Paradigmenwechsel

Am 1. Januar 2011 soll der novellierte Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in Kraft treten. Dieser sieht weitreichende Änderungen in der Zusammenarbeit der Selbstkontrollorgane sowie die Einführung freiwilliger Alterskennzeichnungen und den Einsatz von Jugendschutzprogrammen vor.

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Paradigmenwechsel

Um den Jugendmedienschutz für die Anforderungen einer zunehmend konvergenten Medienwelt zu rüsten, wurde der Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien aus dem Jahr 2003 überarbeitet. Umfassende Änderungen betreffen die Zusammenarbeit der Selbstkontrollorgane, die in gleichen Bereichen tätig werden können, freiwillige Alterskennzeichnungen durch Internet- und TV-Anbieter sowie den Einsatz von Jugendschutzprogrammen auf heimischen Computern, die die Kennzeichnungen im Internet auslesen können. Kern ist eine Stärkung des bisherigen Systems der regulierten Selbstregulierung, dessen Erfolg in einer vom Hans-Bredow-Institut durchgeführten Evaluierung in 2007 bestätigt wurde.

Der novellierte Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) soll am 1. Januar 2011 in Kraft treten – ohne Übergangsphase, so dass Selbstkontrolleinrichtungen und die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), die die Aufsicht über Rundfunk und Telemedien (Internet) inne hat, unter deutlichem Handlungsdruck stehen.

Der Novellierungsprozess wurde von heftiger Kritik insbesondere durch von den Netzaktivisten geäußerte Zensurvorwürfe in puncto Altersklassifizierungen begleitet. Zum Start einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe zum neuen JMStV Anfang Oktober wies KJM-Vorsitzender Wolf-Dieter Ring diese Vorwürfe zurück: „Wer den neuen JMStV genauer unter die Lupe nimmt, wird erkennen, dass er nicht auf Zwang aufbaut, sondern auf das bewährte System der regulierten Selbstregulierung und damit größtenteils auf freiwillige Jugendschutzvorkehrungen der Anbieter setzt.“ Mit der Veranstaltungsreihe will man laut KJM-Stabsstellenleiterin Verena Weigand dazu beitragen, Fragen zur Umsetzung der überarbeiteten Regeln in die Praxis zu klären und Kritikpunkte diskutieren.

Das Auftaktgespräch drehte sich um die neuen Regelungen für die Selbstkontrolleinrichtungen. Filme und Computerspiele werden immer häufiger im Internet heruntergeladen. Daher ermöglicht der neue JMStV den Selbstkontrolleinrichtungen nach dem Jugendschutzgesetz (JuSchG), die für Kinofilme sowie Filme und Computerspiele auf Trägermedien zuständig sind, unter der Aufsicht der KJM freiwillige Alterskennzeichnungen für Filme und Online-Spiele vorzunehmen, die zum Download im Netz angeboten werden.

Das heißt, die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) treten neben die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia Diensteanbieter (FSM) und Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und unterliegen sämtlichen Vorgaben, die für die bereits anerkannten Selbstkontrolleinrichtungen nach dem JMStV gelten. Sie unterliegen auch dem neuen abgestuften Sanktionskatalog, mit dem die KJM ausgestattet wird, der Maßnahmen wie Beanstandungen, Auflagen und Widerruf beinhaltet.

Sowohl FSK-Geschäftsführerin Christiane von Wahlert als auch USK-Geschäftsführer Felix Falk kündigten an, sich gemäß dem JMStV von der KJM anerkennen zu lassen, um ihren Mitgliedern den vollen Service bieten zu können.

Unbedingt gelöst werden muss allerdings, so zeigte die Runde, die Problematik uneinheitlicher Bewertungen von Angeboten. Künftig können beispielsweise Anbieter von Online-Spielen ihre Produkte sowohl von der FSM als auch von der USK kennzeichnen lassen. Wichtige Voraussetzung für die Zusammenarbeit der Selbstkontrollinstanzen ist, dass der Gesetzgeber die gegenseitige Anerkennung der Kennzeichen ermöglicht hat. Die Vertreter der Selbstkontrolleinrichtungen sprachen sich im Zuge der Veranstaltung für eine effektive Kooperation aus. Von Wahlert mahnte jedoch eine dringende weitere Harmonisierung der beiden Rechtsgrundlagen JuSchG und JMStV. Sie forderte mehr Zeit für die Umsetzung der neuen JMStV-Regelungen.

Bisher sind Rundfunk- und Internet-Anbieter von jugendgefährdenden oder entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten dazu verpflichtet, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu diesen Inhalten mittels technischer Zugangssysteme oder Sendezeitbegrenzungen unmöglich zu machen oder wesentlich zu erschweren. Das bleibt auch so. Neu ist jetzt, dass diese Anbieter, dazu gehören auch Social-Web-Plattformen, die jugendschutzrechtlichen Verpflichtungen auch dadurch erfüllen können, in dem sie ihre Inhalte mit einem Alterskennzeichen ab 0, 6, 12, 16 oder 18 Jahre versehen. Im Bereich des Internets müssen diese Alterskennzeichen von einem anerkannten Jugendschutzprogramm ausgelesen werden können, so dass künftig Eltern mittels dieser Filtersoftware auf dem PC Internet-Inhalte ab bestimmten Altersstufen blockieren können.

Grundsätzlich können Anbieter selbst oder unter Zuhilfenahme eines automatisierten Selbstklassifizierungssystems kennzeichnen und von Selbstkontrolleinrichtungen kennzeichnen lassen. Ziel soll es sein, ein nutzerfreundliches Alterskennzeichnungssystem zu etablieren, das alle Medien einschließt.
Wie wichtig stringente Alterskennzeichnungen sind, betonte FSF-Geschäftsführer Joachim von Gottberg: „Eltern wollen einen vergleichbaren, nachvollziehbaren Jugendschutz. Nach außen sollten wir deshalb wie eine Selbstkontrolle aussehen.“ Von Gottberg befürwortete außerdem Alterskennzeichen für alle Sendungen im Fernsehen. Der Einsatz automatisierter Selbstklassifizierungssysteme stellt den Jugendschutz-Experten zufolge in Deutschland einen Paradigmenwechsel im Jugendschutz dar. Da die große Masse von Internet-Inhalten mit der bisherigen Einzelfallprüfung nicht bewältigt werden kann, sieht der Gesetzgeber in Ergänzung eine technische Unterstützung in Form eines Selbstklassifizierungssystems vor. Anbieter haben so die Option, ihre Inhalte durch ein Selbstklassifizierungssystem prüfen und labeln zu lassen, das von einer Selbstkontrollinstanz anerkannt ist. Um einen Anreiz zu schaffen, dass möglichst viele Anbieter ihre Inhalte durch Selbstklassifizierungssysteme korrekt kennzeichnen, werden diese dann von Bußgeldverfahren durch die KJM ausgenommen sein.

Die FSM stellte bei den diesjährigen Medientagen München die Beta-Version ihres Selbstklassifizierungs-Tools vor, mit dem Internet-Anbieter im Stil eines Online-Fragebogens in zehn Schritten ihre Webseite gemäß Jugendschutzkriterien klassifizieren können. Am Ende des Prozesses weist das System dem betreffenden Angebot ein Altersfreigabe-Label ab 0, 6, 12, oder 18 Jahre zu.

Die FSF will wahrscheinlich ein Modul dazu erstellen, das mit längeren Formaten wie Spielfilmen arbeitet, die eher untypische Internet-Inhalte sind. Das FSM-System soll zudem für mobile Internet-Inhalte genutzt werden können. Otto Vollmers, juristischer Referent der FSM, geht davon aus, dass das Selbstklassifizierungssystem noch im Dezember fertig programmiert sein wird und eingesetzt werden kann. Für kommerzielle Anbieter solle die Nutzung kostenpflichtig sein, für private kostenfrei.

Von Seiten der Anbieter, das machten Heiko Zysk von ProSiebenSat.1-Gruppe und Valentina Daiber von Telefónica O2 bei der anschließenden Paneldiskussion deutlich, setzt man große Hoffnungen in ein solches Selbstklassifizierungssystem, da die kontinuierliche Prüfung von Inhalten im Internet einen erheblichen Aufwand für die Unternehmen bedeutet. Allerdings hänge der Erfolg des Systems maßgeblich davon ab, darin waren sich alle Diskutanten einig, wie viele Unternehmen sich am Ende tatsächlich daran beteiligten. Denn nur wenn viele Webseiten gekennzeichnet seien, habe das Jugendschutzprogramm auch etwas, was es verarbeiten könne.

Auch Regulierer und Aufsicht stünden einem Selbstklassifizierungssystem positiv gegenüber, betonten sowohl Klaus-Peter Potthast, Rundfunkreferent der Bayerischen Staatskanzlei, als auch die KJM-Stabsstellenleiterin. Neben den Chancen gebe es aber Risiken, merkte Weigand an. Den Anbietern sei heute noch nicht klar, ob sie sich dem freiwilligen Selbstklassifizierungssystem unterwerfen wollten. Sie und Potthast waren sich einig, dass Selbstklassifizierung allein nicht ausreichen werde. Weigand: „Das von einer Maschine machen zu lassen, stößt beim traditionellen Jugendschutz auf Skepsis.“ Bisherige Systeme brächten eine 80-prozentige Übereinstimmung mit der Einzelfallprüfung.

Die Kardinalfrage sei: „Wie kriege ich die Fälle heraus, bei denen es Diskussionsbedarf gibt.“ Potthast erklärte: „Es wird immer Nachkontrolle durch eine Aufsicht geben müssen.“ Außerdem betonte er die Wichtigkeit, neben Anbietern auch die Eltern aktiv in den Jugendmedienschutz einzubinden: „Auch das beste Selbstklassifizierungssystem kann Elternverantwortung nicht ersetzen.“

Anerkannte Jugendschutzprogramme gibt es bisher noch nicht. Bis Ende des Jahres wollen die Jugendschutzorgane den technischen Standard definieren, den die Jugendschutzprogramme erfüllen sollen und nach dem sich die Entwickler solcher Filtersoftware richten müssen. Weigand sagte zu den Akzeptanzchancen: „Es hängt davon ab, wie einfach das Programm für Eltern einsetzbar ist.“ Frühere Erfahrungen mit den so genannten „Elternsperren“ hätten gezeigt, dass damals die Bereitschaft der Eltern, ein entsprechendes Programm von sich aus zu installieren und in Gang zu setzen, gering war. Das aber habe sich möglicherweise geändert, weil Eltern mittlerweile Internet-affiner seien. Für die Anerkennung der Jugendschutzprogramme ist die KJM zuständig. Eine fiktive Anerkennung durch die FSM ist möglich, wenn diese ein Jugendschutzprogramm positiv beurteilt und die KJM dies nicht innerhalb von vier Monaten beanstandet. Vollmers versicherte, dass die FSM so schnell wie möglich Kriterien für die Anerkennung ausarbeiten wolle.
Das nächste Fachgespräch der „kjm transparent“-Reihe findet am 28. Januar 2011 zum Thema Zugangssysteme/Jugendschutzprogramme statt.
Sandra Eschenbach
(MB 12/10_01/2011)