Die Zukunft des deutschen Fernsehens

Netflix, Amazon & YouTube teilen den deutschen Bewegtbildmarkt unter sich auf. Welche Rolle spielen dabei deutsche TV-Sender? Wie sieht ihre Zukunft in dem sich neu konstituierenden internationalen Bewegtbildmarkt aus?

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Die Zukunft des deutschen Fernsehens

YouTube dominiert seit einigen Jahren die Zuschauerreichweite bei der jungen Rezipientengruppe, Amazon startete Ende Februar mit Prime Instant Video ein unschlagbar günstiges Streaming-Angebot und das US-Streaming-Portal Netflix tritt voraussichtlich noch diesen Herbst in den deutschen Bewegtbildmarkt ein. Die Fernseh-Revolution findet statt. Durch die Digitalisierung als Inkubator haben sich massive Veränderungen im Verbreitungsprozess von Bewegtbild und im Rezeptionsverhalten der Zuschauer vollzogen. Der Kampf um den deutschen VoD-Markt ist auch der Kampf um die deutsche Fernsehlandschaft. Wer den zukünftigen Distributionskanal betreibt oder mit Content besetzt, der beherrscht den deutschen Bewegtbildmarkt. Dieser ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung unlängst Teil eines sich international neu konstituierenden Bewegtbildmarkts geworden und die deutschen TV-Sender spielten dabei lange die Rolle des unbeteiligten Zuschauers. Vielleicht zu lange.

Erfolgsmodell Video-on-Demand (VoD) vs. lineares Fernsehen

VoD steht per Definition für das Rezeptionsverhalten der Digital Natives. Ohne Marc Prenskys Begriff in seiner ganzen Breite zu übernehmen, so beschreibt er doch in seiner Zuordnung passend, eine Zuschauergruppe, die durch das Medium Internet in ihrem Rezeptionsverhalten geprägt und sozialisiert ist. Diese Geburtenjahrgänge ab Anfang der 1980er, und noch eindeutiger jene ab den 1990ern Jahren, lassen sich nicht mehr in das streng geregelte lineare Korsett des klassischen Fernsehens einzwängen. Die moderne Form der Rezeption von medialen Inhalten ist selbstbestimmter, den eigenen Vorlieben sowie Empfehlungen des sozialen Umfelds angepasst und bestimmt damit die Entwicklung des Bewegtbildmarkts.
Das Totschlagargument der Verfechter klassischer Fernsehgewohnheiten lässt sich dabei leicht entkräften. Fernsehen hat einen besonderen Reiz durch eine Vielfalt an Angeboten die mit minimalem Aufwand durch das Ritual des Zappens (Switching) durchforstet werden können, um sich von einem überraschenden Inhalt fesseln zu lassen. Solch ein Switching sei online nicht möglich. Hier jedoch wird verkannt, dass es keine allzu große, technische Herausforderung wäre, ein ähnlich einfaches Switchingprinzip, bei entsprechend verfügbarer Bandbreite, auch für Online-Distributionskanäle zu etablieren. Switching ist nichts anderes als der Akt, die Linearität der Senderprogramme zu durchbrechen und Inhalte zu finden, die zu den eigenen Vorlieben passen. Wer auf das Zappen nach Feierabend nicht verzichten mag, braucht also keine Angst vor der Fernseh-Revolution zu haben, er sollte sie begrüßen.
Seit 2013 kommt der lange Zeit schwierige deutsche Markt für VoD, spürbar in Bewegung. Der französische Vivendi-Konzern führte mit Watchever eine ernst zu nehmende Subscription (Abonnements) VoD-Plattform für 8,99 Euro pro Monat in Deutschland ein. Nun ist Watchever nach nur einem Jahr am deutschen VoD-Markt etabliert und versucht inzwischen auch durch Eigenproduktionen, ganz wie beim großen amerikanischen Vorbild Netflix, seine Relevanz am Markt zu festigen. Neben einem hohen Werbeetat und einem passenden Preis-Leistungs-Verhältnis führte paradoxerweise der Drang der Rezipienten, ihre Sehgewohnheiten auf illegalen Streaming-Portalen zu befriedigen, zu den positiven Voraussetzungen für die erfolgreiche Einführung von Watchever. Dieses Bedürfnis nach VoD drückte sich im Jahr 2010 dadurch aus, dass rund 100 Millionen Filme illegal über diverse Plattformen per Streaming angeschaut oder runtergeladen wurden. Illegale Filehoster waren, ähnlich wie schon beim Fall der Musikpiraterie Anfang der 2000er Jahre, schneller am Markt als die Film- beziehungsweise Musikindustrie.

Neben der strafrechtlichen Verfolgung von privaten Filehostern und dem Schließen von großen illegalen Betreibern (z.B. Mega-Upload und kino.to) hat auch ein gesellschaftsübergreifender Diskurs der vergangenen Jahre ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Urheberrechtsverletzungen und deren Folgeschäden sowohl an der gesamten Wertschöpfungskette, als auch am Wertesystem der Gesellschaft entwickelt (vgl. DCN-Studie 2013). Preiswerte Subscription VoD-Angebote bilden dazu die eindeutig bessere Alternative.
Der Online-Bewegtbildmarkt ist ein echter Wachstumsmarkt. Der Umsatz der Offline-Medien dümpelt zwischen 2007 und 2013 mit fünf Prozent Wachstum geradezu vor sich hin. Im gleichen Zeitraum gab es bei Online-Medien ein Wachstum von 315 Prozent. Dazu passend integrierte Ende Februar auch der Onlineversand-Riese Amazon seine VoD-Plattform LoveFilm in sein Prime-Angebot. Mit konkurrenzlos preiswerten 49 Euro im Jahr (4 Euro pro Monat) für neue Prime-Kunden (Bestandskunden 29 Euro im Jahr) für Streamingplattform, Kindle Leihbibliothek und Prime-Versand wird es Amazon sicherlich gelingen, viele neue Prime-Kunden zu gewinnen. Somit erschließt sich Amazon mit seinem riesigen Kundenstamm auf einen Schlag den VoD-Markt. Und damit nicht genug, denn auch Amazon begreift sich nicht nur als Contentlieferant, sondern produziert ebenfalls längst eigenen Content. Das implementierte Marktforschungssystem der Kundenempfehlung und Bewertung hilft dabei den kreativen Serienmachern, ähnlich wie bei Netflix, den Wünschen der Kunden im Bezug auf die Eigenproduktionen gerecht zu werden und damit fast voraussagbare Erfolge zu produzieren.

YouTube & Netflix – Die Neuanordnung des Bewegtbildmarkts YouTube positionierte einen neuen Teilnehmer im Bewegtbildmarkt. Den Zuschauer. Broadcast yourself war eine, wie man aus heutiger Sicht erkennen muss, ernst gemeinte Kampfansage an die etablierten TV-Wettbewerber. Seit 2012 betreibt YouTube seine Expansionsstrategie auch in Deutschland und fördert die Positionierung von YouTube Channels mit User-generiertem Content als Alternative zum linearen TV-Content. Auch hier hat die Evolution von der reinen Videoplattform zum Contentproduzenten stattgefunden. Einige freie deutsche Produktionsfirmen haben den Trend rechtzeitig erkannt, bilden YouTube-Netzwerke und positionieren sich als professionelle Online-Bewegtbildproduzenten. Damit emanzipieren sich die Produzenten von der reinen Belieferung von TV-Sendern und erschließen sich den neuen Markt. YouTube dominiert in seiner Reichweite vor allem die wichtige Zielgruppe der 14- bis 19-Jährigen. Der immense Erfolg von deutschen YouTubern wie zum Beispiel Gronkh oder Y-Titty spricht in diesem Zusammenhang für sich. Die Unterhaltungs-Stars von morgen kommen nicht mehr aus dem Fernsehen, sie werden über YouTube bekannt.
Auch Netflix hat eine überaus erfolgreiche Entwicklung vom reinen VoD-Contentlieferanten zum Contentproduzenten gemacht. Auf der James MacTaggart Memorial Lecture im Rahmen des Edinburgh International Television Festivals 2013 wurde Kevin Spacey als Producer und Hauptdarsteller der Netflix Serie House of Cards eingeladen, um eine Rede zu halten. Spacey sprach von veränderten Sehgewohnheiten und leitet davon zum Erfolgsmodell von Netflix und der Zukunft des Fernsehens über: Neue Distributionsmodelle, mehr Mut zur Kreativität und eine effektive Auswertung der Vorlieben der Zuschauer sind dabei die entscheidenden Faktoren. Des Weiteren prangerte er die hinderlichen Strukturen der TV-Sender an, bei denen sich zu viele in den kreativen Prozess einmischen, aber zu wenige Ahnung haben und Mut sowie Durchhaltevermögen besitzen. Auch wenn Spacey die amerikanischen Networks adressierte, so ist seine Aufzählung gleichsam auch die Liste aller Versäumnisse deutscher TV-Sender der letzten zehn Jahre. Das Modell ist aufgegangen und Netflix ist mit seinen eigens produzierten Serien so erfolgreich, dass das Unternehmen ein ernst zu nehmender internationaler Medienplayer geworden ist. Mit Netflix kam zum ersten Mal echter Serien-Inhalt aus dem Internet. Das Monopol der TV-Sender wurde an diesem Punkt endgültig durchbrochen.

Es war einmal … der TV-Sender

Angesichts dieser fundamentalen Veränderung von Rezeption und Distribution haben die deutschen TV-Sender lange eine erstaunlich passive Rolle eingenommen. Strukturelle Programm- und Unternehmensreformen hätten sie schon vor fünf bis zehn Jahren auf den Weg bringen können und müssen. Stattdessen konzentrierten sie sich überwiegend darauf, den Status quo im deutschen TV-Markt aufrecht zu halten, den es in dieser geschlossen Form bald nicht mehr gibt.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten garantieren neutrale politische Bildung, investigativen Journalismus sowie lokale Berichterstattung und Programmangebote. Das Angebot an international verwertbaren Produktionen sieht hingegen äußerst trüb aus. Aufwendige Hochglanz-Dokumentationen kommen fast ausschließlich von der BBC und amerikanischen Pay-TV Sendern. Und nicht erst seit gestern kommen so gut wie alle erfolgreichen und prämierten Serienproduktionen oder Showformate aus den USA und Großbritannien.
Der Pay-TV Sender HBO erfand um die Jahrtausendwende die moderne TV-Dramaserie mit Die Sopranos und löste dadurch eine Flutwelle an preisgekrönten und erfolgreichen Serienproduktionen aus. Seit einigen Jahren produzieren aber auch unsere europäischen Nachbarn aus Großbritannien, Schweden und seit Neuestem auch unsere direkten dänischen Nachbarn ein um Klassen besseres Serienentertainment im Bereich Krimi, Drama-, Science-Fiction- und Mysteryserien als Deutschland. Es sollte der Anspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sein, dass in naher Zukunft auch mal eine deutsche Serie zu einem international gefeierten Meisterwerk, wie zum Beispiel Breaking Bad, avanciert.
Mit welchen Problemen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu kämpfen haben, spiegelt sich in einem Interview mit dem Programmchef der ARD, Volker Herres und dem Intendanten des ZDF, Thomas Bellut. In den Aussagen der Senderchefs vermisst man ein kritisches, selbstreflektierendes Problembewusstsein. Stattdessen verteidigen die Programmverantwortlichen die Relevanz der Quote, den unsinnigen Wettstreit mit den privaten Sendern und liefern keinerlei Konzept für eine wirkliche, strukturelle Veränderung der Verwaltungsmonster Rundfunkanstalten. Diese immensen Verwaltungsstrukturen und enorme Personalkosten, welche vor allem durch Rücklagen für überbordende Pensionen entstehen, machen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nahezu handlungsunfähig. Investitionen in teuere Dokumentationen von internationalem Renommee à la BBC oder aber die Entwicklung und Produktion einer deutschen Dramaserie, die sich international verwerten lässt, ist da selbstredend ein schwieriges Unterfangen. Die Abhängigkeit von der Politik und einem Rundfunkstaatsvertrag, der nur einen geschlossen deutschen Fernsehmarkt regelt, aber in einem sich international neu konstituierenden Bewegtbildmarkt nicht anwendbar ist, erweist sich als weitere innovationsfeindliche Komponente. Die Entscheidung für oder gegen einen Jugendkanal von ARD und ZDF führt die Schwierigkeit des Modells vor. Die Genehmigung ist abhängig von einem linearen Programmangebot als Basis. Die erwünschte Zielgruppe rezipiert aber nonlinear und somit würde das Programmangebot bereits in der Wahl des Distributionskanals die Zielgruppe verfehlen. Qualitative hochwertige und innovative Programminhalte für eine jugendliche Zielgruppe gibt es bereits in den Spartenkanälen EinsPlus und ZDFneo. Leider erreicht das Programm wegen seiner klassischen Fernsehdistribution aber nicht seine Zuschauerschaft. Überraschend ehrlich und mutig zeigte sich im Vergleich zu Herres und Bellut, Tom Buhrow als neuer Intendant des WDR. Buhrow ist ein leidenschaftlicher Verfechter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, dafür benennt er aber auch offen die Probleme und spricht bei den Finanzen von einem gigantischen strukturellen Abgrund und dringendem Handlungsbedarf. Was Buhrow im Bezug auf internationale verwertbare Qualitätsformate anzustoßen gelingt, bleibt abzuwarten.
Tobias Schmid, der Medienpolitikchef des deutschen privaten Marktführers RTL und Vorsitzender des Verbands privater Rundfunk und Telemedien, verweist auf die weiterhin hohe Fernsehnutzung und die Stärke von Inhalten der Privaten. Was Schmid nicht anführte: dass die Sehdauer bereits 2012 erstmals zurückging, dass die wichtige Zielgruppe der 14- bis 19-Jährigen sich deutlich vom klassischen Fernsehen abwendet und welche starken Inhalte er bei RTL eigentlich genau meint. Sämtliche erfolgreiche Unterhaltungsshows sind ihres Zeichens Adaptionen internationaler Formate. Von den RTL-Event-Movies kann im Zusammenhang mit starken Inhalten auch keine Rede sein. Des Weiteren sieht Schmid in YouTube keinen Konkurrenten. Matthias Büchs, Chef von RTL Interactive, sieht auch den Netflix Start im Herbst als keine Bedrohung an und fügt hinzu, dass lineares Fernsehen eine langfristige Verankerung im Alltag der Menschen hat.

Maxdome – Bislang größte VoD-Plattform

ProSiebenSat.1 geht da schon bewusster mit dem Rezeptionswandel und dem Fortbestehen des eigenen Unternehmensmodells um. Die Münchener sind mit Maxdome, als bis dato größte VoD-Plattform in Deutschland, bei der bevorstehenden Aufteilung des deutschen Bewegtbildmarkts gut aufgestellt. Außerdem lässt auch die Ausrichtung von ProSiebenSat.1 Digital auf online Distributionskanäle und die Kooperation mit YouTube-Stars hoffen. An rund 40 Online-Plattformen ist ProSiebenSat.1 inzwischen beteiligt oder besitzt sie und lässt damit, was die Online-Werbeumsätze angeht, RTL weit hinter sich. Nichtsdestotrotz drängt sich auch bei ProSiebenSat.1 die Frage nach international verwertbaren Produktionen auf.
Anders als bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bedeuten perspektivische, unternehmerische Fehlentscheidungen für RTL und ProSiebenSat.1, dass sie sich durch den schleichenden Verlust des Distributionsmonopols ihrer TV-Sender der eigenen Existenzgrundlage entledigen. Die junge Zuschauerschaft, also die Zukunft des Markts, rezipiert bereits überwiegend nonlinear. Die Werbung folgt dieser veränderten Rezeptionsform. Die Chancen, dass sich auch die Digital Immigrants bei einem einfach zu bedienenden und attraktiven Angebot ebenfalls langfristig für einen internetbasierten Bewegtbildmarkt öffnen und diesen nutzen, sind durchaus gegeben.
Was in einem internationalen Bewegtbildmarkt zählt und damit überlebt, sind einzig und allein Inhalte. Content is King – dieser Allgemeinplatz wurde von öffentlich-rechtlichen wie privaten Sendern in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sträflich vernachlässigt. Deutsche TV-Sender haben international gesehen keine relevanten Produktionen, die markenbildend sind.
In einer digitalisierten Fernsehbranche muss darüber hinaus den Werbetreibenden eine detailliertere Reichweite und damit ein genaueres Targeting angeboten werden. Das dazu benötigte Online-Verfahren muss Hand in Hand mit einer Analyse der Vorlieben der Rezipienten über beispielsweise Social-TV gehen. Mehr als je zuvor müssen Inhalte entsprechend der Vorlieben der Zuschauer produziert werden und dabei das Programmangebot zum Wohle der Qualität einzelner Produktionen eher verknappt werden. Das Sammeln der Zuschauerinformationen, also der BigData mag im Zusammenhang mit dem NSA-Skandal ein negativ kommentierter Begriff sein, dennoch ist ein aussagekräftiges Profil der Zuschauer und Kenntnisse über deren Wünsche ein unumgängliches Instrument für die wirtschaftliche Zukunft der gesamten Branche. Die Bereitstellung der eigenen Inhalte als VoD muss als unternehmerisches Zukunftsmodell verstanden werden und dementsprechend ambitioniert umgesetzt werden. Nonlineares wird dann durch lineares Angebot ergänzt. Letzteres kehrt zu den Wurzeln des Fernsehens zurück, den Live-Ereignissen und bleibt dabei durch die Gleichzeitigkeit und Telepräsenz weiterhin bedeutend.
Man darf gespannt sein, was der Start von Netflix in Deutschland mit sich bringt. Die Beteiligung dieser internationalen Medienplayer am Breitbandausbau wird für eine positive wirtschaftliche Entwicklung des deutschen Bewegtbildmarkts unumgänglich sein. Hier ist die Politik ebenso gefordert wie bei der Abschaffung juristischer Barrieren, die eine Stärkung der deutschen Medienplayer durch Kooperationen oder Fusionen ermöglichen würde und sie somit wettbewerbsfähig für den internationalen Bewegtbildmarkt macht.
Axel Kersten

(MB 2/14)

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