Arthouse-Kino in der Klemme

Die grundlegenden Strukturveränderungen, welche die Film- und Medienbranche im Zuge des digitalen Wandels erfährt, spiegelten sich auch bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin wider. Während es mit klassischen Arthouse-Filmen immer schwieriger wird, größere Gewinne zu generieren, haben teure Mainstreamprojekte weltweit Hochkonjunktur.

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Arthouse-Kino in der Klemme

Ein großer Teil der über 400 Filme, welche die Berlinale im offiziellen Programm zeigt, kommt in Deutschland niemals ins Kino. Dabei hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass es für exotisch anmutende Goldene Bären-Gewinner wie dem türkischen Spielfilm „Honig“ oder dem iranischen Scheidungsdrama „Nader und Simin – Eine Trennung“ durchaus auch in Deutschland ein Kinopublikum gibt. Beide Filme verzeichneten mehr als 100.000 Besucher an den deutschen Kinokassen. Den diesjährigen Goldenen Bären-Gewinner „Child‘s Pose“ von dem rumänischen Regisseur Calin Peter Netzer sicherte sich der X Verleih noch vor der Preisvergabe für die Kinoauswertung in Deutschland. In diesem Spielfilmdrama überfährt ein Autofahrer aus der Oberschicht einen kleinen Jungen. Um ihn vor der Gefängnisstrafe zu bewahren, versucht die Mutter des Rasers, die Zeugen zu bestechen.

Um die preisgekrönte chilenische Wettbewerbskomödie „Gloria“ über die Partnersuche einer 58-jährigen Frau entbrannte in Deutschland sogar ein regelrechter Bieterstreit, aus dem der Alamode Filmverleih als Sieger hervorging. Der französische Weltvertrieb Funny Ballons konnte diesen Festival-Hit, für den Paulina García den Silbernen Bären als beste Darstellerin erhielt, auf dem European Film Market (EFM) in Berlin auf Anhieb in über ein Dutzend Territorien verkaufen. „Es ist die Ausnahme, dass ein Weltvertrieb genau den Titel hat, um den sich alle Verleiher reißen“, erklärt Adriana Chiesa, die seit 1990 den italienischen Weltvertrieb Adriana Chiesa Enterprises betreibt. „Wir müssen die Filmmärkte auf eine andere Art und Weise betrachten, denn die Wirtschaftskrise hat Märkte wie Griechenland oder Portugal verschwinden lassen und auch Spanien steckt in einer tiefen Krise.“ Zu der allgemein schwierigen Wirtschaftslage kommt erschwerend hinzu, dass die klassische Rechteverwertung revolutioniert wird. „Die Kinoauswertung wird für unabhängige Filme immer schwieriger, weil die großen Studios mit vielen Kopien auf den Markt drängen und unendlich viel Geld in die Promotion ihrer Filme investieren können“, sagt Chiesa. Europäische Filme mussten schon immer um das Überleben kämpfen, doch durch die Krise verschwinden zunehmend Arthouse-Verleiher vom Markt. Aber auch im Fernseh- und Videobereich sind keine hohen Lizenzeinnahmen für Arthouse-Titel zu erwarten, da die Sender vorrangig US-Produkte kaufen und aus der Internet- und Video-on-Demand-Auswertung noch keine Rückflüsse generiert werden, welche die Produzenten jedoch dringend für die Refinanzierung ihrer Filme benötigen.

Selbst erfolgreiche europäische Arthouse-Verleiher geraten aufgrund des Einkaufsstopps der Sender in eine schwierige Situation. „Die ARD-Einkaufsgesellschaft Degeto verfügt bis 2017 über keine Slots mehr für Arthouse-Titel“, berichtet Ira von Gienanth, Managing Director for Licensing [&] Acquisition beim Münchener Prokino Filmverleih. Diese Problematik hatten schon vor einem Jahr 24 unabhängige Filmverleiher in einem Offenen Brief an die Degeto beklagt, auf den sie allerdings nie eine offizielle Antwort erhielten. Erschwerend hinzu kommt, dass in Deutschland mittlerweile über 600 Produktionen im Jahr ins Kino gebracht werden, wodurch automatisch weniger Besucher auf die einzelnen Filme entfallen. „Es ist für die Kinogänger nicht einfach zu entscheiden, welchen Film sie sich ansehen möchten“, sagt von Gienanth. Obendrein müssen die Arthouse-Filme mit populären Titeln wie dem Bond-Film „Skyfall“ konkurrieren. „Wir verfügen über geringere Lizenzeinnahmen vom Fernsehen, doch die Kosten sinken nicht, da noch nicht alle Kinos in Deutschland digitalisiert sind.“ Da erst 70 Prozent der Programmkinos über digitale Projektionsanlagen verfügen, müssen die Verleiher sowohl digitale als auch analoge Kopien herstellen.

Doch auch durch die komplette Digitalisierung des Kinomarktes entspannt sich die Lage auf dem Arthousemarkt nicht. Die Statistiken in Norwegen, wo bereits seit dem Sommer 2011 sämtliche Häuser über digitale Projektionsanlagen verfügen, belegen, dass die Konzentrationstendenzen im Verleihsektor dort 2012 weiter zugenommen haben. Von dieser Entwicklung profitiert haben die amerikanischen Blockbuster, während der Marktanteil des nationalen Films von 24 auf 17 Prozent purzelte. Insgesamt verbuchten nur fünf Filme mehr als 500.000 Besucher. Mit den Top-Ten-Filmen wurden mehr als 40 Prozent aller Einnahmen im Kino generiert.

Die Mehrheit der Berlinale-Filme ist digital

Die Digitalisierung ist auch auf der Berlinale rasant vorangeschritten. „80 Prozent der mehr als 6.000 Filme, die bei uns eingereicht worden sind, wurden auf digitalen Formaten geliefert“, berichtet Festival-Direktor Dieter Kosslick. „Unter den 400 Filmen im offiziellen Programm befanden sich nur noch knapp zehn Prozent Kopien im 35 mm-Format.“

Auf dem European Film Market waren Sichtungen per Streaming oder On-Demand auf Tablets in diesem Jahr noch kein Thema. Entsprechend groß war die Nachfrage der Weltvertriebe nach Screening-Slots im Kino. „Es besteht zunehmend auch Interesse an zusätzlichen On-demand-Sichtungen, weshalb wir unsere Fühler ausstrecken und Möglichkeiten von Online-Screenings eruieren, die beispielsweise nach der Kinovorführung angeboten werden könnten“, verrät der Berlinale-Chef. „Im Vergleich zu amerikanischen Filmfestivals wie Tribeca oder Sundance sind wir in Bezug auf Streaming-Angebote noch zurückhaltend, denn wir prüfen zunächst alles, was sich nutzen lässt.“ Ein erster kleiner Schritt sei, dass der EFM auf seiner Website erstmals auch Trailer zu den Filmen angeboten habe. Neben den fertigen Filmen, die auf dem Filmmarkt laufen, sorgen oftmals die großen US-Projekte für Furore. Zu den international heiß begehrtesten Filmvorhaben gehörte der Pilotfilm des Franchise-Projektes „Blutschwestern“, mit dem der erste der sechs Vampir-Jugendromane von Richelle Mead auf die Leinwand gebracht werden soll. Nachdem sich der US-Filmmogul Harvey Weinstein mit The Weinstein Co. (TWC) gleich zum Auftakt des Marktes verschiedene Hollywoodstudios überboten hat, um sich die US-Rechte daran zu sichern, zogen andere Verleiher nach. In Deutschland griff Universum zu, in der Schweiz bringt Frenetic „Die Blutschwestern“ heraus. In der Branche wird bereits spekuliert, ob TWC zum Start dieses Films am 14. Februar 2014 einen globalen Day-and-Date-Release anstrebt.

MEDIA fördert Day-and-Date-Auswertung

Kaum ein anderes Thema erhitzt derzeit so stark die Gemüter von Produzenten, Kinobetreibern und Verleihern wie die gleichzeitige Auswertung von Filmen auf sämtlichen Plattformen wie Kino, DVD, Video-on-Demand und Fernsehen. Umstritten bleiben auch die von MEDIA unterstützten Pilotprojekte, die dazu geführt haben, dass in Frankreich einige Kinobesitzer bereits den kanadischen Film „Night One“ aus ihrem Programm genommen haben, weil er parallel auf DVD und im Internet angeboten wurde. „Wir möchten mit diesem MEDIA Mundus-Projekt testen, ob es Platz für neue Experimente und mehr Flexibilität gibt“, erklärt die MEDIA-Chefin Aviva Silver. „Wir geben den Branchenteilnehmern deshalb die Gelegenheit, Erfahrungen mit einem Day-and-Date-Release zu sammeln.“

Zu diesem Zweck hatte das Europäische Parlament im April 2012 Vertriebsunternehmen dazu aufgerufen, innovative Strategien für den Vertrieb europäischer Filme zu entwickeln.

Insgesamt sind zwei Millionen Euro bereitgestellt worden, um Zusammenschlüsse von möglichst vielen Unternehmen und Organisationen bei der Entwicklung von Distributionsplattformen und -strategien zu unterstützen, die eine gleichzeitige Herausbringung der Filme im Kino, im Fernsehen und per VOD ermöglichen. Den Zuschlag erhielten Wild Bunch mit Speed Bunch, die Initiative TIDE unter der Leitung des französischen Produzenten- und Verleiherbandes ARP sowie das Distributionsprojekt EDAD, an dem der britische Verleiher Artificial Eye und der deutsche Weltvertrieb The Match Factory beteiligt sind. Als ersten Film hat The Match Factory Ende Februar den indonesischen Spielfilm „Die Nacht der Giraffe“ von Edwin auf europäischen VoD-Plattformen in Frankreich, Irland, der Schweiz, Spanien, Großbritannien, Belgien sowie den Niederlanden herausgebracht. „Die Nacht der Giraffe“ war 2012 im Wettbewerb der Berlinale vorgestellt worden und ist im Januar 2013 in Deutschland ins Kino gekommen.

Die Ergebnisse mit den Day-and-Dates-Releases in Europa will MEDIA im Mai 2014 auf einer großen Konferenz während des Cannes Film Festivals vorstellen, nachdem etwa 80 bis 100 Filme in Europa auf diese Art ausgewertet worden sind. „Wir benötigen Erfahrungswerte bezüglich der verschiedenen Territorien, Sprachen und Filmgenres bevor wir die Resultate bewerten können“, sagt Silver. Während die US-Majors mehr als 20 Prozent des Filmbudgets in Marketing und Merchandising investierten und sowohl andere Territorien als auch Auswertungsfenster mit ihren Produkten bedienten, ziele ein europäischer Film nur auf den heimischen Markt ab und komme erst nach dem Erfolg in seinem Heimatland in anderen Ländern heraus. „Die Geschäftsmodelle unterscheiden sich bezüglich der Auswertungs- und Marketingstrategien sehr stark voneinander“, resümiert die MEDIA-Chefin. „Aus diesem Grunde soll geprüft werden, ob durch neue Strategien mehr Platz für europäische Filme geschaffen werden könne und ob sich der Day-and-Date-Release als Bedrohung oder Vorteil erweise. Zunächst muss der Etat für das neue Förderprogramm Creative Europe stehen, wofür im Zeitraum 2014 bis 2020 insgesamt 1,8 Milliarden Euro beantragt worden sind. Nachdem das Europäische Parlament während der Berlinale das Budget für den EU-Haushalt verabschiedet hat, ist die Bewilligung des Creative Europe-Etats einen Schritt näher gerückt. „Die Mittel im EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre sind zwar gekürzt worden, aber nur marginal in dem Bereich, in den Creative Europe fällt“, erklärt Michel Magnier, Direktor der Generaldirektion Bildung und Kultur bei der EU-Kommission in Brüssel. „Wir sind zuversichtlich, dass eine Budgeterhöhung für Creative Europe erfolgt, auch wenn es noch keine eindeutigen Anzeichen dafür gibt.“

Ein gutes Projekt wird immer finanziert

Trotz der derzeit ökonomisch angespannten Situation, die Auswirkungen auf die Produktion und den Vertrieb von Filmen hat, ist es nach Einschätzung des Constantin-Vorstandes Martin Moszkovicz nach wie vor möglich, Filme zu produzieren. „Für ein gutes Projekt gibt es immer eine Finanzierung“, meint Moszkovicz. „Ein Produzent solle immer wissen, wer die Zielgruppe für seinen Film sei.“ Bei Constantin Film befinden sich jedes Jahr etwa 80 bis 100 Filmprojekte in Entwicklung, von denen nur ein knappes Dutzend realisiert wird. „Es ist ein großes Problem, dass Produzenten oft soviel Zeit in ein Projekt investieren, dass sie es sich nicht leisten können, es nicht zu produzieren.“

Die Bandbreite der Filme der Münchener Produktions- und Verleihfirma reichen von Low-Budget-Projekten in der Größenordnung von unter einer Million Euro bis hin zu dem 100 Millionen Dollar teuren Kinodrama „Pompeji“, das im April dieses Jahrs gedreht wird und über internationale Presales finanziert worden ist. In internationaler Koproduktion zwischen der Studio Hamburg FilmProduktion, der Schweizer C-Films sowie der portugiesischen Cinemate ist die Bestsellerverfilmung „Nachtzug nach Lissabon“ von Bille August entstanden, zu der Dieter Kosslick Stars wie Jeremy Irons, Jack Huston und Melanie Laurent auf dem roten Teppich begrüßen konnte.

Auch auf dem diesjährigen EFM haben diversifizierte Filmproduktions- und Vertriebsunternehmen wie Focus Features International, IM Global oder Film Nation für große, international verwertbare Filmprojekte wie „Kill The Messenger“ über den vom CIA in den Selbstmord getriebenen Journalisten Gary Webb sowie romantische Komödien wie „Solace“ mit Hugh Grant oder die Bestsellerverfilmung „Love, Rosie“ vorab Großteile der Finanzierung eingesammelt. Gegen diese aufwändigen Kinoproduktionen, die mit großen Stars aufwarten, hat das klassische Arthouse-Kino bei der Auswertung kaum eine Chance. In Russland sind allerdings gerade die teuren Großproduktionen im Kino gefloppt, während die russische Low-Budget-Produktion „Soulless“ von Sergei Minaev dort über 40 Millionen Dollar eingespielt hat. „Der Film basiert auf einem populären Jugendbuch und hat den Nerv der jungen Generation getroffen“, erläutert Catherine Mtsitouridze, Leiterin der russischen Exportorganisation Roskino. „Produzenten brauchen ein Gespür dafür, was das Publikum interessiert.“ Bei der 63. Berlinale waren es überraschenderweise überwiegend Filme aus Osteuropa, welche die Hauptpreise gewonnen haben. Ob diese Produktionen auf dem Kinomarkt letztendlich eine Chance haben, muss sich zeigen.
Birgit Heidsiek
(MB 03/13)