Die Mensch-Maschine

„#Stuttgart 2019: Neue Zeichen setzen“ lautete das Motto der Turn-Weltmeisterschaft 2019 in Stuttgart. Technische Akzente setzte die Einführung der 3D-Lasertechnik: Mit Hilfe von drei Kameras wurden Übungen in Tausende Einzelbilder zerlegt und so plastische, dreidimensionale Bilder erzeugt. Jeder Winkel, jede kleinste Abweichung von der Norm wurde unter Berücksichtigung des Schwierigkeitsgrades einer Übung exakt erfasst. Das Ziel: Mehr Fairness, Transparenz und Gerechtigkeit für die Athleten. Heißt das: Algorithmen und 3D-Laser könnten bald das menschliche Auge von Wertungsrichtern ersetzen?

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Die Mensch-Maschine

Triple-Double? Double-Double? „All eyes on Biles” hieß es bei der 49. Weltmeisterschaft im Kunstturnen vom 4. bis zum 13. Oktober in Stuttgart. Die 22-jährige, nur 1,42 Meter große US-Amerikanerin Simone Biles überragte in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle alle. Zwei Turn-Elemente, Triple-Double und Double-Double, wurden sogar nach der Rekord-Weltmeisterin benannt: Der Doppelsalto rückwärts mit drei ganzen Schrauben beim Bodenturnen sowie der Doppelsalto mit Doppelschraube vom Schwebebalken. Sprung und Schnellkraft, verbunden in Vollendung.

Bei 14 Veranstaltungen an zehn Tagen konkurrierten beim „Wembley des Turnens“ rund 600 Turnerinnen und Turner aus 80 Nationen um Medaillen und die Olympia-Qualifikation 2020. Die gute Nachricht: Sowohl Frauen-, als auch Männerriege des Deutschen Turnerbundes haben ihre Tokio-Tickets gelöst, wenn es auch bei den Männern eine Zitterpartie war. Die deutschen Turnerinnen dagegen verpassten hauchdünn das Teamfinale der besten acht Mannschaften, am Ende fehlten 0,034 Punkte. Wahrlich eine Maßarbeit: Wie sollten Wertungsrichter akrobatische Luftfiguren à la Salti oder Pirouetten in Sekundenschnelle erfassen und fair bewerten? Die Lösung: 3D-Lasertechnik, die plastische Bilder von Turnübungen lieferte. Bei der Heim-Turn-WM feierte das „Judging Support System“ sein Debüt. Die Mission: Schwierigkeitsgrade von Turnübungen fairer einschätzen und auf Einsprüche von Athleten gerechter reagieren zu können. Der Testlauf galt für vier Disziplinen: Pauschenpferd, Ringe, Sprung Frauen und Sprung Männer.

Big Data beim Turnen

Für Morinari Watanabe, Präsident des Fédération Internationale de Gymnastique (FIG), ein Schritt in die Zukunft. „Wir sollten immer an die Turnerinnen und Turner denken. Sie widmen ihre Jugend dem Sport, der sie träumen und aufblühen lässt. Wir können es nicht zulassen, dass all diese Jahre mit harten Anstrengungen und voller Träume durch nur einen einzelnen Beurteilungsfehler zerstört werden. Kontroversen bei der Bewertung von Turnübungen sollten der Vergangenheit angehören und die von Fujitsu Limited entwickelte Technologie das Vertrauen in faire Beurteilungskriterien stärken.“ Seit 2017 arbeitete Fujitsu Limited gemeinsam mit der FIG an der Entwicklung eines Systems zur Beurteilungsunterstützung für Turnübungen. Ein langer Weg: Bei der Turn-WM 2017 in Montreal wurden zahlreiche Wettbewerbsdaten erfasst, bei der Turn-WM 2018 in Doha erfolgte intern ein Technik-Check des Systems. Mit Erfolg. „Nach einigen Testläufen auf von der FIG veranstalteten Wettbewerben hatte das Exekutivkomitee der FIG entschieden, das System bei der Turn-WM 2019 in Stuttgart erstmals offiziell einzusetzen“, freute sich Hidenori Fujiwara, Head of Sports Business Development Division II bei Fujitsu Limited in Japan. Mehr Fairness, Gerechtigkeit und Transparenz für die Athleten sollte die moderne Technologie ermöglichen. Der Clou: Mit Hilfe von drei Kameras wurde jede Übung in Tausende Einzelbilder zerlegt. Als Ergebnis lag von jeder Übung ein plastisches, dreidimensionales Bild vor. „Der 3D-Lasersensor erfasst alle Bewegungen der Turner durch das Bereitstellen von zwei Millionen Laserimpulsen pro Sekunde. Dadurch konnte der Abstand zwischen dem Objekt und der Kamera genau gemessen und die Bewegung dreidimensional erfasst werden“, beschrieb Fujiwara das mikroelektromechanische System der 3-D-Lasertechnik. „Diese Genauigkeit wurde benötigt, um die Gymnastikleistung exakt analysieren zu können.“

 

360-Grad-Sicht

„Der springende Punkt des 3D-Sensors ist, dass die Technik eine 360-Grad-Sicht ermöglicht, zum Beispiel auch von oben und von unten. Mit dem menschlichen Auge der Wertungsrichter sind solche Nuancen von ihrer Position heraus nicht zu erkennen. Der 3D-Sensor und ein Algorithmus zur Skelett-Erkennung durch künstliche Intelligenz liefern dagegen eine exakte Bewegungsanalyse. Dazu gehören der Trennungsgrad der Knie, der Winkel des Kopfes oder des Rückens. Diese filigranen Bewegungen sind mit aktuellen Kameras nur schwer zu erfassen. Und selbst wenn wir es versuchen würden, wären Dutzende von Kameras erforderlich, um sie in unterschiedlichsten Winkeln zu platzieren, bis hin zur Decke.“ Pro Gerät wurden vier bis sechs Sensoren benötigt. „Die Genauigkeit war aufgrund der möglichen Videowiederholungen wesentlich besser und exakter als die Entscheidung basierend auf dem menschlichen Auge“, resümierte Fujiwara. „Es gab mehr als 800 technische Elemente bei Turnübungen der Männer und 500 für die Frauen-Disziplinen. Diese mussten durch künstliche Intelligenz vom System gelernt und gespeichert werden, und täglich kamen neue Elemente hinzu.“ Jeder Winkel, jede noch so geringfügige Abweichung von der Norm wurde, unter Berücksichtigung des Schwierigkeitsgrades einer Übung, präzise berechnet

Marktführer im Bewegungslernen

Der deutsche Weltklasse-Turner Marcel Nguyen, der die Turn-WM verletzungsbedingt verpasste, sah die 3D-Technik positiv. Allerdings seien Turner unterschiedlich gebaut, weshalb nicht alles bei jedem gleich aussehen könnte. Entscheidend sei, dass das 3D-Lasersystem den Ablauf des Wettkampfs nicht verzögern dürfte. Resultate in Echtzeit waren gefragt, so Fujiwara. „Wir waren stolz, dass das Ergebnis innerhalb der von den Wertungsrichtern geforderten Frist, das heißt innerhalb von einer Minute nach Beendigung der Turnübung, geliefert wurde.“ Macht die 3D-Lasermaschine menschliche Wertungsrichter obsolet? Vorerst nicht, zumal die Technik teuer ist und im Breitensport noch nicht finanzierbar scheint.

„Wir begrüßen den Vorstoß mit der 3D-Technik“, erklärte Jörg Hoppenkamps, Geschäftsführer Marketing und Event beim Schwäbischen Turnerbund. „Die Technikkosten werden sinken, sobald der Einsatz verbreitet wird. Schließlich ist die Bewegungserfassung/ Sensorik ein Thema der Zukunft und Turnen ist Marktführer für Bewegungslernen.“ Wohl wahr: Bis 2024 soll die 3D-Lasertechnik bei allen Wettbewerben der führenden Länder der 146 FIG-Mitgliedsstaaten eingeführt werden, zwei Jahre später sogar flächendeckend. Goldene Zeiten für die Athleten: Datenanalysen könnten zur Verbesserung ihrer Trainingsleistungen führen. Darüber hinaus könnten attraktive, 3D-animierte Inhalte auf Anzeigetafeln sowie für TV und Online helfen, den Turnsport noch populärer zu machen. „Unser 3D-System kann Bewegungen visualisieren und nummerieren und es ist so möglich, die Lösung auch auf andere Sportarten auszuweiten, insbesondere solche mit Punktwertungen“, gab sich Fujiwara optimistisch. „Wir streben auch den Einsatz unseres Systems in die Bereiche Gesundheitswesen und Rehabilitation an.“

 

30 Stunden live

Vorerst gab es die plastischen 3D-Bilder exklusiv für die Wertungsrichter. „Die Turn-WM war für den SWR und die Sportredaktion das größte Ereignis 2019“, freute sich Harald Dietz, Leiter der Hauptabteilung Sport beim Südwestrundfunk. Der SWR fungierte nicht als offizieller Host Broadcaster, sondern als produktionstechnischer Dienstleister für alle Übertragungen, auch das ZDF nutzte an seinen Sendetagen diese Produktionsmittel. Statt eines International Broadcast Centers (IBC) und eines gemeinsamen Studios gab es einen internationalen TV-Compound (TVC), moderiert wurde aus der Halle, nahe am Event. Die News- und Highlightbelieferung erfolgte über die FIG, die auch für die Übernahme des Signals zusammen mit der Europäischen Rundfunkunion (EBU) verantwortlich war. „Der SWR erstellte das TV-Signal und war Ansprechpartner vor Ort für die TV- und Radiosender, zum Beispiel für die Kommentatorenplätze, die beim internationalen Verband FIG Rechte erworben hatten.“

Zum Einsatz kamen 24 Kameras, darunter eine Schienenkamera an der Decke sowie eine frei fahrbare Kamera (Agito Dolly), ein Ü-Wagen für die Weltbild-Erstellung sowie ein weiterer Ü-Wagen mit drei bis vier Kameras für die nationale Abwicklung von ARD und ZDF. Als Basisformat für alle Übertragungen diente eine HD-Auflösung mit 1080i, die Tonqualität erfolgte in Stereo. „An technischem Personal waren cirka 50 Menschen im Einsatz, dazu kamen die Kamerafrauen und -männer“, berichtete Dietz. „Die japanischen Kollegen kamen mit noch mehr Menschen nur für ihre nationale Berichterstattung, das zeigt die Bedeutung der Veranstaltung.“ In Zahlen ausgedrückt: Der SWR berichtete mehr als 30 Stunden live von der WM im Ersten und den SWR-Angeboten sowie in Web-Only-Livestreams, dazu kamen zahlreiche Berichte und Zusammenfassungen in aktuellen Sendungen des SWR Fernsehens.

Die Mischung machts

„In den vergangenen 25 Jahren hat der SWR von keinem Event aus seinem Sendegebiet so umfangreich berichtet“, wusste Dietz. Nicht erst seit den Finals 2019 in Berlin Anfang August, einer Simultan-Veranstaltung von zehn Deutschen Meisterschaften, muss das Turnen keinen Vergleich mit anderen Sportarten scheuen. „Turnen zählt zu den klassischen olympischen Sportarten und gerade bei Olympia und Weltmeisterschaften ist die Sportart beim TV-Publikum sehr beliebt“, so Dietz. Beim Sportarten-Ranking im Sommer-Sport 2018 im Ersten belegte das Turnen – ohne König Fußball – mit 13 Prozent Marktanteil hinter der Leichtathletik (14,6 %) und Schwimmen/Turmspringen (13,9 %) den dritten Platz.

Zu berücksichtigen ist, dass das Turnen 2018 im Rahmen der European Championships in Glasgow und Berlin ausgetragen wurde. Für ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky ist die Mischung entscheidend, stellvertretend für das Erste gilt: „Uns ist eine vielfältige, abwechslungsreiche Berichterstattung sehr wichtig. Aus diesem Grund berichten wir pro Jahr über rund 50 verschiedene Sportarten im Rahmen unserer Sportschau-Sendungen.“

Leuchtende Medaillen

Spektakuläre Bilder bei Stufenbarren, Reck, Ringen oder Sprung lieferte ein ferngesteuerter Kamera-Dolly. „Wir hätten gerne eine Spidercam eingesetzt, um in der ganzen Halle aufsichtige Perspektiven zu erzeugen. Das lässt die niedrige Halle allerdings nur bedingt zu, daher kam eine an der Decke hängende Schienenkamera zum Einsatz, die vermutlich sogar effektiver war, weil sie näher über einige Geräte kam“, bilanzierte Dietz. „Wegen der spektakulären Flugelemente zählten das Reck bei den Männern und der Stufenbarren bei den Frauen sicher zu den attraktivsten Geräten.“ Mit dabei: Der Turn-WM-Botschafter Fabian Hambüchen als Experte und Co-Kommentator. „Er hat zu Stuttgart eine besondere Beziehung, weil er bei der WM 2007 die Goldmedaille am Reck gewonnen hat“, erzählte Dietz. Hochbetrieb auch in der Regie: „Die Regie einer Turn-WM ist eine große Herausforderung, da – außer bei den Einzelfinals – permanent an mehreren Geräten parallel geturnt wurde. Dabei den Überblick zu behalten, ist enorm anstrengend“, erinnerte er sich. „Durch die relativ kurzen Übungsteile bestand die Möglichkeit, mit mehreren Slow Motions die Attraktivität und Schwierigkeit der Sportart zu zeigen. Ein Nachteil war neben einer gewissen Un-übersichtlichkeit vor allem die relativ lang dauernde Wertung.“ Hier brachte selbst das „Judging Support System“ keine Zeitersparnis. „Natürlich haben wir uns von den 3D-Bildern alle mehr Objektivität versprochen“, brachte es Dietz auf den Punkt. „Da wir diese Bilder nicht gesehen haben, lässt sich der Pilotversuch für uns nicht beurteilen. Positiv war, dass die Bewertungen dadurch nicht noch mehr in die Länge gezogen wurden. Das hat gut geklappt.“

Einen ersten Vorgeschmack, was technisch alles möglich ist, lieferte die Turn-WM bei den Siegerehrungen: Die mit dem Partner Bernd Kußmaul kreierten Medaillen leuchteten beim Umhängen. Auf kleinstem Raum wurde in die 385 Gramm schweren Medaillen eine hochkomplexe Bewegungssensorik verbaut, die einen Leuchteffekt beim Umhängen aktiviert und auch das Band leuchten lässt. Geht die Energie zur Neige, kann über einen USB-Anschluss nachgeladen werden. Die Zukunft leuchtet in Gold-Silber-Bronze.

Wolfgang Scheidt

MB 4/2019

© Stuttgart 2019