Fernsehen der neuen Dimension

HD-Großprojekt „24hBerlin“ Endlich mal wieder eine mutige experimentelle TV-Idee! Weltweit einzigartig soll das Projekt „24hBerlin“ auf verschiedensten Ebenen Neuland betreten: als neues TV-Format, als Web-TV, als Marketing-Event, als interaktives HD-Archiv für künftige Forschungszwecke und last but not least als bahnbrechendes HDTV-Produktionsprojekt.

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Vielleicht wird es noch ein warmer Spätsommertag sein, an dem der gut situierte Berliner seinen italienischen Kaffee immer noch draußen auf dem Boulevard genießen kann. Die großen Ferien sind längst vorbei. Die Kinder gehen wieder in die Schule. Die Internationale Funkausstellung Berlin wird gerade ihre Tore geschlossen haben und langsam wird ein eher grauerer Alltag die Atmosphäre in Berlin dominieren. An diesem Freitag, dem 5. September 2008, „halb Werktag, halb Wochenende“, werden rund 80 professionelle Drehteams ausgestattet mit verschiedensten HD-Kameras in der Stadt ausschwärmen, um das ganz normale Leben der Berliner rund um die Uhr – exakt 24 Stunden – in Bild und Ton zu dokumentieren: Die reichen und die armen, die jungen und die alten, die Migranten und die Einheimischen, die Familien und die Prominenten, „die schmuddeligen Ränder der Stadt und ihre glänzende Mitte“.

All das wird zusammen ein etwa 1.000-stündiges audiovisuelles Dokumentationsmaterial ergeben. Das Leben in der Stadt soll „so wahrhaftig, so ungeschminkt wie möglich eingefangen werden“, heißt es in der Projektbeschreibung von „24hBerlin“: „nah und ungefiltert“, von Geburt bis zum Tod, von der Liebe bis zur Trauer. Und nicht nur die Profis sollen am kommenden 5. September die Stadt filmen. Auch die Berliner selber sollen sich mit Hilfe ihrer Camcorder in das Projekt einfügen und zusätzliches Material für das Internet und das 24-stündige Fernsehprogramm zur Verfügung stellen. Das wird genau ein Jahr später am 5. September 2009 von mindestens drei Sendern rund um die Uhr ausgestrahlt werden: vom Rundfunk Berlin-Brandenburg, rbb, von ARTE und vom finnischen Kanal YLE Teema. Beim rbb muss dann beispielsweise die beliebte aktuelle „Berliner Abendschau“ auf einen Kanal vom MDR ausweichen.

An diesem Tag im nächsten Jahr, so jedenfalls hat es Lutz Engelke geplant, soll „die Welt auf Berlin schauen“. Engelke, der Chef der Berliner Kommunikationsagentur Triad ist und ehemals Senatssprecher war, will via Web-Auftritt, Events, Marketing- und klassischer PR-Kommunikation parallel zur Ausstrahlung des Fernsehprogramms „24hBerlin“ ein auch touristisch attraktives Megaereignis in Berlin mit globaler Aufmerksamkeit schaffen. Alle Berliner, so fordert er anlässlich der Projektauftaktveranstaltung auf, sollen am Sendetag ihre Wohnstuben öffnen. Er will für diesen Tag „alle Institutionen Berlins miteinander vernetzen“, er trommelt namhafte Sponsoren zwecks Eventfinanzierung zusammen und ist sich schon heute sicher, dass das Kaufhaus des Westens, KaDeWe, „zum größten Fernsehempfangsgerät der Welt“ mutieren werde.

Außerdem ist Engelke von den „crossmedialen Strukturen“ begeistert, für die seine Agentur sorgen werde. Auch soll Triad dafür sorgen, dass der normale Berliner selber Filme für die Einstellung ins Web-TV produziert, wozu es online ein E-Learning-Angebot zum Filmemachen geben wird. Durch die Verbindung von Online, verschiedenen Events – zum Beispiel die Bildung einer „Medienskulptur“ – und klassischen Fernsehen werde es einen „begehbaren Film“ in Berlin am 5. September nächsten Jahres geben. Das habe sich noch „keine Stadt getraut!“, feuert Engelke an: „das größte TV-Event der Welt“, „ein einmaliges historische Ereignis“, das im Projektverlauf „ein kommunikatives Wachstumsmodell“ repräsentiere.

Während Engelke mit großen Marketingvokabeln die Werbetrommel rührt, gibt sich der ebenso eloquente Erfinder und Initiator des Projektes, Volker Heise, eher bescheiden und voll der Authentizität verpflichtet. Heise ist Regisseur, Autor und Dramaturg für Doku-Serien und Dokumentationen bei der Berliner Film- und TV-Produktionsfirma zero one film. Schon mit seiner ersten Regie-Arbeit „Schwarzwaldhaus 1902“ gewann der ehemalige rbb-Hörfunkjournalist Heise 2003 den Grimme-Preis. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er zusammen mit dem Produzenten Thomas Kufus, Gründer und Chef von Zero film, an der Entwicklung neuer Doku-Formate. Neben den ersten Doku-Soaps fürs deutsche Fernsehen entstanden dabei so erfolgreiche Serien wie „Die kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener“ für ARTE sowie mehrere Living-History-Formate für die ARD, zum Beispiel „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“. Die spezifischen Erfahrungen, die Heise bei den Recherchen für diese Dokuprojekte machte, haben ihn dann letztendlich zu der Idee für „24hBerlin“ geführt.

Das ganz normale Leben
Das war vor rund einundeinhalb Jahren, als er in einem Café am Berliner Hauptbahnhof saß, von wo aus, wenn der Blick schweift, man einen lebendigen Verkehrsknotenpunkt mit großen fahrenden Rolltreppen rauf und runter und Gleisen auf verschiedenen Ebenen hat. Heise war aber in der Zeitungslektüre vertieft, in einen Bericht über englische Historiker, die genau das Problem thematisierten, mit dem auch er bei seinen Living-History-Formaten konfrontiert worden war: Die klassische Geschichtswissenschaft bezieht sich nämlich in der Regel nur auf einen sehr kleinen prominenten Teil des Lebens in der Vergangenheit. Authentische Berichte, wie sich das ganz normale Leben von ganz normalen Menschen im Alltag abspielt, sind so gut wie nicht vorhanden. Der Grund, warum die englischen Historiker ein E-Mail-Projekt initiieren wollten: An einem Tag × sollten ganz normale Menschen ihren Alltag beschreiben und per Mail an eine Historiker-Sammelstelle senden, so dass die Historiker bei ihrer künftigen Forschung über gutes Material verfügten.

„Post in die Zukunft schicken!“, das, so befand Heise, sei „eine tolle Idee“, – „aber kann man es nicht auch noch besser machen?“ Heise nahm die Idee auf und entwickelte sie – schließlich zusammen mit Produzent Thomas Kufus – immer weiter, bis schließlich ein ganz anderes Projekt mit „24hBerlin“ entstand. Warum sollte man das ganz normale Alltagsleben schriftlich per E-Mail beschreiben, wenn es doch auch Camcorder für eine audiovisuelle Dokumentation gibt? Warum dann nicht gleich den normalen Alltag einer ganzen Stadt erzählen, zumal Berlin für Heise „einen exemplarischen Ort“ repräsentiert, an dem sich „viele Parallelwelten“ tummeln: „Ost und West“, „Berlin als Labor der Einheit“, „Vielfalt“, „Gegensätze“, „Widersprüche“. Und warum nicht gleich mit der Erzählung ins Fernsehen gehen, „dem Leitmedium unserer Zeit“, wie Heise sagt.

Die Anfangsidee, Post in die Zukunft zu schicken, ist mittlerweile zum letzten Glied in der Projektkette von „24hBerlin“ geworden. Nicht nur die 24-Stunden-Sendung, sondern das gesamte Drehmaterial einschließlich der Amateuraufnahmen soll nämlich in „das Archiv von morgen“ der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen wandern. Auch damit wird Neuland betreten, da nie zuvor eine derartige Menge an HD-Material für die interaktive Nutzung gespeichert worden ist. Ein mit 500 Terabyte immenses Datenvolumen.
Obwohl das Projekt durch den Einsatz von bandlosem HD-Equipment nicht nur wesentlich teurer als mit Digi Beta wird, sondern auch logistisch zusätzlich Hürden aufstellt – zum Beispiel müssen nicht wenige Kameramänner noch in Bezug auf den Einsatz von HD geschult werden – habe man sich natürlich zukunftsorientiert für HD entschieden, sagt Heise. ARTE wird das „24hBerlin“-Programm sowieso im HDTV-Fomat über Satellit in weiten Teilen Europas und Nordafrika mit einer potenziellen Reichweite von 160 Millionen TV-Haushalten zeigen. Und die in Berlin ansässige Sony Deutschland GmbH unterstützt als Innovationsführer im Bereich der Unterhaltungselektronik und der professionellen Film- und TV-Produktion natürlich auch als Technik-Sponsor das Projekt vom Dreh bis zum Archiv, zumal beim professionellen Dreh ausschließlich HD-Kameras aus dem Hause Sony einschließlich modernster Disc- und Festspeicher-basierter Medien verwendet werden.

Der Kostenrahmen für die Herstellung des „24hBerlin“-TV-Programms einschließlich Postproduktion wurde auf eine Summe zwischen zwei und drei Millionen Euro festgelegt – „soviel, wie ein guter Tatort kostet“, sagt Heise schmunzelnd. Die Produktionskosten werden von rbb, ARTE und einer Förderung seitens des Medienboards Berlin-Brandenburg getragen. Kirsten Niehuus und ihr Förderteam vom Medienboard ließen sich von Anfang an vom Projekt begeistern, so dass bereits die Drehbuchentwicklung unterstützt worden war. Es sind weitere Sender eingeladen, die ambitionierte Berlin-Dokumentation vom 5. bis 6. September nächsten Jahres 24 Stunden lang auszustrahlen. Der Weltvertrieb wird von der Schweizer Firma First Hand Films durchgeführt. Als Sponsoren für den Web-Auftritt und den Event konnten bereits Arcandor AG, Bombardier Transportation GmbH, Berlin Partner und Investitonsbank Berlin-Brandenburg gewonnen werden. Und auch die eigentlich auf die Aufsicht des Privatfunks kaprizierte mabb ist als Förderer des Projektes dabei. Wobei, wie mabb-Chef Hans Hege sagt, man ähnlich wie beim Offenen Kanal die Herstellung von Filmen durch Amateure für den begleitenden Web-Auftritt von www.24hberlin.tv unterstützen wolle, zunächst zwar nur mit 30.000 Euro. Je nachdem, wie sich das Projekt entwickle, würde man sich möglicherweise noch spendabler zeigen.

Klar ist Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit von „dem einmaligen Fernsehvorhaben“ begeistert, das auf einer zweiten Ebene gleichzeitig eine PR-Maschinerie für Berlin anspringen lassen soll und das kreative Berlin auch in den Bereichen Internet, Events und Musik widerspiegeln werde. Dagmar Reim, rbb-Intendantin, schwärmt von einem „tollkühnen und faszinierenden Projekt“. Ganz Berlin – von Amateurfilmern über künstlerische Prominenz bis zu Hertha BSC als Berlins wichtigster Sportverein – wird irgendwie in das Projekt einbezogen. Ehrensache, dass auch Berlinale-Chef Dieter Kosslick das Projekt ideell fördert, obwohl es sich keinesfalls um einen Kinofilm, sondern um ein Fernsehprogramm handelt. Genau diese Unterscheidung ist Volker Heise sehr wichtig.

So weist Heise weit von sich, dass „24hBerlin“ sich an dem experimentellen Dokumentarfilm „Berlin: die Sinfonie einer Großstadt“ von Walther Ruthmann aus dem Jahr 1927 orientiere – oder an Thomas Schadts Reminiszenz dazu aus dem Jahr 2002 unter dem gleichen Titel. Bei beiden Filmen handelt es sich um geschlossene künstlerische Autorenwerke, auch wenn sie einen Tag in Berlin – allerdings zusammengezurrt – atmosphärisch auf den Punkt zu bringen versuchen.

TV fordert Präsenz
Im Gegensatz dazu hat Heise beim „24hBerlin“-Projekt keinen Film im Kopf, sondern will ein 24-stündiges Fernsehprogramm gestalten. Ein Unterschied wie Tag und Nacht, weil man bei Kino und TV „ästhetisch und inhaltlich“ jeweils „ganz andere Wege gehen“ müsse, erklärt Heise. Während man sich beispielsweise beim Kinofilm „mit einer langen Exposition Zeit für das Erzählen“ nehmen könne, müsse „beim Fernsehen für den Zuschauer sofort klar sein, worum es gehe“, schon wegen der großen Konkurrenz an TV-Programmen.

TV, so ist Heise überzeugt, fordere „eine Form von Präsenz“. Im Gegensatz zu einem Kinofilm werde es bei „24hBerlin“ „keinen Raum mit einer einheitlichen Dramaturgie geben“. Vielmehr sollen die 24 Stunden durch „Rubriken und Zusammenfassungen“ in einzelne Teile zerlegt werden. Für das On-Air-Design würden verschiedenste „Masken“ vorbereitet. Vor allem auch deshalb, weil man mit „24hBerlin“ „nicht nur eine Sender-Empfänger-Situation“, sondern gleichzeitig „eine gemeinsame Plattform mit dem Zuschauer schaffen“ wolle. Hier kommt der heute viel zitierte „Consumer Generated Content“ mit ins Spiel, den Heise indessen lieber mit dem Begriff „Amateurfilme“ beschreibt. Die sollen im Wechsel mit dem professionell aufgenommenen Drehmaterial für Abwechslung in der Erzählstruktur sorgen, die sich entsprechend der verschiedenen Atmosphären am Tag und in der Nacht in den Parallelwelten von Berlin im Tempo und Schnitt verändern wird. So soll sich auch die „zersplitterte Stadt Berlin“ mit all ihren Gegensätzen in ganz unterschiedlichen Erzählweisen und Rubriken widerspiegeln.
Dabei werden nicht nur die Amateurfilme für ganz unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben in Berlin sorgen. Auch die 80 professionell eingesetzten Teams, unter denen sich eine Reihe von prominenten Berliner Dokumentarfilmern und Regisseure befinden, werden für verschiedenste Perspektiven sorgen, sagt Heise. Dabei will Heise aber auch die noch junge Dokumentarszene in Berlin „zum Glühen“ bringen, zum Beispiel die, die noch an den Filmhochschulen in der Region lernen.

Auch wenn „kein einheitliches“, sondern „ein reales Bild“ von Berlin geplant ist, wird es natürlich eine Struktur für den Dreh geben, schon aus logistischen Gründen. Eine Achse und einen roten Faden für das Programm sollen 15 bis 20 vorab ausgesuchte Protagonisten bilden, „deren Leben und Tagesabläufe exemplarisch für Berlin stehen und die in die verschiedenen Milieus der Stadt führen“: Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, bei der Arbeit, auf dem Amt, hinter Mauern, auf der Straße“, wie es in der Projektbeschreibung heißt. Auf einer zweiten Achse sollen „Orte Geschichten erzählen“, „von der Polizeistation bis zum Potsdamer Platz, vom Friedhof bis zur Charité“.
Natürlich ist sich Heise über den experimentellen Charakter und der riesigen logistischen Herausforderung bewusst, vor der alle professionell Beteiligten nicht nur vor und bei dem Dreh, sondern auch bei der Postproduktion stehen werden, die das gigantische Volumen an Doku-Material so in den Griff bekommen muss, dass tatsächlich ein spannendes Fernsehprogramm entstehen kann – und zwar auf High-Definition-Basis. Dies traue man sich seitens zero one film zu, weil man seit vielen Jahren Erfahrungen mit dem Umgang einer Materialfülle gesammelt habe, aus der man bislang einzelne Folgen für Doku-Serien gestrickt hatte.

Noch – es ist Mitte Juni – befinde sich das Projekt „in den Mühen der Ebenen“. Die Protagonisten sind noch längst nicht alle ausgewählt. Die Einholung der Drehgenehmigungen wie beispielsweise von Altersheimen – wo sich verschiedene Anwälte wegen des Rechteschutzes von Personen zwischenschalten – erweist sich als langwierig und schwierig. Noch ist der Drehplan in der vermutlichen Größe von „5 mal 10 Metern“ nicht aufgestellt.
Die große Frage sei auch, wie so eine große Menge an HD-Material im Workflow bewältigt werden könne und wie Logistik und Kommunikation aufeinander abgestimmt würden. Man müsse auch noch die gesamte Technik – etwa verschiedenste Optiken – auftreiben, „etwas, wovor wir großen Respekt haben“, sagt Heise. Und natürlich sei absehbar, dass die meisten Probleme erst im Projektverlauf auftreten werden. Der Teufel sitzt im Detail, wovon Heise sich nicht unterkriegen lässt. Vielmehr betont er – und man glaubt es ihm – die „große Freude“, die man am Projekt habe, das „unter keinem Quotenzwang“ stehe.
Ganz klar aber ist „24hBerlin“ nicht nur ein originelles neues – bislang weltweit einzigartiges – TV-Format, sondern auch Fernsehen in einer neuen Dimension: Wenn es dem Kommunikationsexperten Lutz Engelke tatsächlich gelingt, mit einem Feuerwerk von crossmedialen Kommunikationsinstrumenten – die zu unserer modernen Welt gehören – mit vernetzten Partnern und Sponsoren daraus ein globales TV-Event zu machen. So oder so ist schön am Projekt „24hBerlin“, dass Fernsehmachen jenseits von Quote und Rendite auch wieder Freude machen soll, und sich dabei gleichzeitig seriös und neugierig um das ganz alltägliche Leben der Menschen kümmert und sie und ihr Leben in den Mittelpunkt der Television stellt.
Erika Butzek (MB 07/08)

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