Dialognotstand

„Pseudo-Dokumentationen und seichte Serien – Fernsehen im Erzählnotstand“? So lautete der Titel des jüngsten „Mainzer MedienDisput Berlin“ der Landesvertretung Rheinland-Pfalz beim Bund In den Ministergärten am 4. November. Damit war die Erwartung nach einer Diskussion geweckt, die das Filmangebot im Fernsehen kritisch unter die Lupe nimmt, zumal der Kooperationspartner diesmal die Arbeitsgemeinschaft Dokumentation (AG DOK) war, die das Veranstaltungskonzept maßgeblich verantwortete.

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Dialognotstand

Um es vorwegzunehmen: In der Quintessenz offenbarte die Diskussion weniger einen Erzählnotstand im Filmbereich des deutschen Fernsehens, sondern mehr einen Dialognotstand in der Branche, der vermutlich durch den digitalen Medienumbruch und einen Generationswechsel zustande kommt. Es wurden insbesondere von TV- und Film-Produzent Dr. Lutz Hachmeister (54), der auch unter anderem Direktor des Instituts für Medienpolitik ist und in der Vergangenheit sowohl als Grimme-Direktor wie als ZDF-Berater wirkte, bürokratische Missstände im öffentlich-rechtlichen System offen gelegt wie auch ein seltsames Finanzierungssystem für Dokumentarfilmer, die sie zu „Fundraisern“ machen. Es gab ansonsten ein babylonisches Sprachgewirr, was allerdings die schätzungsweise 400 Veranstaltungsbesucher offensichtlich gar nicht störte. Auf diese Weise kam wohl fast alles zur Sprache, was sie als Insider auf dem Herzen hatten. Dabei setzte sich das Publikum vorrangig aus Filmschaffenden und Medienbeobachtern zusammen, die eher zu der älteren Generation gehören. Und viele von ihnen sehnen sich – wie ihre Wortmeldungen und die Podiumsdiskussion nahe legen – nach einem alten öffentlich-rechtlichen Fernsehsystem nostalgisch zurück, das sich vermeintlich speziell im Bereich Film hauptsächlich nur auf hohe Kultur und die wahre Abbildung der Wirklichkeit in Form von Dokumentarfilmen mit künstlerischer oder journalistisch-investigativer Handschrift kaprizierte, – jenseits von Einschaltquoten, natürlich. Es ging nicht darum, wie man Qualitätsfilme für ein möglichst breites TV-Publikum macht, sondern um die höchsteigenen Arbeitsbedingungen der Filmmacher selber.

Bürokratische Arbeitsbedingungen

Am Beispiel von dem mittlerweile, wie er betonte, 71jährigen Produzenten Hans-Georg Ullrich (AG DOK), wurde deutlich, dass, wer vor mehr als 25 Jahren als Dokumentarfilmer in das öffentlich-rechtliche System eingestiegen war, von Redakteuren als Auftraggeber betreut wurde, die sich nicht als Manager gerierten, sondern das Projekt qualitativ nach vorne treiben wollten – und auch die Freiheit im System dazu hatten. Ullrich hat noch Glück gehabt. Er konnte im Auftrag von ARD-Sendern die Langzeit-Dokumentation „Berlin – Ecke Bundesplatz“ über einen Zeitraum von 26 Jahren bis 2012 mit insgesamt 62 Filmen realisieren. In der Kategorie „Beste Leistung“ hat er dafür den Deutschen Fernsehpreis 2013 erhalten. Als guten Rat für seine jungen Kollegen hatte er parat: „Weitermachen!“, sie müssten Druck auf die Redakteure ausüben. In der Schlussphase seiner Langzeit-Dokumentation musste sich aber auch Ullrich zusätzliche Gelder aus der regionalen Filmförderung des Medienboards Berlin-Brandenburg besorgen.

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Die renommierte Filmregisseurin und Drehbuchautorin Connie Walther (51), die unter vielen anderen 2010 mit dem Grimme-Preis für „Frau Böhm sagt Nein“ geehrt worden ist, beklagte, dass man heute kaum mehr Möglichkeit habe, Stoffe anzubieten, die gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegeln. Beim Wandel des Fernsehsystems sei früher nur die Maßgabe erteilt worden, man solle bei der Stoffentwicklung berücksichtigen, dass auch eine am Abend ausgepowerte Krankenschwester den Film noch nachvollziehen könne. Nachdem heute ARD/ZDF sich im scharfen Wettbewerb mit den privaten Sendern sehen, sei daraus die Forderung nach „Massenkompatibilität“ geworden. Das sei „kein Fernsehen für die Intelligenz“. Zudem hätten Redakteure heute „nicht mehr die Macht, inhaltlich zu entscheiden“. Entscheidungen würden vielmehr „von einem ganzen Konsortium“ gefällt. Die Arbeitsbedingungen seien so, dass „wir als Regisseure gar nicht mehr dazu kommen, mit den Autoren zu reden“. Reichte es früher aus, die Filmidee auf einer Seite zu skizzieren, werden heute von den Redakteuren mindestens 15 Seiten Exposé erwartet, weil sie genau wissen wollen was in jeder Minute des Dokumentarfilms passiert, berichtete Hachmeister. Mit solchen fast an Scripted Reality angelehnten Methoden werde die Chance für Dokumentarfilme vergeben, Recherchen offen anzugehen, so dass man eine „steile These“, die man am Anfang aufgestellt hatte, auch wieder revidieren könne, wenn man eine andere Wirklichkeit vorfinde. Er forderte mehr Mut in den Redaktionen. Wobei Hachmeister gleichzeitig kritisierte: „Öffentlich-rechtliche Sender sind bürokratische Systeme, die sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigen, mit der „Bewirtschaftung“ ihrer eigenen Lage. Stimmt das?

Babylonischer Wirrwarr

Das wollte Moderator Prof. Dr. Thomas Leif, SWR-Chefreporter und Talkmaster von 2+leif, von Prof. Carl Bergengruen wissen. Letzterer amtiert zwar offiziell noch als Vorsitzender der Geschäftsführung von Studio Hamburg, einer 100prozentigen NDR-Tochter, firmierte aber bereits in seiner künftigen Funktion als Geschäftsführer der Medien und Filmgesellschaft Baden-Württemberg. Bergengruen wich denn auch der Frage aus und betonte stattdessen: „Überall in der Welt ist jeder Film ein Risiko“. Und überall gebe es sowohl Trash als auch anspruchsvolle Programme. Weil „TV ein Massenmedium“ sei, so Bergengruen, gebe es auch viel Mittelmaß, da man „nicht allein mit Qualität“ das Ziel erreichen könne, „viele Menschen“ anzusprechen.

Im Folgenden wurde Dies und Das gefragt und Dies und Das auf dem Podium und aus dem Publikum angemerkt. Mal ging es um die vorbildliche öffentlich-rechtliche dänische fiktionale Serie „Borgen“, mal um die Allmacht der Quote oder, ob Netflix für Deutschland ein Hoffnungsschimmer ist, man stellte fest, dass es viele verschiedene Definitionen für das Genre Dokumentation gibt, fragte, welchen Einfluss Scripted Reality auf Programme hat und wie man Staatsferne der Rundfunkgremien erreichen kann. Der sichtlich genervte und fahrig agierende Moderator Leif stellte schließlich die Schlussfrage an die Runde: Wenn man die Chance hätte, was würde man am Fernsehsystem ändern? Natürlich hatte jeder eine andere Antwort, in folgender Reihenfolge: Man müsse zwischen Fernsehen und Filmkultur trennen. Die Deutschen müssten lernen Fernsehen zu lieben. Man dürfe in Diskussionen nicht die Genres verwechseln. Das Betreuungsfernsehen müsse weg. Man müsse weg von Polemik und Konfrontation mit dem Ziel, gute Programme zu machen. Last but not least müssen wieder Redakteure her, die den Dokumentarfilm pflegen. Alles klar?

Unerwähnt während der Diskussion blieb, was denn der eigentliche Anlass für den Mainzer MedienDisput unter seinem provokanten Titel war. ZDFneo hatte im August eine sogenannte „Dokureihe“ unter dem Titel „Auf der Flucht – Das Experiment“ – übrigens ohne Quotenerfolg – ausgestrahlt: eine Adaption eines erfolgreichen australischen Formats, in der das gesellschaftlich-relevante Thema „Flucht und Asyl“ mit Unterhaltung vermischt wird – beziehungsweise umgekehrt. Weshalb es Bergengruen, unter dessen Ägide es von Studio Hamburg produziert worden ist, „Factual Entertainment“ nennt. Die AG DOK hingegen spricht von „Scripted Reality“ und einer „Pseudo-Dokumentation“, die „keinen differenzierten Zugang zur Welt“ schafft, sondern nur „vorhersehbares Affektfernsehen“ liefert. Ruft man „Auf der Flucht“ in der ZDF Mediathek ab, ist schon nach wenigen Minuten klar, dass sich die Dokuserie an die kreischende Machart von RTL-Reality-Formaten orientiert, bis hin zur Tonalität der Off-Stimme. Nun wurde „Auf der Flucht“ in der Kategorie „Doku/Dokutainment“ im Oktober mit dem Deutschen Fernsehpreis geehrt. Obwohl gleichzeitig in der Kategorie „Dokumentation“ ein Preis für den klassischen Dokumentarfilm „Hudekamp – ein Heimatfilm“ vergeben wurde, haben einige einflussreiche Feuilletonisten die Entscheidung für „Auf die Flucht“ verteufelt. Und die AG DOK hat schnell den Vorfall in den Mittelpunkt ihres Lobbying gegen die „Verantwortlichen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens“ gestellt, mit der Forderung diese müssten ihren „Auftrag der Grundversorgung mit informativen, bildenden und kulturellen Angeboten, die der private Fernsehmarkt nicht bieten kann“, wieder ernst nehmen. Ansonsten verfalle das „Gebühren-Privileg“. Genau darauf wies der AG DOK-Vorstandsvorsitzende Thomas Frickel auch während des Mainzer MedienDisputs hin und vergaß nicht zu erwähnen, wie es wohl auch ein Vertreter des Privatfunkverbands VPRT machen würde, dass man in Brüssel die Rundfunkgebühr als unzulässige Beihilfe betrachte, die nur gestattet sei, solange dafür Kultur angeboten werde.

Rolle des Sündenbocks

Die AG DOK findet bei Politikern Gehör. Wohlgemerkt: Die Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, Veranstalter des Mainzer MedienDisputs, ist Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder, die über die Rahmenbedingungen des deutschen Fernsehens entscheidet. Und ihre Chefin der Staatskanzlei, Jacqueline Kräege, ist deshalb federführend für die Koordination der aus den 16 Bundesländern bestehenden Kommission zuständig. Kraege stellte in ihrem persönlichen Grußwort zu Beginn der Veranstaltung fest, dass es wichtig sei, über „negative Programmentwicklungen“ gesamtgesellschaftlich zu diskutieren, um so „medienpolitische Impulse für die Veränderung der Rahmenbedingungen“ zu erhalten. Da die eingeladenen jüngeren Vertreter der „Pseudo-Dokumentation“ und „seichten Serie“ nicht erschienen waren, musste die TV-Programmkritikerin Claudia Wick in ihrer Funktion als Jurorin des Deutschen Fernsehpreises die Rolle des Sündenbocks übernehmen. Zweimal nahm sie Anlauf, um inhaltlich zu begründen, warum „Auf der Flucht“ den Preis gewonnen hatte. Zweimal wurde sie vom Moderator abgewürgt. Und auch Wicks Anmerkung, dass es in Deutschland „sehr viel, sehr gutes Fernsehen gibt“, dies aber wegen der TV-Kanalfülle schwierig zu finden sei, verhallte im Veranstaltungsraum. Es blieb Dialognotstand.

Erika Butzek
(MB 12/13_01/14)