Die Verkäufer meldeten dennoch volle Terminkalender und „Business as usual.“ Ein Trend aber, der schon in den vergangenen Jahren spürbar war, bestätigte sich nun: Nur noch das Personal wird nach Cannes gelassen, was dort unbedingt gebraucht wird. Das hat sicherlich auch mit den immens hohen Eintrittspreisen und Hotelkosten zu tun. Inzwischen gibt es immerhin einen Studentenrabatt, etwa für den Kongressblock MIP Cube, der Preis ist damit ungefähr auf der Höhe von vergleichbaren Fachkongressen. Doch das ist nicht der einzige Grund.
Reed Midem kümmert sich zwar um neue Geschäftsfelder, und Onliner oder Werber mischen sich immer auffälliger unter die alte TV-Klientel, aber so ganz richtig will das noch nicht funktionieren, wie auch der CEO des Messeveranstalters, Paul Zilk, freimütig eingestand: „Wir haben inzwischen so viele Angebote neben unserem eigentlichen Programmmarkt, dass es vielen schwerfällt sich darin zurechtzufinden.“ Gleichwohl, die miptv scheint auf einem guten Weg: Gerade das Zukunftsformat MIP Cube hatte in diesem Frühjahr einen sehr vielversprechenden Start mit über 500 Anmeldungen.
Der als technischer Visionär gehandelte Kanadier Richard Kastelein, Gründer und Partner der Agora Media Innovation Ltd in London und Amsterdam, stößt die Messe mit ihrem Konzept in eine echte Lücke: „Da gibt es den Begleitkongress Connected World während der IBC in Amsterdam. Aber dort geht es darum neue Technik einem technischen Insiderpublikum zu vermitteln. Bei MIP Cube hingegen, wird Produzenten und Kreativen gezeigt, wie sie die neuen Techniken für ihre Projekte einsetzen können.“ Agora selbst „bespielte“ die zweite, etwas kleinere Bühne im Gare Maritim, also eigentlich dem „Seebahnhof“ von Cannes von dem die Fähren zu den beiden vorgelagerten Inseln abgehen, und der, gleich neben dem Festivalpalais gelegen, an den beiden Vortagen zur miptv, als der MIP Cube diente und später, während der Messe, zum „Producer’s Hub“ umgewidmet wurde.
Das aber, was Kastelein an den beiden MIP Cube Tagen dort erwartete, trat tatsächlich ein. Sie waren gut bestückt mit Beispielen dafür wie man heute Fernsehen macht und wohin die Reise aller Wahrscheinlichkeit nach geht. Der englische Produzent All3Media etwa stellte sein Video-On-Demand-Portal vor, das in Kürze an den Start gehen soll und über das das Unternehmen seine eigene Library – ohne den Umweg über Distributoren – direkt an seine Endkunden vermarkten will. „The Best of English Drama“, so der eingängige Markenansatz. Das besondere dabei ist, dass der Dienst nicht einfach über das Internet aufgerufen werden kann sondern als App der zunächst nur für Samsungs Smart TV zur Verfügung stehen wird. „Wir haben Wert darauf gelegt, dass der Zuschauer den Eindruck behält einen Fernsehkanal einzuschalten“, sagt Bill Scott von Easel TV, der Firma, die das App programmiert hat. Auf deutsche Produzenten ist das Modell aber nur bedingt übertragbar, da es eine eigene Library von einer bestimmten Größe voraussetzt. Das ist etwas, was deutsche Auftragsproduzenten nur selten zur Verfügung haben. Allerdings, Apps waren eines der großen Themen auf dem MIP Cube. In Zukunft wird auch die TV Industrie nicht ohne auskommen, so eine weit verbreitete Meinung in Cannes.
Nicht weniger wegweisend war ein Beitrag der ebenfalls englischen Produktionsfirma Soho Productions, die ein Teil der Microsoft Studios ist und die zusammen mit dem Produzenten der „Sesamstraße“ in der Lage sind diesen Klassiker des internationalen Kinderfernsehens mit Hilfe der X-Box, die längst nicht mehr nur Spielekonsole sondern zur intelligenten Set-top-box weiterentwickelt wurde, interaktiv aufzuwerten. Auch dieses Angebot soll noch in diesem Jahr kommerziell an den Start gehen. „Das wichtigste dabei ist, dass wir die Kinder nicht in eine Aktion hineinzwingen. Es ist nur ein Angebot, alles muss freiwillig bleiben“, sagt Sohos Josh Atkins. Ebenso wichtig sei es aber, dass, dann wenn das Kind tatsächlich aktiv wird, auch etwas ausgelöst wird, also quasi eine Belohnung auf dem Fuß folgt. Oder „The Count“ regt die Kinder zum Zählen an und bedankt sich für das Ergebnis, aber nur, wenn die Kinder auch wirklich mitgemacht haben. Das funktioniert über die eingebaute Kamera in der X-Box, die die Aktivitäten der Kinder registriert und die entsprechende Reaktion veranlasst.
Ein anderes Thema im Fokus des MIP Cubes war selbstverständlich „Social TV“. Trotz des Misstrauens der Sender würde sich das Thema durchsetzen, einfach weil die Nutzer es wollten, sagte Kastelein am Rande der Veranstaltung. Das größte Potential sieht er in den kommenden Jahren allerdings bei Anwendungen rund um den „Second Screen“. Damit warb auch die MIP im Vorfeld ihrer Veranstaltung. „80 Prozent ihrer Zuschauer machen schon während des Fernsehens etwas anderes. Gehen Sie dahin wo er bereits ist“, hieß es etwa auf Plakaten im Veranstaltungsbereich. Diese Aktivitäten neben dem Fernsehen spielen sich vor allen Dingen auf dem Smartphone oder dem Tablet PC ab und das Kunststück soll sein, den Zuschauer anzuregen, diese Parallelnutzung einzufangen bzw. so zu lenken, dass sei dem eigenen Programm zu Gute kommt. Das kann etwa über parallele Gewinnspiele zur Sendung sein, oder über andere zusätzliche Informationen dazu.
Kastelein jedenfalls sieht einen klaren Trend: „In zwei bis drei Jahren wird es keinen EPG mehr auf den Fernsehern geben, weil das alles auf dem zweiten Screen stattfindet“, ist er sicher. Da kann man sicher geteilter Meinung sein. An einem anderen Punkt ist seine Argumentation klar nachvollziehbar. „Ich bin mir sicher, dass bald die TV Geräte mit einem Tablet Device statt der Fernbedienung ausgeliefert werden.“ Er begründet das damit, dass damit, dass klassischen Fernbedienungen inzwischen schon viel zu überladen seien, unkomfortabel in der Handhabung und kaum noch in der Lage neue Funktionen aufzunehmen.
Allerdings gab es auch Momente, da fühlte man sich zurückversetzt in die Zeiten der Internetblase. Die Auftakt-Keynote auf der großen MIPcube Bühne wurde von Cindy Gallop bestritten, der Gründerin von IFWERANTHEWORLD (Wenn wir die Welt beherrschten) und MAKELOVENOPORN (Liebe statt Pornografie). Die erste Internetplattform versucht die guten Absichten von Individuen und Unternehmen in gemeinsames Handeln zu überführen, so die Selbstdarstellung. Die zweite Plattform versucht Jugendliche anzusprechen, für die, so Gallop, Pornoseiten inzwischen die heutige Sexualaufklärung sei. Die Visionärin greift voll auf die idealistischen Ideen aus der Zeit der Internetblase zurück.
Nur wenn man alte Geschäftsmodelle radikal über Bord wirft und nur das macht, wofür man eine Leidenschaft empfindet, dann kann man Hollywood in die Knie zwingen, so, etwas vereinfacht dargestellt, ihre Philosophie. Der Ansatz scheint in so fern, viel zu idealistisch zu sein, da natürlich die alten Dickschiffe der Branche etwas länger brauchen auf bestimmte Entwicklungen zu reagieren, dann aber für gewöhnlich sehr schnell Fahrt aufnehmen. Dort hat man längst die neuen Geschäftsfelder erkannt und versucht sie zügig in seine Business Modelle zu integrieren, wie ein Beispiel zwar nicht aus den USA sondern aus Europa zeigt.
Fremantle Media, der mächtige internationale Content-Arm der RTL Group. Dessen CEO Tony Cohen gab in Cannes einen Ausblick auf die Geschäftserwartungen der nächsten Jahre. Zwar habe man in diesem Jahr mit den wirtschaftlichen Problemen der Eurozone zu kämpfen, wobei ausdrücklich Spanien, Portugal und Italien als Problemmärkte nannte, allerdings gäbe es genug Anlass für Optimismus: Noch in diesem Jahr werde man zwei neue Kanäle rund um Gesundheit und Haustiere auf YouTube starten. Und auch mit dem Formatbusiness sei man sehr zufrieden. „2011 waren international 99 Formate erfolgreich, das ist die höchste bislang registrierte Zahl. Über 10 Prozent davon sind Fremantle Formate“, sagte er mit sichtlichem Stolz. Die sollen in Zukunft noch weiter aufgewertet werden. Auch Cohen nennt in diesem Zusammenhang den Begriff „Social TV“. „Wir werden uns sicherlich mit ‚Voting Options‘ beschäftigen und es wird einen VIP Bonus geben, etwa in Form von VIP Kameras im Backstage-Bereich“, so der Fremantle CEO. Als weiteren ganz klaren Wachstumsbereich macht er den Bereich Branded Entertainment aus, also den Bereich wo Marken indirekt werben indem sie sich an der Produktion eines TV Programms beteiligen. „Auch hier sehen wir deutliche Zuwächse!“
Bleibt also die Frage, wie es mit der Traditionsmesse miptv im Angesicht dieser Umbrüche weitergehen wird. Gerade der Frühjahrstermin gerät auch von anderer Seite immer Stärker unter Druck: Die US Studios sind zwar im Herbst auf der mipcom voll da, ihre Präsenz im Frühjahr lässt aber stark nach. So fehlten die riesigen Zeltkomplexe von Sony und Disney, die Herbst den Strand vor dem Festivalpalais prägen. Allerdings war der Strandkomplex von Warner Brothers dieses Mal aufgebaut und bezogen, wurde aber nur von der Mannschaft aus London bespielt. Aus den USA war niemand da, aus den anderen europäischen Märkten auch nicht. Als Grund wird oft angegeben, dass die neuen US Serien zum Frühjahrstermin noch in der Erprobung sind und noch niemand weiß welche überhaupt fortgeführt werden.
Eine Vermarktung neuen Produkts macht also erst im Herbst Sinn. Trotzdem sieht ein nationaler Repräsentant eines der großen US Studios die Existenz der miptv im Frühjahr nicht gefährdet: „Sie wird ihren Fokus ändern“, sagt er. „Wir sehen heute schon, dass Zukunftsthemen immer mehr an Bedeutung gewinnen – vor allem aber der Formatbereich.“ In der Tat, das Modul MIP formats wird immer bedeutender, zieht immer mehr Besucher an und füllt inzwischen das Grand Auditorium des Festivalpalais. miptv als Trend- und Formatmesse? Diese Vorstellung dürfte den Strategen der Reed Midem Organisation sicherlich keine schlaflosen Nächte bereiten.
Dieter Brockmeyer
(MB 05/12)
Umbruch als Chance
Bislang konnte Veranstalter Reed Midem immer Rekordbesucherzahlen zur TV-Programmmesse miptv in Cannes vermelden. Anders in diesem Frühjahr. Die Zahl der Gäste sank leicht. Es reisten aber immer noch rund 11.000 an die Cote D´Azure.