noch drei Making-Offs zur Produktion zu sehen.
Erika Butzek
(MB 12/11_01/2012)