Dramaturgisches Neuland

Auf dem auch von Jüngeren gerne gesehenen Sendeplatz des ZDF Montagskino wird am 26. Mai um 22.15 Uhr der niederländische Thriller „App“ ausgestrahlt. Laut ZDF wurde er erstmalig für einen Kinofilm dramaturgisch mit einer eigens dafür entwickelten App verknüpft, die man parallel auf den Second Screen nutzen kann.

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Dramaturgisches Neuland

Mehr noch: Anlehnend an die Inhalte des Thrillers „App“ will das ZDF am Tag nach der Ausstrahlung die entsprechende Computertechnologie-Thematik von morgens bis abends mit mehreren aktuellen Beiträgen und Dokumentationen grundsätzlich beleuchten. Und: Immerhin drei ZDF-Hauptabteilungen sind am experimentellen Gesamtprojekt beteiligt: „Spielfilm“, „Neue Medien“ und „Aktuelles“.

Wie es sich für einen guten Thriller geziemt, fängt der Film „App“ nach einer zunächst rätselhaften Auftaktszene im unspektakulären Alltag an. Das Leben der späteren Heldin Anna spielt sich zwischen Uni, Hobby und Freunden ab, mit denen man sich auf feuchtfröhlichen Feten tummelt. Als Anna nach einer durchzechten Nacht mit dickem Kopf zu ihrem Smartphone greift, wird sie plötzlich von der App „Iris“ begrüßt, die sich auf geheimnisvolle Weise aufgeladen hat. Was „Iris“ dann an eigenwilligen Aktionen unternimmt – von Videoaufnahmen über Eingriffe in andere computergesteuerten Systeme bis zu lebensgefährlichen Datenmanipulationen – führt zu Angst und Schrecken, zu einem Selbstmord, zu Unfällen und vielen weiteren mysteriösen Konfusionen. App „Iris“ nimmt Annas Lebenswelt voll in den Griff, und Anna versucht mutig mit immer aggressiveren Methoden herauszufinden, wer oder was hinter „Iris“ steht, und wie sie die App, die sich immer mehr verselbständigt, endlich wieder los werden kann.

Der Thriller ist von Regisseur Bobby Boermans scheinbar mit leichter Hand inszeniert. Tatsächlich gibt es jede Menge Videoeffekte, die man aber seltsamerweise als real erlebt. Was daran liegen kann, dass sich virtuelles und echtes Leben ja auch im normalen Alltag häufig zu vermischen scheinen. Um es kurz, ohne etwas Konkretes zu verraten, auf den Punkt zu bringen: Der Film „App“ ist auch ohne die Verbindung mit dem Second Screen höchst sehenswert und die attraktive Heldin Anna wird von der niederländischen Schauspielerin Hannah Hoekstra so unprätentiös authentisch verkörpert, wie man es von deutschen Schauspielern leider selten auf dem TV-Schirm erlebt.

Spielerische Dimension

Doch Doris Schrenner von der ZDF-Hauptabteilung Spielfilm, die den Film ausfindig gemacht hat, hat weniger Gefallen an seiner Leichtfüßigkeit gefunden, sondern mehr an dem „Neuland“, das der ursprünglich fürs Kino produzierte Thriller mit seiner zusätzlichen App beschritten hat. Schrenner ist überzeugt, dass die zusätzlichen Informationen, Kameraeinstellungen, SMS-Dialoge, die die App auf dem Second Screen bietet, eine neuartige dramaturgische spielerische Dimension dem Erlebnis Film hinzufügen könne. So werde der App-User über den Second Screen beispielsweise zum „Mittäter“ wenn die Studenten im Film mit ihren Handys einen Selbstmord filmen oder die Nacktbilder der Protagonistin auch auf dem Second Screen landen. Zugleich könne sich der Zuschauer als ein „Opfer“ seiner eigenen Neugier empfinden, wenn er merke wie sorglos naiv er selber im Internet agiere. Und wer den Second Screen benutze, sei der Handlung im Film mit zusätzlichen Erkenntnissen voraus. Indessen hatte man bei einem Screening in Berlin bereits im März Gelegenheit, die zusätzliche dramaturgische Funktion der App auf dem Second Screen zu testen. Was man aber durchaus als wenig erleuchtend im Vergleich zum Film selber erleben konnte. Zumal es auch ein bisschen nervig war, abzuwarten, wann die Vibration des Smartphones dazu aufforderte: jetzt auf den Second Screen schauen! Dazu räumte Schrenner ein, dass man sich den Film mit zusätzlicher App mehrfach anschauen müsse, um dann die dramaturgische Raffinesse zu begreifen.

Komplexe technische Funktion

Jedenfalls hat das ZDF eine Menge Aufwand – auch in finanzieller Hinsicht – betrieben, um den Kinofilm in deutscher Sprache fernsehtauglich zu machen und die App an der deutschen TV-Version, die auch auf DVD erscheinen wird, anzupassen. Entwickelt wurde die App zum Film unter hohem Aufwand von der niederländischen Firma Service2Media. Mit ihr hat dann auch die ZDF-Hauptabteilung Neue Medien intensiv zusammengearbeitet, um die App auf die deutsche Version um zu programmieren, erklärt Frank Baloch als der dafür verantwortliche Redakteur: Sie ist nicht mit dem Internet verbunden, die Inhalte sind nicht in einer Cloud gelagert, sondern sie werden mit dem Download komplett lokal auf das Endgerät geholt. In der Apple-Variante handelt es sich dabei um satte 78 MB, was natürlich sehr viel Speicherplatz braucht. Zeitgleich zum Start des Films muss die App aktiviert werden. Über das in Smartphone oder Tablet eingebaute Mikrofon wird der Filmton im Hintergrund entschlüsselt. So weiß die App immer genau, welche Sequenz gerade auf dem First Screen läuft.

Auf der Filmseite, so Baloch, „werden die Tonspuren mit einem für das menschliche Ohr unhörbaren Wasserzeichen versehen“. Und die App sei so programmiert, dass sie weiß, wann sie welche gespeicherten Inhalte zeigen soll. Baloch ist überzeugt, dass es sich um die nun prototypische App um „einen vielversprechenden Ansatz“ handele, den Second Screen ohne großes Zutun der Zuschauer mit dem Fernsehsignal zu koppeln, um zusätzliche Inhalte anbieten zu können. Zwar ließe sich ein Live-Signal wie eine Nachrichtensendung mit dieser App-Art noch nicht mit zusätzlichen Inhalten bestücken. Punktuell käme dies allerdings für erfolgversprechende serielle Formate in Frage, um die Dramaturgie noch spannender zu machen. Andererseits hat Baloch bei der Umprogrammierung der App gelernt: App und Film über das Tonsignal abzugleichen, sei aktuell noch viel zu arbeitsintensiv und zeitaufwändig, um den Second Screen mit diesem Synchronisationsverfahren, das er in Richtung Zuschauer für die „eleganteste Variante“ hält, schon dauerhaft einzusetzen.

Kein Science Fiction

Begeistert und inspiriert vom Thriller „App“ zeigt sich ZDF-Vizechefredakteur Elmar Theveßen, der gleichzeitig auch ZDF-Experte für Geheimdienste und organisierte Kriminalität ist, aus noch anderen Gründen. Der Film, der bereits 2012 produziert worden ist (übrigens ohne Beteiligung des ZDF), greife viele Elemente auf, die rund um die NSA-Affäre und beispielsweise das, was Google an Datensammlungen betreibt, höchst aktuelle Bezüge habe: Absaugen und manipulieren von Daten, Einschleusen von Algorithmen und Daten in verschiedenste computergesteuerte Systeme, die selbständige Fortpflanzung von Computerintelligenz in andere Hardware – vieles von dem, was der Film zeige, sei heute schon machbar. Ein gezielter Mordschlag per Ampelschaltung, einer der Videoeffekte im Film, sei dagegen zwar heute noch Science Fiction, wohl aber nicht mehr lange. Denn zunehmend lasse sich jede Infrastruktur, die mit dem Internet verbunden sei, manipulieren. Dazu will Theveßen am Tag nach der Ausstrahlung nicht nur zwei Dokumentationen zeigen, die er selber als Autor verantwortet. Als Vizechefredakteur hat er zudem angeordnet, dass an diesem Tag die „App“-Thematik in allen aktuellen Beiträgen und Magazinen aufgenommen wird. Was die hohe Wirkkraft des Thrillers „App“ beweist.

Erika Butzek

(MB 3/14)

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