Überleben in einer disruptiven Industrie

Der NewTV Summit 2016 des Branchenverbands Bitkom Ende Januar in Berlin widmete sich den Fragen: wo befindet sich meine Zielgruppe? Wie erreiche ich sie? Wie mache ich mein Angebot zur Marke? Und wie monetarisiere ich es?

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Überleben in einer disruptiven Industrie

Obwohl Bewegtbild mit einem Gesamtanteil von 93 Prozent und einem Anteil von 61 Prozent bei den 14- bis 19-Jährigen unangefochten auf dem Fernseher konsumiert wird, wie Nicole Agudo Berbel, SVP Distribution von ProSiebenSat.1 Media, erklärte, entstehen die nachwachsenden Zielgruppen und zukünftigen Marken im Internet oder in Spartensendern. Wie erschreckend einseitig das deutsche Fernsehprogramm ist, zeigt ein Blick auf die Top 20-Sendungen. 2015 sahen 41 Prozent der Gesamtzielgruppe Tatort und 59 Prozent Fußball. Bei den 14 bis 49-Jährigen waren es 21 Prozent Tatort, 26 Prozent Dschungelcamp und Eurovision Song Contest und 53 Prozent Fußball.

„In Deutschland funktioniert nur Fußball“, sagt Robert Zeithammel, Head of Key Accounts bei Plazamedia, in Anbetracht der von ihm präsentierten Zahlen. „Und dies ist eine Entwicklung, die sich eher verstärkt, als dass andere Sportarten nachhaltig nachkommen.“ Da die Zahl der Begegnungen begrenzt sind, ist auch das Live-Programm begrenzt. Wachstum lässt sich nur in der Nachverwertung erzielen. Wie mit Highlight-Sendungen, die das ZDF bei der Champions League angeboten hatte oder dem Sky Sport Champions League-Kanal auf Youtube. Beide konnten mit jeweils rund drei Millionen Zuschauern beziehungsweise Abrufen großes Interesse generieren.

Um mit Sport mehr Erfolg zu haben, rät Zeithammel, Sportarten langfristig zu entwickeln und multimedial zu verbreiten, einen sinnvollen Mix aus Live- und Highlight-Inhalten zu schaffen, den vorhandenen Content effizient mehrfach zu nutzen sowie auf Aktualität zu achten und eine enge Social Media Integration zu implementieren. Dazu gehört natürlich auch dem Zuschauer ein Angebot zu unterbreiten, das ihm eine möglichst große Wahl lässt. Nicht nur was seine Sportpräferenzen, sondern auch was seine Zeit angeht, über die er unter Umständen gar nicht frei verfügen kann. Als Best Practice Beispiele nannte Zeithammel Liga Total der Telekom, wo der Zuschauer zwischen 90-Sekündern und dem kompletten Spieltag – das sind 23 Stunden – wählen konnte. Die NBA setzt Social Media ein, um Zuschauer auf die Live-Übertragungen zu bringen, indem sie ‘Must-See’-Situationen schafft. Um die Übertragung zu pushen und nicht zu gefährden, erlaubt sie Clips auf den Social Media-Kanälen, unterbindet aber Live-Stream via Periscope. Dass man abseits von Fußball einen Sport und seine Charaktere als Sender sehr schön entwickeln kann, bewies Sport 1, die sehr erfolgreich mit dem Nischensport Darts sind. „Hier wurden Typen aufgebaut, wodurch sich das Investment in die Community und die Marke ausgezahlt hat“, so Zeithammel.

Ebenfalls komplett vorbei am TV-zentrierten Massenpublikum entwickelt sich eSports, das laut Arnd Benninghoff, Executive VP und CEO von MTG and MTGx Ventures, bald größer als traditionelle Sportarten sein wird. Hier entsteht ein gigantischer Markt, der aber nicht über die traditionellen Kanäle monetarisiert wird. Überhaupt ist dies das eigentliche Problem: die Zuschauererfassung. „Millenials in Skandinavien“, so Benninghoff, „schauen überhaupt kein Fernsehen mehr. Sie haben andere Ausspielmöglichkeiten.“ Doch auch wenn sie das TV-Gerät nicht nutzen, konsumieren sie dennoch TV-Inhalte über Apps (73 Prozent), die sozialen Netzwerke (28 Prozent) oder über Mediatheken (14 Prozent). Auch die Zahlen von Sky sprechen eine deutliche Sprache. In der Hinrunde 2015/16 der 1. Bundesliga sahen 67 Prozent der Sky-Zuschauer die Spiele linear zu Hause, zwölf Prozent via skyGo auf Mobilgeräten und 21 Prozent nicht zu Hause (out-of-home). „Zwar versteht der Markt mittlerweile was hier passiert, aber er reagiert zu langsam darauf. Das muss schneller gehen“, so Martin Michel, Geschäftsführer von Sky Media Networks. Die Serie „House of Cards“, die in Deutschland in der Erstverwertung exklusiv bei Sky läuft, wird nur von 20 Prozent der Zuschauer linear gesehen. „Das bedeutet, dass 80 Prozent der Zuschauer von der GfK nicht erfasst werden“, so Martin Michel. Das bringt erneut die Forderung auf, die Messmethoden zu verändern, auch in Hinsicht auf die Entwicklung eines Adressed Market.

Hieran knüpft auch die „Omni-Connectivity“ an, deren Prinzip Klaus Böhm, Director Technology bei Deloitte, in seinem Impulsbeitrag vorstellte. „Omni-Connectivity“ erlaubt durch entsprechende Datenanalyse direkte Kundenbeziehung aufzubauen, dadurch eine Relevanz der Marke zu erzeugen, flexibel innerhalb der Wertschöpfungskette zu reagieren und die Plattform für weitere Angebote zu erweitern. Beispiele sind hier Uber, Spotify und adressierbare Werbung wie sie Chevrolet beim Silverado 1500 gemacht hat, „was nachweislich mitverantwortlich für eine 26-prozentige Verkaufssteigerung war“, so Böhm. Auch bei der Präsentation von Jörg Blumritt, Gründer und CEO von Datarella, stand die individualisierte Ansprache im Vordergrund. Er erinnerte daran, dass Reichweite etwas anderes sei, als die Quote: „Die Reichweite sagt aus, wie viele Menschen man erreicht, die Quote zeigt nur das Verhältnis an.“ Gleichzeitig liegt Blumritt an einer qualitativen Reichweite, sprich: er will die relevante Zielgruppe möglichst effizient erreichen, was zugleich bedeutet, dass sich das Angebot auch refinanzieren lässt. Die Lösung dafür ist bekannt: nämlich jeden Menschen einzeln zu betrachten, zu erkennen, was für ihn relevant ist und ihn dann auch individuell anzusprechen. Grundsätzlich ist das alles möglich. Allerdings schränkt die Firmen nicht nur die Gesetzeslage ein. Es fehlt ihr auch an den Möglichkeiten, die Berge an Daten, in dem Maße zu ordnen, zu analysieren und einzusetzen wie es eine effizientes, erfolgreiches Targeting erfordert. Der vorhandene Spielraum, so das Fazit von Blumritts Vortrag, ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Adressierbare Ansprache in jeder Form und Omni-Connected Media sind jedoch Grundlage für ein spezialisierteres und damit vielfältigeres Angebot. Dazu gehört auch „Programmatic TV“, also automatisch eingepflegte (zielgerichtete) Werbung, die teilweise in Auktionen vergeben wird, wie es Matthias Göller, Business Development Manager bei Arvato Systems und Willibald Müller, Geschäftsführer von Goldbach Germany, vorstellten. „Der Netto-Umsatz des linearen Fernsehmarkts wird sich 2016 auf 4,5 Milliarden Euro belaufen. Optimiert man ihn nur um ein Prozent, sind das 45 Millionen Euro“, stellen sie das Potential in Aussicht. Auch wenn Nicole Agudo Berbel, Senior Vice President der ProSiebenSat.1 Media SE, betonte, dass das lineare Fernsehen nach wie vor die Nummer Eins bleibt, weil „manche Bedürfnisse nur lineares TV befriedigen kann“, so räumt sie auch ein, dass dies von anderen Angebotsformen ergänzt wird. „Daher muss sie das Fernsehen immer wieder neu erfinden, wobei es auch gilt den Zuschauer und seine Wünsche zu verstehen“, sagt sie und weiter: „Der TV-Markt wird sich weiter fragmentieren, weshalb man Zielgruppen gezielter ansprechen und auch neue Zielgruppen entwickeln muss.“ Ob das dann im klassischen, von Live-Sendungen dominierten TV stattfinden wird oder sich auf anderen Kanälen entwickelt, ist die Frage. Klar ist nur, dass diese Kanäle enorm an Fahrt aufnehmen. „Es gibt Themen, die finden in der linearen Welt einfach nicht mehr statt“, sagt Michel. Und da sie in der linearen, der gelernten, traditionellen Welt nicht auftauchen, werden sie von Teilen der Bevölkerung nicht nur nicht wahr genommen, es müssen für diese Themen neue Wege der Markenbildung und Monetarisierung gefunden werden. Gleichzeitig heißt dies aber auch, dass man sein Publikum sehr viel gezielter ansprechen kann, dass man ihm mit Hilfe der Digitalisierung und ihrer Verbreitungswege sehr viel spezifischere Angebote machen kann und dass es sich lohnt, auch in Nischen zu gehen und diese zu entwickeln.

Ein immer wieder kehrendes Beispiel war beim NewTV Summit der eSport (s. Beitrag in dieser Ausgabe), der unter Ausschluss der Öffentlichkeit inzwischen zu einer beachtlichen Größe gewachsen ist. Schon in der Eingangs-Keynote platzierte Benninghoff ein paar Zahlen dazu: Der Gaming-Markt insgesamt (inklusive eSport) hat weltweit ein Volumen von rund 80 Milliarden Dollar. Die Firmen nutzen die Ligen, um den Markt zu entwickeln. Die Events finden ganzjährig in den größten Arenen der Welt statt. Währenddessen lassen sich pro Event fünf Millionen Merchandising-Artikel verkaufen. Im Schnitt gibt der Gamer zwei Dollar für dafür aus, was sich in den nächsten Jahren auf zehn Dollar steigern lässt. Das ist nicht viel im Vergleich zum Fußball, wo der Fan durchschnittlich 62 Dollar ausgibt, oder beim Basketball mit 19 Dollar. Wie immer macht es hier die Menge – und die ist beim Gaming erheblich höher, als beim traditionellen Sport. Zudem ist eSport eine Freizeitbeschäftigung für Menschen mit Geld. 53 Prozent haben einen Vollzeitjob, 30 Prozent haben ein hohes Einkommen. Im Durchschnitt leben sie in Haushalten mit einem Einkommen von 76.000 Dollar im Jahr. Das sind keine Peanuts. „2017 wird eSport so populär sein wie die NFL, also American Football“, sagt Arne Peters, VP Technology bei der in Köln sitzenden ESL/Turtle Entertainment, dem größten eSports-Unternehmen der Welt. Doch dies bedeutet nicht zwingend, dass eSport der neue Quotenschlager im Fernsehen wird, obwohl der Sportkanal ESPN eSport, das in den USA offiziell als Sport anerkannt ist, überträgt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Konsument auf das lineare Fernsehen umschwenkt, wenn er bei Twitch über eine Kommentarfunktion verfügt“, meint Peters. Twitch TV ist ein Live-Streaming-Videoportal für die Übertragung von Videospielen. „Davon abgesehen, sind wir nicht auf das lineare Fernsehen angewiesen“, lässt Peters einfließen. Ein weiterer Hinweis darauf, das im Streamingbereich gerade eine komplette, monetarisierbare Parallelwelt entsteht, in der allein die eSport-Events um das immens populäre „League of Legends“ rund 1,6 Milliarden Dollar umsetzen. Zum Abschluss gab Thomas Heigl, Industry Market Development Manager von Microsoft Germany, drei Regeln für das Überleben in einer disruptiven Industrie mit: 1. Das Kerngeschäft so schnell als möglich ändern, sonst kommt jemand anderes und man ist aus dem Spiel; 2. Ein offenes Ökosystem bauen – es geht und geben und nehmen; 3. Von anderen lernen – Innovation kommt von Inspiration. Die digitale Transformation in der Medienbranche besteht laut Heigl aus drei Aspekten: Technologie, Content und Daten. Die Technologie verändert den Zugang und die Nutzung von Inhalten und erfordert massive Investitionen. Der Content ist/bleibt King! Auch wenn er sich ständig verändert, werden Inhalte nach wie vor gebraucht, wenn auch nicht immer von großen Playern. Und zu guter Letzt Daten. Sie verschieben Relevanz und Transparenz von Content und beeinflussen so Reichweite und Geschäftsmodelle. Sie verändern dramatisch wie und wo Inhalte gesehen und monetarisiert werden.

Thomas Steiger

MB 1/2016