VR Task Force beim WDR

Es wird noch eine Weile dauern bis die neuen Erlebniswelten, die Virtual-, Mixed- und Augmented Reality bieten, im Massenmarkt angekommen sind. Trotzdem bringt man sich allerorts bereits in Stellung, um mit dabei zu sein. Auch der WDR setzt auf das Potential der neuen Bildersprache. Von ihm verspricht er sich ein junges Publikum zu erreichen, das sich vom linearen Fernsehen abgewandt hat, aber auch neue Möglichkeiten der Berichterstattung.

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VR Task Force beim WDR

„Das überzeugendste Argument für ein 360°-Stück – sei es ein Nachrichtenbeitrag, eine Reportage oder Dokumentation – ist immer noch, dass hier alles zu sehen ist und kein Ausschnitt aus dem Blickwinkel des Journalisten gezeigt wird. 360°-Kameras eignen sich besonders für Demonstrationen und die tagesaktuelle Berichterstattung, weil niemand mehr behaupten kann, es würde etwas weg gelassen“, sagt Stefan Domke, Journalist beim WDR und Leiter des Projekts „360 Grad Kölner Dom“. Gleichzeitig lassen sich mit VR, MR und AR Ereignisse und Orte spürbarer machen und im wahrsten Sinne des Wortes ganzheitlich darstellen.

An dieser Stelle ist eine Begriffsklärung angebracht. 360° und Virtual Reality werden oft alternierend genutzt obwohl es keine Synonyme sind. Das ist nicht ganz falsch, dadurch aber ungenau. Mit Virtual Reality bezeichnet man immer eine Darstellung, die eine komplette Welt zeigt – also mit Himmel und Boden. Das kann in 2D aber auch in 3D erfolgen. Eine solche Welt schließt den vertikalen sowie horizontalen 360°-Radius mit ein. Spricht man von 360°-Grad kann das das Innere dieser Blase bedeuten, aber auch ein horizontales 360°-Panorama – also ohne Himmel und Boden. Mixed und Augmented Reality werden in der Regel synonym benutzt, da es bisher keine definierte Abgrenzung gibt. Hier werden auf halbdurchlässige Brillen (z.B. Microsoft Hololens) oder auf Displays von Mobilgeräten zusätzliche Informationen eingeblendet, wenn man die Geräte in Richtung des Geschehens oder eines echten Gegenstandes richtet. Bei der re:publica #17 hat der WDR drei seiner Virtual Reality-Projekte vorgestellt, die im Rennen um den Grimme Online Award sind: „Der Kölner Dom in 360° und VR“, „Ihre Wahl – Der Kandidatencheck“ und „Inside Auschwitz“. Aber auch im Sport-Bereich gibt es erste Experimente wie etwa der Sprung von einer Skischanze.

360 Grad Kölner Dom

Dem WDR ist offenbar gar nichts heilig, denn er schlachtet mit Hilfe von Virtual Reality mal so nebenbei eine Heilige Kuh des Kölner Karnevals und macht Schluss mit „Mer losse d’r Dom in Kölle“. Denn der Kölner Dom lässt sich seit diesem Frühjahr als Virtual Reality-Version überall erleben – an die Stadt am Rhein muss nun niemand mehr dafür. Für den WDR ist dies nicht nur das bisher größte VR-Projekt, es hat vor allem Pioniercharakter. „Der WDR wurde im 360°-Bereich aktiv, um das Medium ausprobieren zu können und um so Know how im Haus entwickeln und vorhalten zu können“, sagt Domke. „Die immersiven Medien werden nicht mehr verschwinden. Die Frage ist eher wann sie zum Massenmarkt werden und da wollen wir vorbereitet sein. Man ist sich im Hause durchaus bewusst, dass man sich auf neue Technologien einstellen muss, um nicht von engagierten Amateuren überholt zu werden – so wie das etwa mit YouTube passiert ist. Um hier nicht abgehängt zu werden, müssen wir qualitativ eine Schippe drauf legen und an Orte gehen, zu denen andere keinen Zugang haben.“ Genauso wichtig ist aber auch die Frage, wie man mit VR die Zielgruppen erreichen kann, die das lineare Fernsehen längst verloren hat. „Der Auftrag lautet schließlich, den Gebührenzahler zu erreichen und zwar so umfangreich wie möglich“, betont Domke.

Für das Projekt wurde beim WDR die „VR Task Force“ gegründet, nachdem es 2016 im Hause einen Thementag gab, bei dem jeder VR selber erfahren konnte. Das überzeugte und ließ die anfängliche Skepsis gegenüber der Technik verschwinden. Die Task Force besteht aus acht Mitgliedern aus den Bereichen Kamera, Ton und Journalismus, die von ihren Redaktionen für fünf Tage im Monat frei gestellt wurden. Als Dienstleister war die Münchener Firma Re‘Flekt dabei, die auch die Süddeutsche Zeitung bei ihren 360°-Videos unterstützt. Finanziert wurde das Projekt unter anderem aus dem Sondertopf für Innovationen der WDR-Intendanz.

Wie üblich sollten die 360°-Aufnahmen mit einem Würfel aus sechs GoPro-Kameras gefilmt werden. Wie sich heraus stellte, war es im Dom aber zu dunkel und GoPros sind nicht sonderlich lichtempfindlich. Dennoch wurden die meisten Aufnahmen mit ihnen realisiert. Dafür drehte man das elektrische Licht voll auf, wodurch man das letzte aus den Kameras raus holen konnte. Bei dem Konzert griffen die Macher auf eine traditionelle Beleuchtung zurück, um die Gesichter des Chors aus dem Dunklen zu holen. Die Teile des Videos, in denen dann das Licht zu sehen wäre, wurden nachgedreht. Diese Vorgehensweise ist dem Mangel an Alternativen geschuldet. Nachdem einige Kameramodelle erfolglos durchprobiert wurden – bei ihnen verstellte sich während des Drehs eines der fünf manuell justierten Objektive, oder es gab ein Problem mit einer der Speicherkarten – kam die Berliner Firma INVR.SPACE mit einem speziell konstruierten Metallgestell an Bord, in dem sie fünf sehr lichtstarke Sony Alpha 7-Spiegelreflexkameras spannte.

Einige Teile des Doms wurden auch fotografisch ergänzt. Die Fotos entstanden als Photogrammetrien. So kann man sich in ihnen bewegen und etwa in der Krypta, einer Seitenkapelle oder oben auf einem der Balkone entlanggehen. Diese Photogrammetrie lässt sich jedoch nur auf den sehr leistungsstarken VR-Brillen HTC Vive und Oculus Rift erleben, weil nur hier das latenzfreie Rendern der Bilder gewährleistet ist. Gehostet ist der Beitrag auf der Gamer-Plattform Steam. Die einzelnen Orte im Dom erreicht man indem man mit Hilfe einer Steuerung, die man in der Hand hält, auf die entsprechenden Ziele in einem Dommodell in der VR klickt. Auch der Ton bleibt nicht statisch. Wenn man sich beim Orgelkonzert durch den Raum bewegt, verändert sich gleichzeitig auch der Ton analog zu den akustischen Bedingungen des Standorts. Bewerkstelligt wird dies über das Gyroskop im Smartphone sowie Spezialkopfhörer.

Gehört auf der Habenseite die Erschließung neuer Zielgruppen wie eine neue journalistische Qualität, so sind Virtual Reality und 360° auf der anderen Seite noch etwas teuer. „Bei neuen Technologien ist zuerst immer alles teurer und in diesem Fall kommt auch noch der aufwändigere Workflow hinzu“, sagt Stefan Domke. „Aber das wird sich mit der Zeit nivellieren. Womit wir uns aber auch auseinandersetzen müssen, sind die fehlenden Standards, die Frage auf welcher Plattform man die Inhalte verbreitet, wie die Geschichten erzählt werden und wie man mit Schnitt, Off-Ton und Ton generell umgeht. Außerdem muss so erzählt werden, dass der Zuschauer Zeit hat sich umzuschauen, wobei ihm gleichzeitig auch Hinweise gegeben werden müssen, wo er hinschauen soll, um der Geschichte folgen zu können.“

Inside Auschwitz

Mit „Inside Auschwitz“ gelingt es den Machern Jürgen Brügger, Jörg Haaßengier und Gerhard Schick, dem Zuschauer die unglaubliche Größe und Effizienz des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zu vermitteln. Obwohl kein Mensch zu sehen, das Lager zum größten Teil zerstört ist und die Aufnahmen an einem sonnigen Herbsttag gemacht wurden, fühlt man auf erschreckend deutliche Weise was für eine menschenverachtende Maschinerie hier errichtet worden ist und wie die Unterbringung, Versklavung und Vernichtung hunderttausender Menschen organisiert wurde. Die Aufnahmen erreichen gleichermaßen Gefühl und Verstand ohne manipulativ zu sein, denn man befindet sich an dem Ort des Geschehens und kann ihn in aller Ruhe ansehen.

Mit Drohnenaufnahmen lässt sich die Größe des Geländes erahnen, dessen Begrenzungen man nicht erkennen kann. Eine Kamera auf den Bahngleisen des KZs verdeutlicht die Länge der Züge, die hier gehalten haben. Dreht man sich in die eine Richtung erkennt man das berüchtigte Zugangsgebäude, dreht man sich in die andere Richtung blickt man an der langen Rampe entlang, um dann zu sehen wie sie und der Schienenstrang sich vermeidlich endlos in den Horizont ziehen. Begleitet wird der Zuschauer von drei Zeitzeuginnen, neben denen man steht. Schaut man sie nicht direkt an, wenn sie auftauchen, wird man durch die Platzierung des Tons geführt, um sich zu ihnen drehen zu können. Die Aufnahmen mit den Zeitzeuginnen wurden mit Hilfe eines Monitors gemacht, der an dem Stativ der VR-Kamera angebracht war und über den die Macher mit ihnen kommunizierten. Als Kameras wurden Würfel aus GoPro-Kameras benutzt. Die Drohnenaufnahmen wurden mit einem fliegenden Würfel aus GoPro-Kameras gemacht, die von SpiceVR, einem Start-up, das aus der Technischen Hochschule Braunschweig hervor ging, entwickelt wurde. Die Drohne hat acht Propeller und sechs Kameras, die so angebracht sind, dass die Propeller nicht im Bild erscheinen, aber dennoch ein nahtloses VR-Bild entsteht.

„Als wir mit Virtual Reality anfingen, fragten wir uns: wie kann man die Leistung des Dokumentarfilms, nämlich das Verstehbarmachen, in die digitale Welt übertragen“, sagt Maik Bialk, Redaktionsleiter von Hier und Heute, dessen Redaktion „Inside Auschwitz“ betreut hat. „Wir wollen die Menschen erreichen, hinter ihre Schilde gelangen, die sie aufbauen, damit nicht mehr alles ungehindert an sie gelangen kann.“ Damit dies gelingt, darf der Showeffekt von VR allerhöchstens als Köder dienen. Ansonsten gilt das gleiche wie bei jedem journalistischen Produkt: solides erzählerisches Handwerk, ernsthafte Inhalte, Substanz, Wissensvermittlung, verständlich machen von Prozessen und Zusammenhängen, Interesse wecken, Relevanz aufzeigen. Gerade die letzten beiden Punkte sind nicht ohne eine gewisse Emotionalität zu erreichen. Denn nur was berührt, wird auch als relevant eingestuft.

„Mit dem Mittel Virtual Reality wollen wir durchaus Empathie wecken“, sagt Haaßengier. „Showeffekte hingegen wollen wir auf keinen Fall.“ Es ging den Autoren darum Informationen so aufzubereiten und zu vermitteln, dass sie den Betrachter so erreichen, als ob er selber vor Ort ist. Dieses ‚Ausgesetztsein‘ führt zu einer anderen Betrachtung, einer anderen Wahrnehmung, die durchaus mit Emotionen einhergeht, wie jedes ‚dabei sein‘, ‚Zeuge sein‘ Emotionen erzeugt. Da jedoch Emotionen schnell missbraucht werden können, kommen nur wenige Themen für eine Aufbereitung mit VR in Frage wie Jörg Haaßengier und Jürgen Brügger, die ihr Projekt bei der re:publica vorstellten, betonten. Es ist immer noch wichtig einen objektiven Abstand wahren zu können. „Die Geschichte bestimmt die dramaturgischen Mittel“, sagt Haaßengier. „Die erzählerische Ebene muss immer funktionieren.“ Anders ausgedrückt: Die journalistische Objektivität ist auch bei 360° und VR Maß aller Mittel, alles andere wäre Propaganda. Als nächstes Projekt möchten die Macher gerne die Geschichte der Menschen erzählen, die auf der größten Müllhalde für Elektroschrott in Afrika ihren Lebensunterhalt verdingen. Die Müllhalde liegt im Stadtviertel Agbogbloshie, in Ghanas Hauptstadt Accra und gilt als einer der verseuchtesten Orte der Welt. Der Elektroschrott kommt aus Europa – illegal. „Wie bei ‚Inside Auschwitz‘ ist VR ideal, um den Abgrund des Ortes in einer Art spürbar zu machen, wie es mit einer Reportage, einer Dokumentation alleine nur bedingt geht“, so Brügger.

„Inside Auschwitz“ wurde nicht nur für den Grimme Online Award nominiert, sondern auch für den Webvideopreis Deutschland. „Wir haben das Projekt dort nicht eingereicht“, erzählt Maik Bialk. „Eigentlich werden beim Webvideopreis Projekte nominiert, die sich über Social Media, also die Plattformen der ‚Unreachables‘ verbreiten. Das heißt wohl, dass es ein Bedürfnis nach solchen Inhalten auch bei denen gibt. Sie müssten es ja nicht ansehen, tun es aber wie die erhöhten Abrufzahlen nach Bekanntgabe der Nominierung gezeigt haben.“ Und der Film erhielt am 1. Juni dann auch einen Webvideopreis.

Für Bialk sind 360° wie auch Virtual Reality über Projekte wie „Inside Auschwitz“ ein konkretes journalistisches Mittel für das tägliche Nachrichtengeschehen. „Damit ist eine vertiefende Auseinandersetzung mit einem Thema möglich“, sagt er. „VR hat den Anspruch relevanten Journalismus zu machen.“ Dabei spielen zwei Punkte eine Rolle. 1.: es muss ein Journalismus entwickelt werden, der berührt und dem Zuschauer erlaubt eine Perspektive auf das Geschehen einzunehmen und 2.: er muss den Nutzer stärker zum Teil der Ereignisse machen und ihm helfen eine Gehentscheidung zu treffen – also in welche Richtung er im VR-Raum geht, welche Personen er dort anspricht, welche Hintergrundinformationen er abfragt. „Da hat Nonny de la Peña in den USA schon Wege beschritten, die die Zukunft des Journalismus und der Dokumentation im virtuellen Raum aufzeigt“, meint Bialk. Die ehemalige Newsweek-Journalistin Nonny de la Peña wird als die ‚Patin des immersiven Journalismus‘ bezeichnet. Als nächste Projekte wird die ‚Hier und Heute‘-Redaktion die Ereignisse um das Love Parade-Unglück im Juni 2010 in Duisburg und den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz im vergangenen Jahr in VR aufbereiten.

360-Grad-Sport-Videos

Auch beim Sport hat der WDR erste Erfahrungen mit 360°-Videos gemacht. „Uns geht es hierbei darum die Nutzer dorthin zu bringen, wo sie nicht hin können – auf die Strecke und hinter die Kulissen“, sagt Marc Rehbock, der beim WDR Autor für alle digitalen Produkte von sportschau.de ist. Dann geht es etwa auf eine Skischanze zum Skispringen, auf die Biathlon-Strecke mit Michael Rösch, in die Alpen mit Free-Skiern, zum Rollstuhl-Basketball oder in die Kabine des Handball-Bundesligisten HSG Wetzlar. „Beim Rollstuhlbasketball haben wir übrigens unterschätzt wie schnell die sich drehen können“, sagt Marc Rehbock. „Das ist für 360° schon ganz schön hart. Aber um dem Nutzer auch diese Erfahrungen zu geben, haben wir kurze Sequenzen mit eingeschnitten.“ Das Feedback ist laut Rehbock überaus positiv. Allerdings schauen sich die wenigsten die kurzen Clips mit Brille an. Rehbock produziert etwa einen 360°-Clip von zweieinhalb bis drei Minuten Länge pro Monat. „Länger ist nicht sinnvoll“, hat er festgestellt. „Die Clips erschöpfen sich trotz allem doch recht rasch.“ Hergestellt werden die Hinter-den-Kulissen-Clips übrigens sowohl mit Team, als auch als VJ. Letzteres lässt sich ganz unkompliziert und spontan mit der Samsung Gear 360-Kamera bewerkstelligen, die in jede Jackentasche passt und mit dem Smartphone verbunden ist.

Thomas Steiger

MB 3/2017

© WDR

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