Mit den Augen komponiert

Der deutsch-französische Kulturkanal Arte präsentiert aufwändig restaurierte Stummfilm-Klassiker als große Events mit musikalischer Orchester-Begleitung und einem eigens dafür kreierten Sound-Design. Anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren ist der pazifistische Spielfilm „J‘Accuse“ von Abel Gance aus dem Jahre 1919 mit einem ausgefeilten Musik- und Tonkonzept neu auf der Leinwand zum Leben erweckt worden. Bei der Aufzeichnung am 8. November in Paris wurde die Musik mit großem Orchester live eingespielt.

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Mit den Augen komponiert

In seinem 166-minütigen Monumentalwerk „J‘Accuse“ (dt. Ich klage an) zeigt der französische Autor, Regisseur und Produzent Abel Gance den Ersten Weltkrieg als Apokalypse mit zerstörerischer Wirkung auf die Psyche der Menschen. „Konventionelle Stummfilm-Musik reicht dabei nicht aus, um den Grad der psychischen Zerstörung zu zeigen“, erklärt Nina Goslar, die als Redakteurin bei Arte bereits Stummfilmprojekte wie den aufwändig digital restaurierten Klassiker „Metropolis“ (Fritz Lang, DE 1927) oder die „Fantomas“-Filme betreut.

Die Filmmusik zu „J‘Accuse“, die der Dirigent Frank Strobel mit dem Philharmonie-Orchester von Radio France bei der Wiederaufführung des Films in der Salle Pleyel in Paris gespielt hat, stammt von dem französischen Komponisten Philipp Schoeller. Neben der Film-Sinfonie für das Orchester hat er zusammen mit dem Elektronik- und Klangregisseur Gilbert Nuono am Synthesizer ein Sound-Design für den Film entwickelt. „Wir haben einen elektronischen Klangteppich für ‚J‘Accuse‘ kreiert“, sagt Nuono, der bereits seit 20 Jahren mit dem Komponisten zusammenarbeitet.

„Ich musste zunächst das Zeitkonzept von Abel Gance verstehen“, berichtet Schoeller, denn die Zeit wird vom Film vorgegeben. Um die passende Musik für vier Filmsekunden zu komponieren, habe er mitunter zehn Stunden Zeit gebraucht. „So funktioniert Komponieren“, erläutert der Musikexperte, „beim Film wird etwas herausgeschnitten, bei der Musik wird etwas Neues kreiert.“ Der Regisseur sei für ihn ein synästhetischer Bruder wie in Goethes „Wahlverwandtschaften“. „Abel Gance hat diesen Film mit den Augen komponiert“, schwärmt Schoeller. Für Furore gesorgt hat dieser pazifistische Spielfilm 1919 mit der berühmten Sequenz von der Auferstehung der Toten. Für den Dreh dieses Filmprojekts hat Abel Gance im September 1918 2.000 Soldaten während ihres Fronturlaubs in einem Lager in Südfrankreich rekrutiert und ihren Marsch durch ein Dorf als Wiederauferstehung der Toten gefilmt, bevor diese Männer in die Schlacht nach Verdun gezogen sind. Die Soldaten wussten, dass sie diese Mission wahrscheinlich nicht überleben werden.

Für den Komponisten bestand die Herausforderung darin, auf der akkustischen Ebene ein entsprechendes Pendant für die beeindruckenden Kinobilder zu finden, die Abel Gance 1919 mit den Mitteln der damaligen Kinematografie realisiert hat. Insgesamt hat er ein Jahr lang an seiner Komposition für den Film gearbeitet.

Effizienter Workflow bei der Audiomischung

Bei der Umsetzung dieses ambitionierten musikalischen Projektes bestand ein enger Zeitplan, denn die Mischung der Orchestermusik mit dem elektronischen Sound-Design konnte erst kurz vorher geprobt werden. „Daher musste ich sehr effizient arbeiten“, berichtet der Toningenieur Julien Aléonard, „denn ich wusste, dass Philip Schoeller große Erwartungen hat.“ Vor der eigentlichen Orchester-Probe hat er deshalb den Dirigenten Frank Strobel gebeten, 15 Minuten lang ein paar Ausschnitte zu spielen, um an seinem Mischpult bestimmte Grundeinstellungen vorzunehmen.

„Ich musste wirklich schnell sein, denn eine Viertelstunde später haben Philipp Schoeller und Gilbert Nuono schon damit begonnen, die Orchestermusik und das elekronische Sound-Design auf den Film, den Ton sowie die Verstärker abzustimmen“, berichtet Aléonard.

Für das aus knapp 100 Musikern bestehende französische Philharmonie-Orchester wurden 40 Mikrofone auf der Bühne positioniert. „Wir haben jeweils zwei Mikrofone für einen Bereich eingesetzt.“ Die Streichinstrumente wie Violinen oder Celli wurden mit DPA-Mikrofonen vom Typ 4021 aufgenommen, deren lineare Frequenz-Resonanz von 40 Hz bis zu 20 kHz reicht.

Bei den Holzblasinstrumenten wie Oboe oder Klarinetten wurden hingegen jeweils vier MK 4-Mikrofonkapseln von Schoeps verwendet, während die Blechblasinstrumente und der Konzertflügel mit dem DPA 2011 aufgezeichnet wurden.

„Es war mir wichtig, für jeden Instrumentenbereich den gleichen Mikro-Typ zu verwenden, um schnell arbeiten zu können“, betont Aléonard. „Wir haben uns die Mikrofone mit Radio France geteilt, um zu verhindern, dass auf der vollen Bühne in jedem Bereich zwei Mikrofone stehen.“ Das Konzept für die Aufnahmetechnik hat er gemeinsam mit dem Toningenieur von Radio France erarbeitet, um eine gute Lösung für beide Seiten zu finden. Um die Klänge der Harfe aufzuzeichnen, hat Radio France das TLM 170 eingesetzt, das über höchste Aussteuerbarkeit bei äußerst geringem Eigenrauschen verfügt. Im Perkussion-Bereich verwendete das Team hingegen kompakte Kleinmikrofone KM 184 sowie die Großmembranmikrofone AGK 214, die einen Frequenzzugang von 20 bis zu 20.000 Hz besitzen. „Mir gefallen diese Mikrofone gut, weil dadurch ein wärmerer Sound entsteht“, unterstreicht der Toningenieur.

Tonübertragung via Dante-Protokoll

Für die Tonaufnahmen der verschiedenen Instrumentalbereiche wie Streichinstrumente, Holz- oder Blasinstrumente wurden die Mehrkanalverstärker Rio 32/34 von Yamaha eingesetzt. Hinzu kamen weitere Mehrkanalverstärker für die Elektronik wie für den Hauptrechner, den Ersatzcomputer sowie fünf weitere Mehrkanalverstärker für Perkussion und Echos. „Ich habe den gesamten Output auf 16 Mehrfachkanalverstärker reduziert, damit ich am Pult auf alles Zugriff habe“, erläutert Aléonard. Die Tonübertragung von der Bühne zum Yamaha Mischpult erfolgte per LAN über eine Ethernet-Verbindung. „Wir haben dafür das Dante-Protokoll verwendet“, sagt der Toningenieur. „Fast alles war digital.“

Bei der Auswahl der Mehrfachkanalverstärker und des Mischpultes hat Alénoard, der zu den insgesamt vier Toningenieuren der Pariser Firma Ircam gehört, gezielt auf das Mischpult Yamaha CL5 mit der Extension 2xMY16AT und 1xMY16AE96 gesetzt. „Wir haben dieses Mischpult von Yamaha ausgewählt, weil es praktisch und leistungsstark ist. Wir müssen mit gängigen Mischpulten arbeiten, da wir oft im Ausland auf Tour gehen.“ Das Yamaha-Mischpult sei bei den Equipment-Verleihern von Moskau über Seoul bis hin zu den USA weit verbreitet. „Wir brauchen nur noch einen Key und können dort mit einem Mischpult arbeiten, das wir kennen.“

Auf eine internationale Kooperation wurde auch bei der Rekonstruktion dieses Stumfilmklassikers gesetzt. Das Nederlands Filmmuseum besaß eine Nitratkopie von „J‘Accuse“ mit den historischen Einfärbungen wie beispielsweise Blau für die Nacht oder Rot für die Kriegsszenen. Hinzu kamen ein originales Kameranegativ sowie zwei schwarzweiße Nitratkopien aus der Sammlung von Lobster Films sowie eine weitere Nitratkopie aus dem Filmarchiv in Prag. Bei der Digitalisierung wurde weitgehend auf das Nitro-Material, insbesondere auf das Kameranegativ, zurückgegriffen. Die fehlenden Zwischentitel und Szenen wurden durch das Material aus anderen Filmkopien ergänzt.

Realisiert wurde die aufwendige Restaurierung vom EYE Filmmuseum in Amsterdam. „Wir haben im Rahmen des Programms ‚Images for the Future‘ von 2007 bis 2012 sieben Millionen Euro Unterstützung vom niederländischen Staat erhalten, um Filme digital zu restaurieren und zu digitalisieren“, berichtet Annike Kross, die für die technische Restaurierung des Films verantwortlich zeichnet. „J‘Accuse“ besteht jetzt aus 183.206 Einzelbildern mit 1.600 Einstellungen, was einer Gesamtlänge von 3.500 Metern und einer Datenmenge von rund 2,1 Terabyte entspricht. „Die große Anzahl der Einstellungen resultiert aus Gances schneller Schnittfolge, wodurch sich viele digitale Bearbeitungsstufen wie die Bildstabilisierung, aber auch das Grading als zeitintensiver erwiesen, als wir erwartet hatten.“

Der deutsch-französische Kulturkanal Arte hat die digital restaurierte Fassung von „J‘Accuse“ mit der neu komponierten Musik und dem dafür entwickelten Sound-Design anlässlich des französischen Nationalfeiertages „Armistice“ ausgestrahlt, womit an den Waffenstillstand zwischen Frankreich und Deutschland am 11. November 1918 erinnert wird. An diesem Tag ist damals das Ende des Ersten Weltkriegs besiegelt worden.

Birgit Heidsiek

MB 8/2014

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