„’Fantomas’ ist ein Leistungsbeweis des französischen Kinos in den 10er Jahren“, erklärt Nina Goslar, die in der ZDF/Arte-Redaktion auf die Restaurierung von Stummfilmen spezialisiert ist. „’Fantomas’ ist Pulp Fiction dieser Zeit, denn er bringt eine Modernität mit, die man einem Film damals nicht zugetraut hätte.“ Der Produzent Gaumont sei nicht nur an der technischen Perfektion der Filmherstellung interessiert gewesen, sondern auch an der Technik selbst, die neben Fantomas als zweiter Hauptdarsteller im Film fungiert. „’Fantomas’ ist ein Labor der Moderne, da dort bereits viele Dinge antizipiert worden sind, die uns auch heute beschäftigen wie eine Totalvernetzung.“ In der hundert Jahre alten Filmserie von Louis Feuillade sind es Autos, Telefone und Gasleitungen, welche die Verbrechen erst ermöglichen.
Das gesamte Werk, das aus fünf voneinander unabhängig erzählten Geschichten besteht, ist bereits zweimal restauriert worden. 1995 sicherte Gaumont das Nitro-Material durch ein im Analogverfahren hergestelltes Internegativ, bei dem jedoch die Zwischentitel fehlten und neu kreiert werden mussten. 1998 erfolgte eine zweite Restaurierung auf Video.
Um eine 4k-Digitalfassung von „Fantomas“ zu produzieren, wurde im französischen Filmarchiv zunächst eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Materials vorgenommen. Nach 100 Jahren ist das auf Nitrofilm vorliegende Originalnegativ noch mehr oder weniger gut erhalten. Zur Ergänzung fehlender Passagen und Zwischentitel wurden unter anderem zwei Kopien aus dem Archivbestand der Cinématheque francaise herangezogen. „Gaumont hat als erstes Filmunternehmen in Frankreich schon vor 30 Jahren mit der Restaurierung von Filmen begonnen“, berichtet Manuela Padoan, Leiterin des Archivs von Gaumont Pathé. Um die Restaurierung historischer Filme voranzutreiben, hat der französische Staat einen Fonds mit einem Gesamtvolumen von zehn Millionen Euro aufgelegt, mit denen binnen vier Jahren 300 Filme restauriert werden. Der „Die große Anleihe“ betitelte Geldtopf wird vom Centre National du Cinéma et de l’Image Animée (CNC) und vom französischen Kulturministerium verwaltet. Die Investitionen sollen langfristig durch Erlöse aus der Fernsehauswertung wieder amortisiert werden. „Stummfilme sind in diesem Finanzpaket nicht vorgesehen“, erläutert die Archiv-Leiterin. „Deshalb hat uns das CNC eine spezielle Unterstützung zur Digitalisierung von Stummfilmen gewährt.“ Als Partner für die aufwändige digitale Restaurierung von „Fantomas“ in 4k hat Gaumont ZDF/Arte gewonnen. „Wir waren uns einig, dass der die digitale Fassung eine sehr gute Qualität besitzen muss, wenn sie im Théâtre du Châtelet in Paris gezeigt wird.“
Die komplette Restaurierung des Materials erfolgte Bild für Bild in dem französischen Filmlabor Eclair Group. Insgesamt waren 40 Mitarbeiter über einen Zeitraum von acht Monaten mit der Beseitigung von Kratzern, Flecken oder Klebestellen beschäftigt. Der Kostenvoranschlag von Eclair für die Restaurierung der fünfeinhalbstündigen „Fantomas“-Serie belief sich auf 480.000 Euro. Das CNC hat davon 240.000 Euro übernommen, die andere Hälfte hat Gaumont finanziert. „Wir gehen davon aus, dass wir durch den Verkauf der Senderechte an Arte und die Auswertung auf Blu-ray die Förderung wieder zurückzahlen können.“
Die von Marcel Allain und Pierre Souvestre erschaffene Figur Fantomas hat nicht nur Intellektuelle, sondern auch viele Schriftsteller in Frankreich inspiriert. „Mit ‚Fantomas‘ hat zum ersten Mal in der Geschichte des Films ein Krimineller den Sprung auf die Leinwand geschafft“, berichtet Padoan. Der geschickte Verbrecher, dem es im letzten Moment immer wieder gelingt zu entkommen, hat sogar den Polizei- und Justizapparat unterwandert. Für Gaumont ist es wichtig, diesen filmischen Meilenstein einem Publikum vorzuführen, der vor hundert Jahren ein großer Kinoerfolg war. „Fantomas markiert auch einen stilistischen Wendepunkt im französischen Kino, denn darin wurden zum ersten Mal zahlreiche Außenaufnahmen von Paris gezeigt.“
Das auf Nitrofilm befindliche Ursprungsmaterial hat Gaumont in einer Archivzelle beim CNC eingelagert, wo optimale Bedingungen bezüglich Temperatur und Luftfeuchtigkeit herrschen. „Das Nitrofilmmaterial kann sonst leicht in Flammen aufgehen.“ Gaumont Pathé legt großen Wert darauf, stets das Originalnegativ zu erhalten. Das älteste französische Filmproduktionsunternehmen hält auch die 15.000 Sendestunden ihrer frühen Wochenschau-Nachrichten auf Nitrofilm vor. Die alt eingesessene Filmfirma betreibt zudem in Neuilly ein Museum, in dem alte Projektoren und Apparaturen, aber auch Kostüme, Requisiten und Bauten ausgestellt werden. Die historische Filmsammlung umfasst außerdem Drehbücher sowie rund 5.000 Plakate.
Um Nitrofilmmaterial hochauflösend zu digitalisieren, haben die Ingenieure der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Eclair Group den Prototypen eines ganz speziellen Filmscanners konstruiert, der die Bilder mit bis zu 5k (5.120 x 3.849 bzw. 2.747 Pixel) einlesen kann. Bei diesem Prozess wird der Nitrofilm zunächst mit einer Flüssigkeit gereinigt, bevor Bild für Bild eingelesen wird. „Ich kenne keinen anderen Scanner auf der ganzen Welt, der das leisten kann“, betont André Labbouz, technischer Leiter von Gaumont. „Bei diesem Prozess wird ein Einzelbild in drei Sekunden eingelesen“, erläutert Béatrice Valbin-Constant, Leiterin der Restaurierungsabteilung bei Eclair.
Da „Fantomas“ 1913 mit nur 18 Bildern pro Sekunde aufgenommen worden ist, musste die Bildfrequenz der digitalen Fassung auf 25 Bilder pro Sekunde erhöht werden. Die Interpolation der fehlenden sieben Einzelbilder erfolgte mit Hilfe der Software Smoke von Autodesk.
Darüber hinaus wurden alle Szenen, die nachts spielen, blau eingefärbt. „Es war nicht ganz einfach, den richtigen Blauton dafür zu finden“, berichtet der filmhistorische Berater Pierre Philippe. Damals sind alle Filme in schwarzweiß aufgenommen worden und verschiedene Sequenzen in unterschiedlichen Farbtönen wie blau, gelb oder braun eingefärbt worden, um die örtliche oder zeitliche Differenzierung hervorzuheben. „Den Kameramännern hat das nicht gefallen“, weiß der Filmhistoriker. „Bei dem Film ‚Das Rad‘ von Abel Gance wurde die nachträgliche Colorierung sogar wieder zurückgenommen.“ Bei „Fantomas“ hat sich das Kreativ-Team dafür entschieden, die bläulich eingefärbten Nachtaufnahmen beizubehalten.
Die Wirkung dieser historischen Filmbilder wird durch die eigens dafür komponierte Filmmusik verstärkt, dank der „Fantomas“ nun sogar ein echtes Sound Design besitzt. Mit der künstlerischen Gesamtverantwortung hat die ZDF/Arte-Redakteurin Nina Goslar den populären französischen Musiker Yann Tiersen betraut, der bei diesem Projekt mit den verschiedenen Musikern zusammengearbeitet hat. Zum Ensemble gehören der kanadische Ambient-Musiker Tim Hecker, der schwedische Multi-Instrumentalist Emil Svanängen von „Loney Dear“, die verspielt-anarchischen Musikerinnen Amina aus Island sowie der britische 12-Saiten Gitarristen James Blackshaw mit seiner eigenen Band. „Diese Musiker decken in ihrer instrumentalen Zusammensetzung eine ziemliche Bandbreite ab“, unterstreicht Goslar. Jede der Bands durfte sich eine Episode aussuchen, für die sie die Musik komponieren. Tiersen ließ dabei Auszüge aus seinem neuen Album in die Filmmusik einfließen. „Die Musiker haben sich gegenseitig inspiriert und sind im akkustischen Bereich zwischen den verschiedenen Bands hin- und hergewandert.“ Die Aufzeichnung der live eingespielten Musik bei der Premiere von „Fantomas“ im Théâtre du Châtelet erfolgte auf 64 Tonspuren. „Das gibt uns die Möglichkeit, bei Bedarf auch eine 5.1 Dolby-Mischung zu produzieren“, betont Labbouz, der das reibungslose Abspiel der DCPs im Vorführraum überwacht hat. Für die „Fantomas“-Premiere sind dort zur Sicherheit gleich zwei digitale 2k-Christie CP2230-Projektoren sowie eine Klimaanlage eingebaut worden. Die Fernseh-Erstausstrahlung dieses fulminanten Film-Events erfolgt am 11. und 12. Januar 2014 ab Mitternacht bei Arte.
Birgit Heidsiek
(MB 12/13_01/14)