Mit der Folge aus Hessen „Wie einst Lilly“ mit Ulrich Tukur als neuer LKA-Fahnder Felix Murot aus Wiesbaden, hat sich der HR einen internationalen Topstar an Land gezogen. Das zeigt nur zu deutlich, welch ein hohes Ansehen diese Krimireihe genießt. Mit Martina Gedeck in einer weiteren zentralen Rolle ist diese Jubiläumsfolge hochkarätig besetzt.
Tukur ist 40 Jahre nach Walter Richters „Taxi nach Leipzig“ als Kommissar Trimmel der 102. Ermittler des Tatortes. Die Hessen schicken mit dem LKA-Mann einen besonderen Charakter ins Rennen, über den die Hamburger Morgenpost nach der Pressevorführung die Schlagzeile titelte: „Ein Kommissar mit Humor und Tumor“. Der neue Ermittler kommt hier als ein Grenz- und Einzelgänger daher, der am liebsten auf eigene Faust handelt. Murot war früher einmal beim BKA; die einzige Vertraute im LKA, seine Sekretärin Magda Wächter (Barbara Philipp) hält ihm den Rücken frei. Und Murot lebt mit einem abgekapselten Tumor in seinem Hirn, den er liebevoll nach seiner Jugendliebe „Lilly“ nennt. Mit dem eigenen Abgrund in sich wirft Turot einen anderen Blick auf die Verbrechen; die Krankheit gibt ihm auch eine neue Lust aufs Leben.
Zum Jubiläum ein kleiner Regelbruch
Regisseur Achim von Borries fand es sehr reizvoll, den ersten Einsatz des LKA-Ermittlers zu inszenieren: „Das Besondere an diesem neuen Typus des Tatort-Kommissars ist, dass es wenig klassische Verhörsituationen gibt. Er stellt sie geradezu beiläufig her, indem er in die Küche der Pensionswirtin schlendert, in der er sich eingemietet hat, dort Gespräche anzettelt, die vermeintlich privat sind. Das wirkt alles andere als konfrontativ, plätschert geradezu dahin. Aber er stellt doch die richtigen Fragen, die sich in der vermeintlichen Beiläufigkeit als wertvoller Puzzelstein in einem Gesamtmosaik entpuppen.“ Dass dieser Charakter dabei mindestens so viele Fragen zu sich und dem Leben stellt wie zu dem Fall, in dem er ermittelt, stellt für von Borris im Grunde einen Bruch der Tatort-Regeln dar. Auch inhaltlich vermag diese Folge das Spektrum des deutschen Fernsehkrimis um eine neue Farbe zu bereichern, die bislang eher selten ist, denn es geht um mögliche Verbindungen von Staatsorganen zur RAF im Dienste der Gefahrenabwehr. Klar, dass die Verantwortlichen einem Schauspieler wie Tukur eine besondere Rolle bieten wollten.
Das Geheimnis des jahrzehntelangen ungebrochenen Erfolges liegt im Grundkonzept der Sendung. Die Ansiedelung des Tatorts in den Regionen des Landes verbunden mit verschiedenen Kommissarteams, die sich aus unterschiedlichen Charakteren, Temperamenten und auch Mentalitäten zusammensetzen, wurde zum Glücksfall für die ARD, weil es den Sendeanstalten im Verbund ein Höchstmaß an Eigenständigkeit und Individualität garantiert und der Sendefamilie dennoch ermöglicht, ein einheitliches Angebot zu unterbreiten. Der Programmdirektor der ARD Volker Herres erklärt dazu: „Das Geheimnis des Tatorts liegt in erster Linie darin, dass er etwas Verlässliches bietet. Er besitzt verschiedene Handschriften, die von einer starken Marke zusammen gehalten werden. Dass die Reihe so vielfältig ist, hängt mit ihrer regionalen Verwurzelung und der Vielzahl der Charaktere zusammen.
Mal gibt sich der Tatort etwas komödiantischer, wenn er aus Münster kommt, in Hannover ist er weiblicher und in München stark im klassischen Krimigenre verhaftet. Mit allen diesen regionalen Ausprägungen bieten wir eine facettenreiche Bandbreite innerhalb eines klar erkennbaren Profils. Der Tatort ist, neben der Tagesschau, die wohl stärkste Marke im Ersten Deutschen Fernsehen.“ Und weil diese Marke so stark ist, hat dieses Format durchaus die Kraft, stets neues auszuprobieren. So hat sich der Tatort in allen Jahrzehnten in seiner Bildsprache und Dramaturgie deutlich verändert und auch weiter entwickeln und erneuern können, ohne dass es einen Programmdirektor unruhig schlafen lässt, wie Herres bestätigt: „Der Tatort ist eigentlich immer ‚state of the art’. Die Marke lässt sehr viel Spielraum für Variation – selbst dort, wo mir als Programmdirektor etwas mulmig zu Mute ist.“
Dass der Tatort allerdings als Marke stark und in einem festen Rahmen erkennbar bleibt, dafür sorgt die Koordination, in dem sich die einzelnen Redaktionen abstimmen. Es gibt da einige Regeln zu beachten, etwa dass das Verbrechen am Anfang steht und der Täter am Schluss überführt wird. Der ARD-Koordinator für den Tatort Gebhard Henke: „Der Tatort ist Geschichte der Bundesrepublik. Selbst die alten Geschichten werden immer wieder gerne geschaut, weil sie Sitten- und Kulturhistorie der alten Bundesrepublik in sich tragen.“ Und sie zeigen natürlich auch den Blick der Regisseure und Autoren auf ihre Zeit. „Die ständige Erneuerung, das Neuerfinden der Reihen-Idee mit dem gleichzeitigen Respekt vor dem Tradierten ist und bleibt die Zauberformel“, findet Henke und sieht heute den Trend zum Kino: „Die jüngeren Regisseure und Autoren orientieren sich am internationalen Kinofilm, an der Machart der modernen amerikanischen Serien und wollen mit dem Tatort in dieser Liga mithalten können.“
Und natürlich spiegeln sich in dem Format auch gesellschaftliche Entwicklungen, wie Herres ausführt: „Der Tatort ist weiblicher geworden durch weibliche Kommissare wie Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), Lena Odenthal (Ulrike Folkerts), Eva Saalfeld (Simone Thomalla) oder Klara Blum (Eva Mattes). Und seit Cenk Batu als verdeckter Ermittler (Mehmet Kurtulus) in Hamburg unterwegs ist, findet Integration auch im Tatort statt.“
Hohe Produktionsqualität
Bei aller Innovationsfreude hat sich in den 40 Jahren selten Skandalöses um diesen Dauerbrenner der ARD ereignet. Er ist zu bester Sendezeit immer familientauglich geblieben. Ebenso unangetastet geblieben sind die hohen Produktionsstandards. Nahezu alle Tatorts wurden auf Film gedreht, „zunächst 16mm Farbumkehrfilm und dann später Ende der 80er Jahre wurde auf Farbnegativ gedreht, wie Klaus Georg Hafner (Marketingleiter bei der deutschen Kodak GmbH) weiß: „Das Colornegativ-Material war besser für die digitale Postproduktion. Es hatte eine bessere Abtastqualität. Mit der neuen Generation von Telecines in den Postproduktionsstudios zeichnete sich das Negativ-Material durch besseren Kontrastumfang und Farbwiedergabe aus.“
In 40 Jahren ist es Video nicht gelungen, in diese Film-Domäne einzudringen. Und auch die Umstellung auf HDTV heißt nicht das Ende des Films, auch wenn der Zug zur kompletten digitalen Produktion nicht aufzuhalten sein wird. Nur einmal hatte es der SFB gewagt einige Tatorte auf Digi Beta zu drehen, was zu heftigen Reaktionen in der Presse führte und vom Publikum mit einem deutlichen Quotenrückgang abgestraft wurde. Und auch Bienzles Ermittlungen für den SWR wurden vor einigen Jahren mit einer HDCAM 24p-Kamera als Testlauf gedreht.
Generell halten die Sender bisher am Film fest – wegen dem Look, der Tiefenschärfe und dem hohen Kontrastumfang des Filmmaterials. Und auch wegen der Erfahrung in der Postproduktion. Für den Film spricht zudem, die enormen Qualitätsverbesserungen bei den Emulsionen und in der Filmabtastung und Bildstand. Über alle diese Qualitäten sind sich Regisseure, Kameraleute und die technischen Leiter der Sender im Grunde einig. Auch Regisseur von Borris bekennt sich zur Vorliebe für den Film. Aber er sieht auch die Vorteile der digitalen Technik: „Wenn man nachts ohne Licht drehen kann, dann ist das etwas Besonderes. Diese Lichtverhältnisse, die das Auge wahrnimmt, kann der Film nur bedingt abbilden. Die digitale Technik bietet da schon mehr Annährung.“
Finanzielle Spielräume sind enger
„Die hohe Produktionsqualität des Tatortes war immer Konsens und soll es auch bleiben“, versichert Herres. Er räumt aber auch ein, dass im Zuge der Sparzwänge bei den Kalkulationsverhandlungen mit den Produzenten schon um die Drehtage und Ausstattung gerungen werde. „Das muss ja auch sein. Wir müssen mit dem Gebührengeld wirtschaftlich umgehen, denn unsere finanziellen Spielräume sind enger geworden. Aber ich halte nichts davon, bei einer Marke wie dem Tatort generell die Standards zu senken. Der Tatort lebt von seiner hohen Produktionsqualität und seinem Production Value. Beides wollen wir nicht unterschreiten“, betont Herres.
Besondere Produktionsbedingungen hat Regisseur von Borries beim HR angetroffen, der praktisch der einzige ARD-Sender ist, der alles in Eigenproduktion realisiert. „Das ist eine absolute Ausnahme“, so von Borries, der die Zusammenarbeit mit dem Team des HR sehr fruchtbar fand. Eine der Hauptdrehorte ist eine kleine Pension direkt am Edersee im Nordhessen gewesen. Die Wände dort wurden sogar umgestrichen. So etwas ist kaum möglich, wenn da noch eine freie Produktionsfirma dazwischen ist, die Geld verdienen muss.“
Wie lange Tukur als LKA-Fahnder Murot Sonntagabends im deutschen Fernsehen zu sehen sein wird, ist offen. Der HR muss sich da gewiss nach dem Terminkalender des Stars richten. Die vertragliche Verabredung mit Tukur erfolgt auf Basis jeder einzelnen Folge: „Wir lassen uns da auf eine große Planungsfreiheit ein.“, bekannte HR-Fernsehspielschefin Liane Jessen vor gut einem Jahr. Inzwischen denkt sie ein bis zwei Folgen pro Jahr mit Tukur drehen zu können. Anfang 2011 fällt die Klappe für den nächsten Film nach einem Buch von Daniel Nocke. Und wer Programmdirektor Volker Herres befragt, ob Kommissars Murots Krankheit nicht ein jederzeit perfektes Ausstiegsszenario gewährt, um den Kollegen zu folgen, die nur ein oder zweimal ermittelt haben, erhält die lakonische Antwort: „Lilly wird nicht siegen.“
Bernd Jetschin
(MB 11/10)