Ein neuer Zugang zur Realität

Beim 22. medienforum.nrw diskutierten Medienvertreter, Experten und Politiker nicht nur über die vielfältigen Chancen und Möglichkeiten, die sich durch die zunehmende Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitwelt ergeben. Die damit einhergehende Veränderung der Kommunikationsstrukturen sowie der komplette Kontrollverlust über persönliche Daten wurden kritisch unter die Lupe genommen. Weitere Top-Themen: Stereo 3D, die gesellschaftliche Durchdringung der Social Networks und Augmented Reality.

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„Das Netz vermittelt keine Wirklichkeit mehr. Es ist Teil der Wirklichkeit geworden“, konstatierte der scheidende NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers in seiner Eröffnungsrede auf dem 22. medienforum.nrw. Heute habe Facebook knapp 500 Millionen Nutzer, was der Anzahl der Einwohner in der EU entspräche. Doch der viel gepriesene Strukturwandel der Öffentlichkeit hat auch seine Schattenseiten. „Wir werden abhängiger von hochkomplexen Systemen“, betonte Rüttgers. Daher seien klare Regeln im Netz unverzichtbar. Sonst generierten die Systeme schnell eigene Regeln, die nicht demokratisch seien.
„Die Finanzkrise hat das gerade vor Augen geführt.“ Zudem befürchtet Rüttgers eine „Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die mit dem neuen Wissen umgehen können und in diejenigen, die damit überfordert sind.“

Während die Experten beim Digital-Kongress Erkenntnisse darüber austauschten, dass der Konsument immer multitasking-fähiger werde, was eine Grundvoraussetzung für den Erfolg von Internet-TV sei, aber die Lean Back- und Lean Forward-Angebote in einem Spannungsfeld zueinander ständen, warf der junge Berliner Jonathan Immer mit seinem Projekt Palomar5 die zentrale Frage auf „Wie digital wollen wir eigentlich leben?“. Mit seinem Unternehmen „until we see new land“ hat er 30 „Digital Natives“ aus der ganzen Welt zu einem Workshop eingeladen, um zu untersuchen, wie sich das Leben in Zukunft vereinfachen lässt. „Ich möchte nicht wissen, was sich im Offline-Leben noch digitalisieren lässt, sondern vielmehr, wie wir Schnittstellen schaffen können, die wir nicht wahrnehmen“, betonte Immer. Nach der Digitalisierung der Kommunikationsprozesse erwartet er nun eine Phase der Re-Analogisierung. Inzwischen sei er selbst dazu übergegangen, sich Musikstücke selbst auszuwählen, anstatt die Selektion den auf Algorithmen basierenden Programmen zu überlassen.

„Nichts ist neuer als die Innovation. Nichts ist offenbar verlockender als Geräte, die auch das können, was kein Mensch braucht“, betonte Norbert Schneider, der als Direktor der Landesanstalt für Medien NRW (LfM) zum 17. und letzten Mal das medienforum.nrw geleitet hat. „Natürlich ist das Internet wichtig und wird immer wichtiger. Aber nicht als Leitmedium, sondern als Plattform. Als Infrastruktur des globalen Kommunizierens. Ein Leitmedium dagegen ist diejenige Publikationsform, die von einer überwiegenden Zahl der Nutzer angewählt wird, wenn ein Ernstfall eintritt“, unterstrich Schneider. „Stellen Sie sich einfach vor, Fernsehen fiele weltweit für einen Monat aus! Erst würden die Menschen unruhig. Und dann träte der eigentliche Ernstfall ein: Unruhige Märkte. Und niemand wäre da, der uns die Unruhe erklärt. Nicht einmal Anja Kohl. Eine Welt ohne Fernsehen hätte einen ähnlichen Effekt wie ein Flugverbot unter Einschluss der Asche: Alle wären am Boden. Früher oder später. Sogar Phoenix.“

Auch in der Netzgemeinde werden inzwischen Ansätze entwickelt, um auf die übermächtige Medienrevolution zu reagieren. Die Bonner Beraterin Sabria David präsentierte „Das Slow Media Manifest“, zu dessen Kernthesen das Monotasking gehört. „Es geht darum, die digitale Selbstbestimmung zu finden“, versicherte Ibrahim Evsan, Gründer des Kölner Unternehmens Up Web Game. „Wir befinden uns mitten in der Innovationsphase.“ Social Media sei erst durch Handys ermöglicht worden. „Die Menschheit hat einen neuen Freund gefunden.“ Von der Social Community-Plattform Foursquare, die sogar offen legt, wo sich ihre Mitglieder gerade aufhalten, hat er sich allerdings wieder verabschiedet, nachdem ihn ein Fremder im Restaurant belästigte, der über das Social Network auf ihn aufmerksam geworden war.
Durch die futuristisch anmutenden Anwendungsmöglichkeiten für Augmented Reality (AR) wird es sogar möglich, fremde Menschen mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware auf offener Straße zu identifizieren, womit Kinofilme wie der US-Science-Fiction-Thriller „Minority Report“ ein Stück weit Realität werden. Augmented Reality bezeichnet die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung womit beispielsweise die Ergänzung von Bildern oder Videos mit computergenerierten Zusatzinformationen oder virtuellen Objekten gemeint ist. „Unser Ziel ist, die Maschinen und Tools so zu gestalten, dass sie den Menschen die Arbeit erleichtern“, erklärte Leif Oppermann, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Fraunhofer Institut in St. Augustin.
Zu den Anwendungsgebieten gehört zum Beispiel der Bereich Architektur, um Baupläne zu visualisieren oder die Autoindustrie, um die Funktionalität von Armaturenbrettern schon vor der Fertigung virtuell zu testen. In der Industrie wird per AR das Sichtbild des Monteurs erweitert, um darüber Zusatzinformationen oder Arbeitsanweisungen zu vermitteln.

Beim medienforum.nrw lud Roman Weishäupl, Head of Global Scouting beim Trendforschungsinstitut Trend One, zu einem kurzen Ausflug in die Zukunft ein. Auf diesem virtuellen Kurztrip wurden sowohl aktive Kontaktlinsen mit Gesichtserkennungsfunktionen demonstriert als auch das Projekt Natal, hinter dem sich Kinect für die Xbox 360 verbirgt. Dabei wird die Spielkonsole durch zwei Kameras ergänzt, die den Nutzer aufnehmen, so dass er sich selbst als Figur in der virtuellen Welt sieht und interaktiv mit seinen Bewegungen auf jede Herausforderung reagieren kann. Diese Virtual Experience-Anwendung soll noch in diesem Herbst in den USA zu einem Preis von unter 200 Dollar auf den Markt gebracht werden. „Das wird die Spiele-Industrie revolutionieren“, versichert der Trendforscher. Der persönliche Avatar auf dem Bildschirm zuhause kann auch dafür genutzt werden, um beispielsweise Kleidungsstücke virtuell anzuprobieren. Der Brillenhersteller Ray-Ban bietet seinen Kunden schon jetzt im Netz an, auszuprobieren, welche Sonnenbrillen ihnen persönlich am besten stehen.
Auch Olympus hat eine Augmented Reality-Software entwickelt, mit der die Kunden über das Netz virtuell die neue Kamera „Pen E-PL1“ testen und ihre Probeaufnahmen sogar an die Facebook-Freunde verschicken können. Weltweit für Furore gesorgt hat die erste Augmented-Version auf dem Cover des US-Computermagazins Wired, über die sich ein Fenster mit einem Video mit Robert Downey jr eröffnet. Für die Werbewirtschaft eröffnen sich durch Augmented Reality ebenfalls neue Möglichkeiten. Der US-Telekommunikationskonzern AT&T hat ein Werbebanner entwickelt, der den Betrachter an einem virtuellen Fußball-Match teilhaben lässt. „Die Unternehmen können sich solche Anwendungen beim Fraunhofer Institut maßschneidern lassen“, veriet Leif Oppermann.

Im Filmbereich ist es vor allem Stereo 3D, das derzeit für neue Impulse sorgt. Im Zuge des 3D-Booms im Kino planen auch immer mehr deutsche Regisseure und Produzenten ihre ersten 3D-Projekte. Zu den Vorreitern gehört Wim Wenders, der in Wuppertal derzeit den 3D-Tanzfilm „Pina“ realisiert. „Ich wollte schon seit über 20 Jahren einen Tanzfilm mit Pina Bausch drehen, doch erst als ich vor einem Jahr das digitale 3D gesehen habe, wusste ich, wie ich diesen umsetzen kann“, erklärte Wenders. Noch bevor der Regisseur der berühmten Choreographin seine ersten Testaufnahmen in 3D vorführen konnte, verstarb sie überraschend am 30. Juni 2009. „Wir haben daraufhin sofort die Vorbereitungen zu unserem Film eingestellt.“ Doch zwei Monate später überzeugten ihn die Tänzer, dieses Projekt wieder aufzunehmen. „Ich musste mein Konzept schnell ändern.
Der Film ist jetzt als eine Hommage angelegt, in der die Arbeit im Vordergrund steht.“ Wenders verriet, dass Pina Bausch durchaus in diesem 3D-Film zu sehen sein wird. „Es gibt in einem 3D-Film die Möglichkeit, ein flaches 2D-Bild in den Raum einzubauen und eine Ebene zu geben.“ Um diesen Tanzfilm in dreidimensionalen Format auf die Leinwand zu bringen, hat er den französischen Stereographen Alain Derobe engagiert, der als einer der führenden 3D-Pioniere in Europa bereits vor zwölf Jahren einen Stereo 3D-Kamera-Rig entwickelt hat, der die beiden Kameras durch einen halbdurchlässigen Spiegel miteinander verbindet.
„Diese Technik war allerdings noch nicht so weit, wie wir gehofft hatten“, gestand Wenders, der damit die natürliche Raumwahrnehmung so plastisch filmen wollte, als ob der Zuschauer selbst direkt vor der Bühne stehe. Doch bei den ersten Testaufnahmen in 3D musste er feststellen, dass sich beim Dreh in 3D mit 24 Bildern pro Sekunde keine natürlich fließenden Bewegungen aufnehmen lassen, weil dabei keine Bewegungsunschärfe entsteht. Dieses Problem löste er bei seinem letzten Dreh im März/April dieses Jahres durch den Einsatz einer sehr beweglichen SteadyCam. Zudem musste Wenders die Erfahrung machen, dass 3D sehr viel mehr Licht erfordert. „Der Spiegel zwischen den Kameras kostet 1,5 Blenden“, erläuterte der Regisseur. „Da bei ‚Pina’ die existierende Lichtstimmung ein wichtiges Element darstellt, mussten wir mehr Licht setzen, um diese Stimmung zu bewahren.“ Nach diesen ersten Erfahrungen mit der 3D-Technologie ist Wim Wenders völlig davon begeistert. „Es gibt für Dokumentarfilme nichts Fantastischeres, als sie in 3D zu drehen, weil dadurch ein neuer Zugang zur Realität geschaffen wird.“ Birgit Heidsiek
(MB 07/10)

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