Konkret geht es um die Netzneutralität, die Kritiker wie Barbara van Schewick, Professorin an der Stanford Law School, durch die am 1. Mai in Kraft getretene „Telecom-Single-Market-Richtlinie“ der EU gefährdet sehen sowie dem Bemühen der EU einen Digital Single Market einzurichten. Dies würde beispielsweise bedeuten, dass jeder in der EU lebende Konsument aus jedem EU-Land heraus Zugriff auf seinen heimischen Streaming-Anbieter (z.B. Netflix) hat. Rechteinhaber befürchten dadurch, ihre Inhalte in Zukunft nicht mehr pro Land verkaufen zu können, sondern nur noch EU-weit, wodurch sie mit erheblichen Einbußen rechnen.
Verteidigt wurde die „Telecom-Single-Market-Richtlinie“ auf der Media Convention von EU-Digitalkommissar Günther Oettinger. Die Richtlinie ist ein Kompromiss zwischen EU-Kommission, die die Netzneutralität im Grunde abschaffen, und dem EU-Parlament, das die Netzneutralität festschreiben wollte. Der im Rat erzielte Kompromiss wird kritisiert, weil er unter anderem Ausnahmen für sogenannten Spezialdienste erlaubt aber sie nicht definiert. Kritiker befürchten nun, dass letztendlich so viele Spezialdienste zugelassen werden, die sich eine Vorfahrt im Netz erkaufen, dass für den normalen Internetverkehr kaum mehr Kapazitäten übrig bleiben.
Der Netz-Kommissar macht sich über die Aushebelung der Netzneutralität hingegen keine Sorgen, da er darauf vertraut, dass die Datenleitungen schon in kürzester Zeit Kapazitäten erreichen, die die Frage obsolet machen. „Wenn wir die zwölfspurige Datenautobahn und 5G haben und Milliarden in Glasfaser-to-home und -to-the-fabric investieren, dann wird das Thema Bevorzugung, Benachteiligung eine deutlich geringere Rolle spielen“, sagte Oettinger. Daher will er durch „kluge Regulierung“ Milliarden für den Ausbau der „Datenautobahn von morgen“ aktivieren, um rasch das einzuführen, was technisch möglich ist. Gleichzeitig plädiert er für eine europäische Spektrumspolitik und eine zeitgleiche Frequenzausschreibung, um Funklöcher bei 5G an den nationalen Grenzen zu verhindern. „Wir brauchen das 700 Mhz-Band – koordiniert, dann kann das Ganze Ende des Jahrzehnts Realität sein“, stellte Oettinger in Aussicht. „Damit und parallel mit Glasfaser, verringert sich die Bedeutung von Neutralität gewaltig.“
Der Gelassenheit, die Oettinger in Sachen Netzneutralität an den Tag legt, kann van Schewick nichts abgewinnen. Sie sieht in der Aufgabe von Netzneutralität schwerwiegende Gefahren für Start-up-Gründungen sowie die gesamte Internet- aber auch die normale Wirtschaft, die Geschäfte über das Internet abwickelt. Van Schewick legte in ihrem stringent formulierten, überzeugenden Vortrag dezidiert dar wie die Aufgabe der Netzneutralität jedwede Innovation, Gründungskultur und Wettbewerb erstickt, wenn sich Marktteilnehmer mit tiefen Taschen eine Überholspur kaufen können. „Das Internet funktioniert aufgrund seiner Architektur so, dass man Firmen mit wenig oder keinem Geld entwickeln kann“, sagte van Schewick. Die Basis hierfür ist jedoch die Netzneutralität. Denn egal wie schnell das normale Internet ist, „das schnellere, verdrängt das schnelle“, so van Schewick.
Auch das Zero-Rating, bei dem ein Teil der Daten dem Kunden nicht in Rechnung gestellt werden, ist wettbewerbsverzerrend und kommt der Aushebelung der Netzneutralität gleich. Content Distribution Networks (CDNs), die die Datenlieferung beschleunigen, sind hingegen kein Problem, da manche auch ohne zusätzliche Kosten zur Verfügung stehen. Zudem nannte van Schewick eine reelle Alternative, um Wettbewerbsnachteile zu verhindern: nicht der Anbieter zahlt für die Überholspur, sondern der Kunde.
Zwar ist die Telecom-Single-Market-Richtlinie in Kraft und dadurch unabänderlich, jedoch ist sie mit vielen schwammigen Formulierungen, Ausnahmen und Hintertüren ausgestattet. Daher gibt es noch eine kleine Chance die europäische Netzneutralität zu retten. Die Hoffnung liegt hier auf der BEREC, dem Body of European Regulators for Electronic Communications, in dem auch die Bundesnetzagentur Mitglied ist, die bis zum 30. August die Ausführungs-Leitlinien für die Richtlinie schaffen wird. Die Chance ist jedoch relativ klein, da die Leitlinien eng mit der Kommission abgestimmt werden müssen. „Insofern ist Besorgnis angesagt“, warnte van Schewick vor zu großen Hoffnungen und fordert gerade Start-ups auf Druck auf die Politik auszuüben, die geschickt versucht, sich vor dem Problem wegzuducken.
Thomas Steiger
MB 2/2016