Zum Auftakt erläuterte Kerstin Niederauer-Kopf, Vorsitzende der Geschäftsführung der AGF Videoforschung, die Optionen und Risiken von anonymen Big Data-Sets in der Data Econony und konkret der Mediabewertung. In der Anforderung „Fight the Bias and combine Big Data with Smart Data“ sieht sie einen Lösungsweg, den die AGF auch ins Zentrum des eigenen Forschungsansatzes stellt. Panels mit einer Single-Source-Messung werden zukünftig deutlich stärker für Modellierung und Profilierung herangezogen werden müssen – insbesondere bei crossmedialen Fragestellungen. Datenschutz und Kosteneffizienz machen dies angesichts einer zunehmenden Marktfragmentierung notwendig. Umso wichtiger ist es, dass insbesondere das methodische Fundament mit einer entsprechenden Güte ausgestattet ist, da sich ein unentdeckter Bias ansonsten fortpflanze. Im Bereich der Mediabewertung könne es folglich leicht zu systematischen Fehleinschätzungen in der Bewertung von Medialeistung kommen, die es für Programmverantwortliche, Werbung- und Werbetreibende zu minimieren gelte.
In diesem Kontext kündigt sie in Vorbereitung auf ein neues Agentur-Lizenzmodell an, dass Media-Agenturen mit PIN-Datenlizenz vom 01.10. bis zum 31.12.2022 Sekundendaten für ein ausgewähltes Set an Sendern und Zielgruppen erhalten sollen, das die AGF in einem Dashboard bereitstellen wird. Die bestehenden Konventionen haben nach wie vor Gültigkeit. „Wir wollen damit keineswegs bestehende Standards und Konventionen wie den Werbeblock und die Ausweisung der 5-Minuten-Intervalle in Frage stellen. Wir möchten damit insbesondere den Agenturen in der täglichen Arbeit tiefere Einblicke aus einem Data Set gewähren, das seit Jahrzehnten das Fundament unserer Messung stellt‘“, so Niederauer-Kopf.
Im 2021 gestarteten AGF-Projekt X-Reach, bei dem die AGF den Ausbau der Messung auf non-video-Content testet, sieht Guido Modenbach, Executive Vice President Research, Analytics & Consulting bei Seven.One Entertainment, die AGF im Vorteil: „X-Reach hat eine große Bedeutung für die Vermarktung und die Contentseite. Für die AGF spricht ein ambitionierter Zeitplan mit der Perspektive, Mitte nächsten Jahres ein Angebot zu haben, das jeder nutzen kann. Dies sind gute Aussichten, um weitere Vermarkter zu gewinnen.“ Carsten Schwecke, CEO von Axel Springer All Media, ergänzt: „Wir sehen hier einen realistischen Ansatz, der zeitnah die Realität abbilden kann und zugleich in Sachen Panelaufstellung und Datenschutz sehr solide unterwegs ist.“
Die Bedeutung der crossmedialen Bewegtbildforschung betonte auch Claus Strunz, Chefredakteur Bild und Programmchef Bild TV/Video sowie Geschäftsführer TV und Video bei Axel Springer SE. „Bei Bild als größter crossmedialer Marke Deutschlands denken wir nicht mehr in Gattungen, sondern: was bewegt die Menschen in den nächsten 24 Stunden? Dann spielen wir das über alle Kanäle aus und TV hat dabei seine Stärken ganz klar in der Echtzeit-Berichterstattung.“
Von Corona bis Ukraine-Krise – die Multi-Krisen haben zu einer Konjunktur der Nachrichtensendungen geführt. „Die Privatsender reagieren auf diesen Wandel in den Zuschauerpräferenzen und rüsten ihr Angebot auf. Innovation bedeutet dabei nicht nur das Programm selber, sondern auch die Programmierung, wo neue Flächen aufgemacht werden“, sagte Malte Hildebrandt, Geschäftsführer der Gattungsinitiative Screenforce. Ines Imdahl, Inhaberin des Marktforschungsinstituts Rheingold Salon, sieht in diesem Zusammenhang eine wesentliche Funktion von TV in der Einordnung und in der Art der Aufbereitung für die einzelnen Zielgruppen: „Und da bekommt TV Konkurrenz aus Social Media.“
Zum Abschluss des AGF-Forum 2022 blickten die Experten noch in die Zukunft der crossmedialen Reichweitenforschung. Klaus-Peter Schulz, Geschäftsführer Organisation der Mediaagenturen (OMG), wiederholte die „Forderung, Mediennutzung so vollständig wie möglich abzubilden. Wir haben im Moment vier Milliarden Euro an TV-Spendings und zwei Milliarden Einnahmen durch Streaming. Letzteres wird über Leistungsdaten nicht ausreichend abgebildet. Es besteht also das dringende Erfordernis, Crossmedia so umfassend wie möglich abzubilden.“
Im Fokus steht dabei aktuell auch ein Ansatz des weltweiten Kundenverbandes WFA, der unter Mitarbeit der großen Digital-Plattformen Google und Meta entwickelt wird. Vor allem die Organisation der Werbungtreibenden im Markenverband (OWM) macht sich dafür stark. Norman Wagner, OWM-Vorstand und Leiter Konzern Media bei Deutsche Telekom, erklärte auf dem AGF FORUM: „Einen international einheitlichen Standard wird es nicht geben, dazu sind Länder zu unterschiedlich. WFA bietet aber einen Maschinenraum, wo man viele Arbeiten zentral lösen und dann lokal anpassen kann.“
Für Torsten Müller-Klockmann, Science Lead DACH bei Meta, ist der WFA-Ansatz ein „gangbarer Weg, mit dem man auch in Zukunft noch Digital messen kann, wenn etwa Cookies abgeschafft sein werden“. Dirk Bruns, Head of YouTube Sales bei Google, sieht im crossmedialen Reichweitenansatz eine Herausforderung, „die wir gemeinsam lösen müssen. Da sollte jeder gleichberechtigt am Prozess beteiligt sein und bestimmte Governance-Prinzipien garantiert sein, wie etwa Unabhängigkeit, dass der gesamte Ansatz von einer neutralen Partei verwaltet wird, sowie die faire Repräsentation aller Kanäle mit gleicher Stimmverteilung.“ OWM-Vertreter Norman Wagner macht in diesem Kontext deutlich, dass die OWM die AGF aufgrund ihrer Anlage und Kompetenz in der Läge sähe, ein sogenanntes Minimal Viable Product (MVP) für den deutschen Markt mit realen Daten und den entsprechenden Partnern zu entwickeln. Die Anfrage habe die OWM jüngst bei der AGF platziert.
Ist die deutsche Reichweitenforschung nun aber zu over-engineered für eine internationale Kooperation? AGF-Geschäftsführerin Kerstin Niederauer-Koch plädiert für mehr Pragmatismus, denn: „Ein Crossmedia-Ansatz ist nur gemeinsam zu schaffen und braucht viel Vertrauen. Er darf keine Blackbox sein, vielmehr müssen alle gleichberechtigt am Tisch sitzen. Wir haben viele Synergien mit dem WFA-Ansatz und wir haben auch die Panels als methodisches Fundament, die dafür benötigt werden. Und es wäre gerade ein gutes Momentum für eine solche wegweisende Entwicklung, die allerdings auch innerhalb der AGF konkretisiert und beschlossen werden müsse. Die grundsätzliche Offenheit bestehe aber, denn diese zentrale Fragestellung des Marktes müsse gelöst werden.“