›Herr Durst, Web-TV ist so jung und neu, dass es dafür noch keine speziellen Ausbildungswege gibt. Mit welchem persönlichen Hintergrund sind Sie zum Leiter Web-TV bei BILD.de im Konzern der Axel Springer AG avanciert?
Ich habe zunächst eine Ausbildung zum Werbekaufmann absolviert. Dann habe ich BWL und Publizistik mit Schwerpunkt Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit, PR studiert. Während des Studiums habe ich viel frei gearbeitet und eine eigene
kleine Agentur gehabt, die sich mit Texten und Grafiken einen Namen machte. Fasziniert von Video habe ich mir damals schon viel zur Videoproduktion, wie den Schnitt, privat beigebracht, – learning by doing. Viele Kollegen, mit denen ich damals zusammen arbeitete, waren für BILD T-Online, wie das Unternehmen damals hieß, tätig. Bei Springer ist man auf mich aufmerksam geworden, als man eine Videoabteilung bei BILD.de aufbauen wollte. 2006 habe ich als freier Mitarbeiter angefangen: in einem sehr kleinen Raum, in dem wir unser eigenes Equipment für die Videoproduktion samt Kabeln und Mikro aufgebaut haben. Damit konnten wir ein Video pro Tag online stellen. Diese Pionierarbeit hatte schnell ansehnliche Erfolge. Deshalb kam bei BILD die Frage auf, ob man nicht mehr als ein Video pro Tag machen könnte.
Aus dem winzigen Raum ist mittlerweile ein stattliches Großraumbüro mit etlichen professionellen Videoproduktions-Arbeitsplätzen geworden. Wie viele Videos stellen Sie heute online, und wie viele Mitarbeiter sind hier tätig?
Wir stellen zurzeit rund 1.000 Videos bei BILD.de monatlich online, die in der Regel rund zwei Minuten lang sind. Insgesamt sind in der Bewegtbildabteilung von BILD.de zehn Mitarbeiter beschäftigt. Dazu kommen noch die Kollegen von BILD.TV, die als Agentur den TV-Sendern professionelles Filmmaterial anbieten. Da Fernsehsender immer wieder viele Themen und Berichte von BILD adaptiert hatten, entstand die Idee, dass wir ihnen das Video-Rohmaterial dafür auch selber zur Verfügung stellen können. BILD.TV bedient mittlerweile alle öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender.
Nach welchem Konzept bestücken Sie das Portal BILD.de mit Videos?
Beim Relaunch von BILD.de haben wir von Anfang an auf das multimediale Storytelling gesetzt. Dass heißt, wir produzieren nicht Videos um der Videos willen oder losgelöst vom Content von BILD und BILD.de. Text, Fotos, Videos, Animation bilden bei BILD.de eine Einheit und erzielen in ihrer Gesamtheit eine zeitgemäße Erzählweise, die die Geschichten und Inhalte als multimediales Erlebnis auf den Punkt bringt. Dabei ist unser Ressort wie alle anderen in die Redaktionskonferenz-Struktur eingebunden. Nach Festlegung der Topthemen und relevanten Geschichten generieren wir dazu das passende Videomaterial – entweder indem wir raus fahren und Geschichten selber drehen, unsere Agenturnetzwerke anzapfen oder unsere freien Reporter, die wir über ganz Europa verteilt haben, um Material bitten. Häufig generieren auch die BILD-Redakteure vor Ort selber Bewegtbildmaterial.
Jeder BILD-Reporter ist mit einer Kamera ausgerüstet?
Ja, fast jeder unserer Reporter bis hin zum BILD-Chefredakteur Kai Diekmann trägt eine Pocket-Videokamera VADO in der Tasche, um auch spontan Bewegtbildmaterial erstellen zu können.
Und jeder Reporter liefert jeden Tag Videomaterial an Sie?
Natürlich nicht, letztlich ist das davon abhängig, ob eine Geschichte für Video überhaupt geeignet ist. Bei der Planung wird aber im Vorfeld mit dem Videoredakteur vom Dienst
abgesprochen, ob man mit einem größeren Team vor Ort dreht, mit VJ oder ob man nur die VADO mitnimmt.
Arbeiten Sie mehr mit selbst produziertem Videomaterial oder stammt es mehrheitlich von Agenturen?
70 Prozent unserer rund 1000 Videos im Monat erstellen oder bearbeiten wir selbst.
Dabei produzieren Sie nicht nur tagesaktuell Geschichten?
Nein, es gibt auch Geschichten, die wir langfristig planen oder über eine längere Zeitspanne recherchieren müssen. Zum Beispiel in Afghanistan, Nordkorea oder im Irak.
Wenn man BILD.de anklickt, springt es einem nicht ins Auge, dass im Gesamt-angebot jede Menge Videos sind.
Wie findet der User sie?
Direkt auf der Startseite von BILD.de gibt es innerhalb der Hauptnavigation den Link zu unserer Videobühne. Auf dieser Plattform sind alle verfügbaren BILD.de-Videos, sortiert nach Aktualität oder Ressorts, für jeden abrufbar. Wir wissen aber, dass das nicht der Hauptnutzungsweg unserer User ist. Die meisten gehen eher von der Startseite und den Artikeln aus. Wenn der User eine Geschichte anklickt und dabei auch das Video schaut, dann haben wir alles richtig gemacht.
Bei der multimedialen Verlängerung spielt offensichtlich immer noch das Bild, das Standbild, das Foto eine wesentliche Rolle?
Natürlich sind Fotos ein elementarer Bestandteil unserer Berichterstattung, vor allem wenn es sehr schnell gehen muss. Bewegtbild wird aber immer
wichtiger.
Hat das Bewegtbild einen speziellen Stellenwert oder eine spezielle Aufgabe für BILD.de?
Bewegtbild ist ein essentieller Faktor für das multimediale Storytelling. Das heißt nicht, dass es das Foto ablösen soll. Es gibt aber Geschichten, die man in Bewegtbild besser erzählen kann als mit einem Foto.
Wann zum Beispiel?
Nehmen wir Fußball: Ist doch klar, dass jeder das Tor am liebsten im Bewegtbild sehen möchte. Und das bieten wir auch, zum Beispiel durch unsere Kooperation mit dem Pay-TV-Sender Sky. An jedem Montag kann man die Tore und Highlights im Rahmen unserer eigenen Bundesligaberichterstattung direkt auf BILD.de schauen.
Sie verlinken von BILD.de aber auch direkt zur Online-Plattform von Sky, wo man sich ein Sky-Abonnement kaufen kann …
Selbstverständlich wird auf BILD.de auch Werbung geschaltet.
Welche Video-Formate von BILD.de sind die größten Hits für die User?
Sehr gut laufen alle News-Geschichten, ganz besonders bei topaktuellen und emotionalen Themen, beispielsweise nach dem Erdbeben auf Haiti. Die Menschen wissen einfach, dass sie zu BILD.de kommen müssen, wenn sie schnell informiert werden wollen. Wir sind so aufgestellt, dass wir bei entsprechenden großen Nachrichtenlagen sehr schnell auch das Videomaterial generieren können.
Sehr intensiv genutzt werden auch Videos, die Geschichten mit einem hohen Unterhaltungsfaktor erzählen. Zum Beispiel alles, was mit Show und Fernsehen zu tun hat. Wir haben beispielsweise eine Kooperation mit der Reality Show „Big Brother“ von RTL 2, deren Highlights wir redaktionell zusammenfassen. Das läuft gut.
In der gedruckten BILD gibt es immer auch das BILD-Girl und Erotikgeschichten. Ähnliches bieten Sie sicher auch per Video im Netz an – vermutlich mit größerem Erfolg als die News-Geschichten?
Um gleich ein Vorurteil auszuräumen: Erotik hat auf BILD.de weniger Zugriffe als Lifestyle. Die nachrichtlichen Stücke sind am erfolgreichsten. Klar ist auch das BILD Girl auf BILD.de wichtig, vor allem ist es aber ein Paradebeispiel für den
Mehrwert, den wir den Usern bieten. Mit den Videos, zeigen wir den Prozess hinter der Produktion und bieten damit ein Making of vom ungeschminkten Mädchen von nebenan, im Alltag bis zum zurechtgemachten Fotomodel während des Shootings.
Bei uns bekommt das Mädchen eine Stimme.
BILD.de hat auch mit fiktionalen Web-Serien experimentiert wie zum Beispiel
„Deer Lucy“, die von der Produktionsfirma MME mit dem Versandhandel „Otto“ als Partner hergestellt wurde. Wird BILD.de noch mehr von solchen Produktionen in Auftrag geben?
Deer Lucy war keine Auftragsproduktion von uns. BILD.de war Medienpartner und hat die Web-Soap wie ein Sender ausgestrahlt. Dafür haben wir kein Geld bezahlt.
Meinen Sie denn, dass solche oder ähnliche fiktionale WEB-TV-Serien auf BILD.de eine Zukunft haben und im Videojournalismus integrierbar sind?
Man muss zwischen der Videoproduktion zur aktuellen Nachrichtenlage und reinen Unterhaltungsformaten trennen. Im Unterhaltungsbereich haben wir Formate entwickelt, die schon seit vielen Jahren auf BILD.de höchst erfolgreich sind.
Zum Beispiel Kult-Kaiser Matze Knop alias Franz Beckenbauer: ein Comedian, den wir über BILD.de populär gemacht haben und der zuletzt eine feste Rolle in Waldemar Hartmanns WM-Runde hatte oder bei Thomas Gottschalk auf der Couch saß. Bei uns bringt Matze Knop jede Woche einen komödiantischen Rückblick auf die Bundesliga. Mit solchen Unterhaltungsformaten werden wir auch in Zukunft weiter experimentieren. Manchmal sind wir damit erfolgreich, manchmal weniger. Am Ende zählt der Erfolg unterm Strich.
In welche Richtung gehen denn neue Experimente, die Sie in der Pipeline haben?
In diesem Jahr setzen wir vor allem auf Livestreams und neue Formate. Lassen Sie sich mal überraschen …
Live läuft tatsächlich auch im Internet gut …?
Absolut. Beispielsweise liefen unsere Kooperationen mit N24 zur Bundestagswahl sehr gut. Mit der Live-Übertragung der Begegnung zwischen FC Barcelona und Real Madrid konnten wir Rekord-Streamingzahlen erzielen. Aber wir wollen auch noch mehr mit Livestreams experimentieren, die nicht originär aus dem Nachrichten-, sondern aus dem Unterhaltungsbereich stammen.
Sie haben die Loveparade in Duisburg via Livestream übertragen. Wie sind Sie da mit der großen Katastrophe umgegangen? Die BILD.de-Berichterstattung am nächsten Tag nach dem Motto “Alle Bilder. Alle Videos” wurde von vielen
Beobachtern scharf kritisiert.
Wir haben die Loveparade in Duisburg wie geplant bis 18 Uhr mit einer eigenen Sendung per Livestream übertragen. Dazu gab es und gibt es keine Kritik. Dann ist die Katastrophe passiert. Ich persönlich bin überzeugt, dass diese Berichter-stattung mit der Verantwortung erfolgte, die gerade auch gegenüber jüngeren Menschen notwendig ist. Im Vergleich zu You-Tube, wo die schrecklichen Bilder sofort ungefiltert zu sehen waren, wurden sie in unserer Videoberichterstattung journalistisch eingeordnet.
Mit Youtube und Blogs wurden die Schlagworte “Consumer Generated Content” und “Bürgerjournalismus” in der Medienbranche populär. Sie betreiben mit Ihrem Team bei BILD.de eine neue Art des professionellen Videojournalismus im Web. Welche Fähigkeiten braucht man dafür?
Jeder Videojournalist ist Reporter und Techniker in einem.
Hinter dem videojournalistischen Tagesgeschäft steht ein höchst komplexer Prozess, ein Videojournalist muss schneiden und er muss texten können. Zudem wird er gleichzeitig mit technologischen Detailproblemen konfrontiert, die er selber lösen muss, zum Beispiel welcher Codec in einer File-Datei benutzt wird.
Haben Sie herausgefunden, welche Zielgruppen sich insbesondere für Videos als Webangebot interessieren?
Wir wollen möglichst viele Menschen und die breite Masse ansprechen. Unsere BILD.de-Fans sind jung, gebildet und haben ein gutes Einkommen.
Als größtes Nachrichtenportal Deutschlands erzählen wir unsere Geschichten facettenreicher mit Artikel, mit Fotogalerie, mit Video, mit Animation, mit erklär-baren Image-Maps und mit viel Social Media. Alles zusammen macht den Erfolg von BILD.de bei der Zielgruppe aus. Es macht deshalb keinen Sinn, einzelne Faktoren isoliert zu bewerten.
Social Media puscht BILD.de tatsächlich kräftig nach vorne?
Ja, Social Media ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Reichweite von BILD.de. Wir haben eine eigene Social Media-Abteilung und sind extrem zufrieden, was wir damit erreichen. Tausende von Usern verschicken unsere Videos an Freunde.
Welches langfristige Ziel genau verfolgt BILD.de mit den filigranen Mühen der Multimedia-Strategie und welche Rolle spielt dabei die Möglichkeit, multimediale Inhalte via Handy, iPhone, iPad zu verbreiten?
Wichtig ist zunächst, dass wir mit unserer Multimediastrategie unabhängig davon sind, mit welchen Endgeräten die Nutzer unsere Inhalte empfangen. Wir produzie-ren zwar unsere Videos zu allererst für BILD.de, weil unsere Videos aber selten länger als zwei Minuten sind, können sie auch ohne technische Restriktionen via Handy abgerufen werden. Das iPad wiederum eröffnet durch sein Display ganz neue Möglichkeiten für unsere Multimediastrategie und speziell für Bewegtbild. Hier kann man beispielsweise noch besser 3D-Animationsmodelle in der Darstellung einbeziehen. Unsere Multimediastrategie und Bewegtbild gehen also über reine Filme und Clips hinaus. Wir haben eine Abteilung, die sich ausschließ-lich mit interaktiven Infografiken beschäftigt. Wir haben für die Formel 1, wie auch zuvor für Olympia und die Fußball-WM, virtuelle Welten gebaut, wo man sich alle Spielorte in 3D anschauen, wo man jede einzelne Grand Prix-Strecke nachfahren kann. Das sind alles spielerische Elemente, mit denen wir den Nutzern Informationen unterhaltsam und auf moderne Weise näher bringen können.
Gibt es eine Strategie oder Vision, was schlussendlich aus den vielen Web-TV-Experimenten im medialen Wettbewerb für BILD herauskommen soll?
Natürlich wollen wir mit unserem Onlineangebot das Fernsehen ein bisschen überflüssig machen. Fernsehen unterliegt einem linearen Programmschema, Web-TV erfolgt on Demand. Das ist ein großer Unterschied. In einem Jahr könnte durch die voranschreitende Technik vieles schon wieder anders sein. Mittlerweile sind wir durch Kooperationen mit Samsung, Panasonic und Philips auch auf dem TV-Bildschirm vertreten und damit im hochauflösenden Großformat auf den hybriden TV-Geräten zu sehen. Da kann ich mir durchaus vorstellen, dass wir künftig für die „lean back“-Nutzung auch längere Videos produzieren. Aber wie gesagt, lassen Sie sich überraschen.
Erika Butzek
(MB 09/10)