Ein sehr ambitioniertes Projekt startete tpc, technischer Dienstleister des nationalen Schweizer Senders SRF/SRG, mit der Planung und Beauftragung des neuen IP-basierten 4K/UHD-Ü-Wagens UHD1 HDR im Dezember 2016. Er sollte ursprünglich Anfang 2018 in den Produktionseinsatz gehen. Das verzögerte sich dann aber bis Oktober 2018. Die Gründe dafür sind vielfältig. Unter anderem waren einige der vorgesehenen Kerntechnologien bei Planungsbeginn erst als Konzepte und nicht als fertige Produkte existent. Umso mutiger war es von tpc, mit der Entscheidung für den innovativen, IP-basierten Ü-Wagen eine wichtige Weichenstellung für die Live-Produktion der Zukunft zu leisten. Die Ausschreibung zum Bau des Ü-Wagens konnte SonoVTS mit Technologie-Partner Imagine Communications für sich gewinnen. SonoVTS war zuständig für die komplette Konzeption, System-Planung und -Integration, für Karosserie- und Fahrzeugbau, Innenausbau, Elektro- und Klimainstallation.
Der neue Ü-Wagen ist ein Sattelauflieger mit einer Gesamtlänge von 16,5 Metern, einer Breite von 4,5 Metern, im aufgebauten Zustand mit vier Auszügen, und einem Gewicht von 40 Tonnen. Er verfügt über lenkbare Hinterachsen, um einfacher auf engen Technik-Stellplätzen einparken oder um Serpentinen-Straßen zu Einsatzorten in den Bergen bewältigen zu können. Konzipiert wurde der mit zwei Regien ausgestattete UHD1 HDR für 24 Arbeitsplätze.
Bei Planung des neuen Ü-Wagens war für tpc eine leistungsfähige, vielseitige Funktionalität von entscheidender Bedeutung, da er sehr unterschiedliche Produktionen im Sport und Musik-Bereich bewältigen soll. Dazu kommt, dass der UHD1 HDR Bilder in höchster Qualität, einschließlich 4K-Auflösung und erweitertem Dynamikbereich und Farbraum, liefern und damit die Produktion zukunftssicherer Inhalte gewährleisten soll. Gefordert waren unter anderem die Verarbeitung von unkomprimiertem Video (bis zu 12 GBit/s), ein Full-IP-Backbone ohne SDI- und AES-Router sowie die Wandlung von SDI- und AES3-Signalen über entsprechende Schnittstellen zum IP-Standard SMPTE ST 2110.
„Wir stehen am Anfang einer Reise, um alle Aktivitäten auf IP-Konnektivität umzustellen“, sagte Andreas Lattmann, CTO von tpc, als der Ü-Wagen im Oktober 2018 endlich produzieren konnte. „Es ist großartig, unseren neuen UHD1 HDR-Ü-Wagen auf der Straße zu sehen, der uns sowohl hervorragende Produktionsqualität als auch wertvolle Erfahrung bei der Entwicklung und dem Betrieb von IP-Netzwerken bietet.“ Am wichtigsten dabei sei, dass alle Workflows im UHD1 HDR ähnlich wie in den Ü-Wagen, die die tpc-Crews seit Jahren nutzten, ablaufen würden. „Der UHD1 bietet uns dieselben Leistungsmerkmale und Funktionsweisen wie ein herkömmliches SDI-System“, sagte Lattmann, „jedoch mit allen Vorteilen von IP-Konnektivität und Softwareflexibilität – nicht zuletzt durch vollständige Formatunabhängigkeit bis hin zu unkomprimiertem 4K HDR Ultra HD.“
„tpc ist ein früher Anwender der IP-Technologie und wusste von Anfang an, dass offene Standards und offene Interoperabilität von entscheidender Bedeutung sind. Wir haben eine starke Verbindung zu tpc knüpfen können, weil wir uns nicht zuletzt auch durch unser Engagement in der Alliance for IP Media Solutions (AIMS) zu offenen Standards und SMPTE ST 2110 bekennen“, erklärte Andreas Kotulek, Director Sales, Nord-, Mittel- und Osteuropa und Russland von Imagine. Und Lattmann betonte: „Offene Standards sind für uns sehr wichtig, um uns die Sicherheit zu geben, die wir brauchen, um Best-of-Breed-Lösungen für jede Phase von der Akquisition bis zur Auslieferung auswählen zu können.“
Technikeinsatz
Im UHD1 HDR arbeitet tpc mit den zwei Sony-Multiformat-Videomischern XVS-8000 (Hauptmischer) und XVS-6000 (Subregiemischer) und mit bis zu 24 Sony HDC-4300 Kameras. Neben 4K erlauben diese auch achtfache Slow Motion in HD, beziehungsweise eine doppelte in UHD. Kompatibel mit dem neuen UHD-Ü-Wagen sind auch die digitalen Filmkameras Sony PMW-F55 und PMW-F65, die tpc schon im Einsatz hat. Alle Kameras sind mit Canon-Optiken bestückt.
Für Replays werden aktuell sechs EVS-Maschinen eingesetzt (XT3, XT4K und XT VIA). Mit XT VIA lassen sich pro Einheit bis zu sechs UHD-Kanäle verarbeiten.
Bei den Monitoren in der Ü-Wagen-Regie handelt es sich um 48 32“/24“-UHD-LCD-HDQ-Monitore von SonoVTS. Als Referenzmonitor dient ein Sony X300. Als Multiviewing-Systeme werden neun Imagine EPIC mit 340 Bildern auf 36 Ausgängen eingesetzt. Das Grafiksystem stammt von VIZRT, die Messtechnik von Tektronix, die Audio-effektgeräte von TC System und Lexicon, die sechs Kommentatoren-Einheiten von Delec.
Im Audiobereich kommen zudem zwei Avatus-Konsolen von Stage Tec zum Einsatz, eine davon ist im Rüstwagen untergebracht, im Zusammenspiel mit dem Nexus Audio-Netzwerk des Berliner Unternehmens, das bei den IP-Schnittstellen-Karten mit DirectOut aus Mittweida kooperiert. Von Gunternmann [&] Drunck kommt die KVM Matrix.
Als Interkom-System nutzt tpc das 2007 entwickelte, modulare TELLiX der Schweizer Hugel GmbH (Gründer: Ernst Hugentobler). „Wir wechseln aber zu Riedel Artist und setzen auf Riedel MediorNet bei den Stageboxen“, erklärte Lattmann bei der Präsentation des Ü-Wagens am 19. Februar in Zürich. Thomas Riedel, CEO von Riedel Communications, meinte auf Anfrage dazu: „tpc und Riedel haben eine Vision: Die IP-Broadcast-Welt von morgen schon heute zu gestalten. Mit diesem spannenden Projekt wollen wir unsere Vision gemeinsam umsetzen.“
Zur Systemsteuerung im neuen UHD1 HDR-Ü-Wagen eingesetzt werden der Magellan SDN-Orchestrator (SDNO) von Imagine, der die Steuerung des gesamten Netzwerks auf Systemebene ermöglicht, und VSM von Lawo als übergeordnetes operatives Bedien- und Steuersystem. Die Fehlerüberwachung des Gesamtsystems wird mit Skyline Dataminer sichergestellt.
Hirn und Muskeln
Zentrale technische Elemente in dem Ü-Wagen sind zwei vollredundante Arista 7504R Netzwerk-Switche, verbunden mit zwei IP-Netzwerken (SMPTE ST 2022-7 redundant) und 44 Selenio Netzwerk-Prozessoren (SNP) von Imagine Communications (plus 2 x 2 SNP in Stageboxen). Selenio SNP ist eine Hardware-Plattform, optimiert für Echtzeit-Video- und -Audio-Processing in hybriden SDI/IP- bis hin zu Full-IP-Infrastrukturen. Jeweils vier Prozessoren in den kompakten, 1HE großen SNPs dienen der Synchronisierung und Konvertierung von Signalen. Zudem bieten sie die Gateways für externe SDI- und AES3-Signale. Der Arista-basierte IP Core bietet einen maximalen Datendurchsatz von 11 Tb/s mit 108 x 100GE-Ports (x2). Eingerichtet ist er für 2.300 Video- und 14.000 Audio-Streams und für 300 Multiviewer PIPs (Picture-in-Picture).
Jochen Kuhnen, Strategic Solution Manager EMEA von Imagine, bezeichnete den Arista IP Core und die SNPs in Zürich als „Hirn und Muskeln“ des neuen Ü-Wagens. Der redundante Core-Switch sorge dafür, dass bei Ausfall eines Switches die komplette Ü-Wagen-Performance erhalten bleibe. Bei Neustart nach Stromausfall würden alle Systeme innerhalb von wenigen Minuten wieder ihren Ursprungszustand einnehmen. Die große Zahl an benötigten SNPs ergebe sich daraus, dass die einzigen Systeme im neuen Ü-Wagen, die via IP direkt mit den Aristas kommunizierten, derzeit die Avatus-Audiopulte von Stage Tec, die IP/SDI-Waveform-Monitore Prism von Tektronix, die SONOVTS HDQ-Monitore und die Epic MV Multiviewer Monitoring-Systeme von Imagine seien. Die Signale aller anderen Systeme müssen über die SNP-Gateways von SDI erst zu IP konvertiert werden, bevor sie an die Arista-Switche weitergereicht werden können. Das betrifft insbesondere die erwähnten EVS-Maschinen, die Sony-Kameras und -Bildmischer. Zum Zeitpunkt der Ü-Wagen-Planung verfügten sie noch nicht über IP-Schnittstellen.
„Die HDQLINE Displays sind derzeit die einzigen Systeme, die videomäßig über IP angebunden sind. Unsere Displays wurden im Zuge des Projekts auf volle Unterstützung des SMPTE 2110 Standards hin entwickelt und im Ü-Wagen integriert. Auch dieses war, ähnlich wie beim SNP, ein Entwicklungsprozess mit einigen Umwegen, aber mit dem Ergebnis, dass die Displays mittlerweile sowohl HD als auch UHD über SMPTE 2110 vollumfänglich unterstützen und im Ü-Wagen Netzwerk eingebunden sind“, berichtete SonoVTS-Projektmanagerin und -Systemingenieurin Dipl.-Ing.Christine Wimmer. Christoph Hadyk, Solutions Architect bei SonoVTS erklärte: „Das UHD1 HDR-Projekt war für uns eine große Herausforderung, weil es mit sehr vielen neuen Ansätzen verbunden war. Wir haben dabei vielgelernt und hoffen, einiges davon auch bei Folgeprojekten anwenden zu können. Die tpc-Kollegen haben uns auf technischer Ebene sehr gut unterstützt. Auch mit dem Thema IP waren sie bestens vertraut.”
Adrian Hilbert, Broadcast-IT-Experte bei tpc, sagt in Zürich: „Wir hatten nie Probleme mit den Arista Switches oder der Switching Time. Problem war eher die Einrichtung. So mußten spezielle Kühlsysteme im Heck des Fahrzeugs eingebaut werden. Mit IP-Technik und Netzwerken sind wir gut klar gekommen. Herausfordernd waren eher die Themen Interfaces und Steuerungsdesign.” Schließlich verfüge der Ü-Wagen über rund 32.000 IP-Adressen.
tpc-Technikchef Lattmann zeigte sich bei der Präsentation des neuen Ü-Wagens sehr zufrieden mit den bislang erzielten Ergebnissen und den Produktionserfahrungen.
Seine erste Live-Produktion absolvierte der Ü-Wagen in der Schweizerischen Eishockey-Liga – noch in HD. Den ganzen Winter über war er dann unter anderem bei Wintersport-Weltcup-Events sowie bei Euro- und Champions League-Fußballspielen (in UHD HDR) gebucht. Produziert wurden FIS Cross-Country Skiing in Davos, das Lucern Festival im KKL Kultus- und Kongresszentrum Luzern, das internationale Eishockey-Turnier Spengler Cup in Davos und die Lauberhorn-Abfahrt in Wengen, wo der UHD1 HDR zehn Kilometer entfernt vom Zieleinlauf geparkt war.
„Unsere Mitarbeiter sind begeistert von der neuen Technologie und haben keine Bange mehr vor IP. Nach drei Monaten Produktion war bereits ein sehr entspanntes Arbeiten im Ü-Wagen zu erkennen. Das freut mich besonders“, erklärte Lattmann. Er fasste zusammen: „IP in ST2110 funktioniert. Die erwartete Flexibilität wird erfüllt. Der formatagnostische Zugang klappt. Bei den Produktionen werden keine IP-Experten benötigt. Der Umstieg zu IP-basierten Workflows ist möglich und weniger hart als erwartet. Einige Kompromisse im Ü-Wagen mussten wir lediglich bei den Schnittstellen machen.“ Interessant für alle Beteiligten sei die Erkenntnis gewesen, dass der Full-IP-Core des Ü-Wagens schnell, deterministisch und stabil genug sei, um live arbeiten zu können.
Im eigenen IP-Lab von tpc habe man sehr viel ausprobieren können. Hilfreich dabei sei die tpc-Mitgliedschaft in der AIMS- und SMPTE-Gruppe gewesen, wo man gut mit allen potentiellen Partnern hätte reden können. Die enge Zusammenarbeit mit den Herstellern sei für tpc sehr wichtig gewesen. Von den bislang gemachten Erfahrungen mit IP werde man vor allem auch bei der technischen Planung und Installation im neuen News, Sport und Technologie Center, das tpc gegenwärtig für SSR/SRF auf dem Leutschenbach-Areal in Zürich errichtet, profitieren.
Full IP auch im neuen Technik-Center
Das sogenannte Metechno-Projekt soll bis November 2019 mit „Full IP ST2110 Technologie“ ausgestattet werden und gilt als fundamentaler Technologiewechsel, den tpc zusammen mit der SRG in dieser Dimension und Konsequenz als einer der ersten Broadcaster weltweit vorantreibt. Involviert ist hier auch das Systemhaus Qvest Media.
„Unsere Erfahrungen mit dem UHD1 zeigen, dass wir mit dieser Technologie richtig liegen“, betonte Lattmann. Auch das neue Technikgebäude werde UHD ready sein.
Ganz ohne Verzögerungen geht es hier allerdings wohl auch nicht. Der Metechno-Rohbau steht schon länger aber einzelne Gewerke müssen laut tpc-Geschäftsführer Detlef Sold noch abgenommen werden, bevor die Technik eingebaut werden kann. Trotzdem ist man zuversichtlich, bis Ende des Jahres fertig zu werden.
Eckhard Eckstein
01.04.2019
© tpc