Experiment mit europäischen Filmen

Um europäische Filme einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, hat das Europäische Parlament zwei Millionen Euro für die Filmauswertung in Form des Day-and-Date Release bereit gestellt. Derzeit formieren sich verschiedene Initiativen, um die gleichzeitige Auswertung von europäischen Filmen in sämtlichen Vertriebskanälen wie Kino, DVD, VoD und TV zu testen. Doch diverse Verleiher und Kinos beäugen diese Projekte kritisch, weil sie befürchten, dass mit der Aufhebung der klassischen Auswertungskette auch die Einnahmen versiegen werden.

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Experiment mit europäischen Filmen

Die von MEDIA unterstützte, simultane Auswertung von Filmen auf unterschiedlichen Plattformen zielt darauf ab, innovative Strategien zu entwickeln, um neue Zielgruppen für europäische Filme zu generieren. Durch die gleichzeitige Auswertung von Filmen im Kino, auf DVD, Video-on-Demand (VoD), im TV und im Internet sollen die Filme ihre nationale Grenzen leichter überwinden und ein größeres Publikum ansprechen. Ein Experiment dieser Art ist das vom französischen Weltvertrieb Wild Bunch initiierte Projekt Speed Bunch, das mit 500.000 Euro unterstützt wird. Den Day-and-Date-Release probt auch The Tide Experiment, für das der französische Produzenten- und Regieverband ARP 800.000 Euro Förderung erhalten hat. Mit 695.500 Euro gefördert wird das Vorhaben European Day-and-Date (EDAD) von dem britischen Verleih Artificial Eye. Eine Gruppe aus Vertriebsexperten, Verleihern und Festivals will zudem unter dem Label The Match Factory Project 2.0 neue Wege erschließen, um das Publikum direkter anzusprechen.

Der Day-and-Date-Release, mit dem die Hollywoodstudios zum strategischen Gegenschlag gegen die Filmpiraterie ausholen wollen, wird in Europa sehr kontrovers diskutiert. „Wir möchten den Branchenteilnehmern die Chance geben, Erfahrungen mit innovativen Vertriebsstrategien zu sammeln und diese zu bewerten“, erklärt Aviva Silver, Leiterin des MEDIA-Programms. Zu diesem Zweck sollen die Ergebnisse der geförderten Day-and-Date-Projekte im Mai 2014 während der Filmfestpiele in Cannes Film Festivals auf einer Konferenz vorgestellt werden. Die Filmförderer in Brüssel hoffen, dass bis dahin etwa 80 bis 100 Filme in Europa auf diese Art ausgewertet worden sind und sich daraus Erfahrungswerte bezüglich der verschiedenen Territorien, Sprachen und Filmgenres ableiten lassen. Als erste europäische Day-and-Date-Release-Initiative geht The Tide Experiment an den Start, an dem neben ARP vier Weltvertriebe, der unabhängige europäische Verleiherverband European Europa Distribution, die französische Firma Under the Milky Way sowie die spanische Promotionagentur The Film Agency beteiligt sind. Zwischen April und Juli soll der französisch-schweizerische Dokumentarfilm „Viramundo: a musical journey with Gilberto Gil“ von Pierre-Yves Borgeaud zeitgleich in zehn europäischen Ländern im Kino und auf VoD ausgewertet werden. Das Ziel ist, im Rahmen des The Tide Experiments vier Filme in fünf europäischen Ländern herauszubringen. The Tide Experiment übernimmt dabei die gesamten P&A-Kosten für die Auswertung der Filme im Kino und auf VoD-Plattformen. An dem ersten Film beteiligen sich sieben Verleiher aus zehn Ländern. Zu ihnen gehören Brunbro in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, Urban Distribution in Frankreich, Soda Pictures in Großbritannien und Irland, Nomad Films in Italien, Kaunas in Litauen, Gutek in Polen sowie Alambique in Portugal. Die Verleiher erhalten für zwei Jahre die nationalen Kino- und VoD-Rechte, ohne eine Minimumgarantie zu bezahlen. Der Weltvertrieb Urban Distribution International ist bereits vom ersten Euro an allen Rückflüssen beteiligt. Den Richtlinien zufolge erhält der Weltvertrieb zwischen 60 und 75 Prozent der Kinoeinnahmen sowie 75 Prozent sämtlicher VoD-Einnahmen. Darüber hinaus mischt sich The Tide Experiment nicht in die Geschäftsbeziehungen zwischen Weltvertrieb und Verleih ein. Die VoD-Auswertung erfolgt über die französische Firma Under The Milky Way, die mit globalen Plattformen wie iTunes, Amazon oder Sony zusammenarbeitet. „Dabei wird Geo-Blocking eingesetzt, damit die nationalen Lizenzrechte respektiert werden”, erläutert die Projekt-Koordinatorin Lucie Girre. Die Verleiher können die Filme zum gleichen Zeitpunkt in den nationalen VoD-Portalen auswerten. Um Filme mit Trailern, Texten und Fotos auch auf verschiedenen Plattformen wie Facebook, YouTube oder Twitter zu bewerben, hat die französische Firma Under The Milky Way die Softwarelösung Waveback entwickelt, die Verleihern, Produzenten und Weltvertrieben das Management der Social Media-Kampagnen erleichtern soll. Die bedienungsfreundliche Oberfläche von Waveback ermöglicht es, Inhalte wie Trailer, Bilder oder auch Status-Updates simultan auf Facebook, YouTube, Vimeo oder Dailymotion zu veröffentlichen. Sämtliche Social Media-Aktivitäten werden gebündelt gesammelt, um das Management der Marketing-Kampagnen weiter optimieren zu können.

„Das Publikum ist es heutzutage gewohnt, dass alles immer und überall verfügbar ist”, weiß Madleine Probst, die das Programm für das Kino und Digitalcenter Watershed in Bristol gestaltet. „Wir müssen uns daher die Frage stellen, wie Produktion, Verleih und Kino zusammenarbeiten können, um die Bedürfnisse des Publikums zu erfüllen. Trotz der digitalen Revolution setzen wir Kinos immer noch auf traditionelle Branchenmodelle wie Zeiten und Fenster, was unsere Möglichkeiten begrenzt, die Nachfrage des Publikums zu bedienen.” Der polnische Verleiher Jakub Duszyński, der sich mit Gutek Film an der European Day-and-Date-Initiative (EDAD) beteiligt, hofft kleinere Arthouse-Filme auf VoD-Plattformen auswerten zu können, die für die Kinoauswertung nicht kommerziell genug sind. „Wir möchten durch Experimente herausfinden, ob die Kino- und VoD-Auswertung gegenseitig voneinander profitieren können.” Sein russischer Kollege Daniel Goroshko, der in Petersburg den Verleih A-One Films betreibt, geht davon aus, dass die klassischen VoD-Konsumenten nicht die gleiche Zielgruppe ist, die sich einen Film im Kino anschaut. Die Kehrseite sei, dass ein Film durch den Day-and-Date-Release noch schneller den Piraten in die Hände falle. „In Russland ist die Piraterie so stark verbreitet, dass jeder Film früher oder später im Netz auftaucht”, sagt Gorosho. “Daher versuchen wir, mit dem Day-and-Date-Release so viel Einnahmen wie möglich zu generieren.” Die niederländische Verleiherin Marieke Jonker von Amstel Film hat die Erfahrung gemacht, dass Art-house-Fans sich kaum für VoD-Angebote interessieren. Ihrer Einschätzung nach werden vor allem große Hollywoodfilme vom Buzz profitieren, der durch den Day-and-Date Release im Netz generiert wird. „Kleine Filme werden zunehmend von der Leinwand verschwinden.” Ein Film gehört nicht auf den Bildschirm aus dem Media-Markt. Der holländische Arthousekinobetreiber Henk Camping sieht den Day-and-Date Release als direkte Konkurrenz zum Kino, die finanzielle Einbußen mit sich bringt. „Diese Veränderung geht auch zu Lasten der Qualität, denn ein Film gehört auf die Kinoleinwand und nicht auf einen Bildschirm aus dem Media-Markt.“ Auch in Deutschland stehen viele Verleiher und Kinobetreiber dem Day-and-Date Release eher kritisch gegenüber.

„Durch die illegalen Streaming findet bereits ein Day-and-Date- Release statt“, konstatiert Thorsten Frehse, Geschäftsführer des Berliner Indie-Verleihs Neue Visionen. „Legale Angebote spielen dabei bis auf einige Ausnahmefilme kaum eine Rolle, weil sie kostenpflichtig sind.“ Derartige Modelle seien erst sinnvoll, wenn die Filme auch geschützt werden könnten. „Durch den Day-and-Date Release werden gut funktionierende Branchenstrukturen in Europa zerschlagen“, ereifert sich Frehse. „Ich kann nicht nachvollziehen, warum das mit EU-Mitteln von MEDIA gefördert wird.“ Der Indie-Verleiher Matthias Keuthen, der neben dem Schwarz Weiß Filmverleih das Label Rendez-Vous Filmverleih betreibt, sieht im Day-and-Date Release eine enorme Gefahr für die Filmwirtschaft. Kleine und mittlere Filmproduktionen, wie sie für die europäische Filmwirtschaft typisch sind, besaßen bisher eine reelle Chance, durch ein geschicktes, zielgerichtetes Marketing in jedem Fenster in jedem Land Gewinne zu generieren. „Wenn diese Gewinnkaskade ersatzlos wegfällt und dem Publikum suggeriert wird, dass alles überall und jederzeit verfügbar ist, wird VoD zu Lasten der bisherigen Auswertungsformen eine Stärkung erfahren. Die Verluste werden aber nicht durch das erstarkende VoD-Geschäft aufgefangen“, warnt Keuthen. „Viele Produktionen, mit denen in der Vergangenheit Gewinne erzielt wurden, sind unter diesen Bedingungen nicht mehr wirtschaftlich.“

Matthias Elwardt, Geschäftsführer des Hamburger Abaton-Kinos, hält den Day-and-Date-Release für unüberlegt. „Viele Kinobesucher kaufen sich sechs Monate nach dem Filmstart eine DVD, um ein besonderes Kinoerlebnis noch einmal zu erleben. Dies fällt beim Day-and-Date-Release weg, weil der Film bereits parallel auf dem kleinen Bildschirm angeboten wird. Insofern ist diese Auswertungsform ökonomisch unsinnig.“ Mit dem Kinobesuch sei auch ein kultureller Status verbunden, der gegen Vereinsamung wirke. „Die Besucher gehen tatsächlich zur Kultur hin und schauen sich gemeinsam einen Film an“, versichert Elwardt. „Wir werden im Abaton-Kino garantiert keine Premieren von Filmen veranstalten, die parallel als VoD zu sehen sind.“
Birgit Heidsiek
(MB 06/13)