Erdrutschartige Entwicklung

Mit AIMS, ASPEN, TICO Alliance und Sony NMI formieren sich derzeit Interessengruppen zur Einführung IP-basierter Workflows und -Prozesse in der Medien-Welt. Lawo gehört zu den Gründungsmitgliedern der Alliance for IP Media Solutions (AIMS). Das Unternehmen hat frühzeitig die Relevanz von IP erkannt und seine Produktstrategie darauf ausgerichtet. Laut CEO Philipp Lawo werden IP-Lösungen das Broadcast-Geschäft komplett verändern.

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Erdrutschartige Entwicklung

Die Diskussion um neue IP-basierte Infrastrukturen im Broadcast-Geschäft gewinnt an Dynamik. Sind mögliche Kosteneinsparungen die Treiber dafür?

Der Kostenaspekt ist bei IP-basierten Systemen gegenwärtig noch nicht das Thema. Er wird erst dann eine Rolle spielen, wenn IP/IT-Infrastrukturen im großen Stil Einzug in die Branche halten und wir aus der Early-Adopter-Phase heraus sind. Dann wird IP auch ganz klar einen Preisvorteil bieten. Teilweise ist das aber auch heute schon der Fall. Grundsätzlich würde ich sagen: Ja, die IP-Technik wird Kosten einsparen. Aber im Moment sind wir in einer Übergangsphase, wo man bei den ersten Installationen Kostenersparnis nicht gleich versprechen kann. Wie bei jeder Einführung neuer Technologien gibt es erst einmal eine gewisse Lernphase. Dass dabei die Zuverlässigkeit im praktischen IP-Betrieb nicht leiden darf ist etwas, worauf wir sehr viel Wert legen. Für uns ist es wichtig, sehr bedachte, konkrete Schritte zu machen und nicht zu viel auf einmal zu wollen.

Wie ist der Entwicklungsstand bei IP-basierten Systemen generell einzuschätzen?

Der IP-Hype, der vor gut einem Jahr spürbar wurde, manifestiert sich mittlerweile in Form von konkreten Ergebnissen. Allerdings gibt es an vielen Stellen – ohne Namen nennen zu wollen – immer noch mehr Propaganda als Substanz. Aber es gibt zwischenzeitlich auch erste Projekte und Kompatibilitätstests, wo Equipment verschiedener Hersteller zusammen gesteckt wird und die Hersteller beweisen können, wie weit sie sind. Da findet sozusagen das erste Shoot-out statt zwischen denen, die viel geredet haben, aber noch nichts liefern können und denen, die jetzt schon funktionierende Systeme anbieten können. Beim Aufbau von IP-Netzwerken setzen sich alle Hersteller grundsätzlich mit den gleichen Themen auseinander – wie Source Time Switching oder Destination Time Switching und all die SMPTE 2022-Standards. Jeder versucht für sich, die Sache rund zu kriegen. Dabei gibt es auch schon funktionierende IP-Produkte, die teilweise bereits on-air sind. Das geht dann über Showcases wie das Live-IP-Projekt von EBU und VRT oder die verschiedenen Kompatibilitätstests hinaus. Installationen, wie beispielsweise die Infostrada Cloud Production Plattform, zeigen, dass IP-Audio/Video und die Steuerung IP-basierter Netzwerke zwischenzeitlich Live-Broadcast-Qualität erreicht hat. Und letztlich machen sie auch den Mehrwert deutlich, der dahinter steckt – zum Beispiel die Integration von Remote-Standorten oder die Auslagerung von Equipment in Datacenters, statt es in der Regie oder in spezifischen Geräteräumen zu installieren. Das wird letztlich auch für Kostenersparnis sorgen. Für all jene, die sich hier noch nicht engagiert haben, wird das ein steiniger Weg. Ersten Entscheidungen sind schon gefallen.

2016 soll die Entwicklung Richtung IP erdrutschartig verlaufen, meinen einige Branchenkenner. Wenn erste IP-Installationen am Start seien, dann wachse schnell die Erkenntnis, dass wirtschaftliche Nachteile drohen, wenn man hier nicht mitmacht. Sehen Sie das auch so?

Allerdings. Wir sehen, dass viele Projekte aufgeschoben und zurückgehalten werden, weil man wartet, bis die ersten Tests erfolgreich abgeschlossen sind und die Proof-of-Concepts beziehungsweise die ersten Referenzen da sind. Es gibt einige mutige Early Adopter, die diese Schritte schon gehen. Ich bin sicher, dass weitere in den nächsten Monaten erfolgreich an den Start kommen. Dann wird ein technischer Wandel in der Branche passieren, wie er selten stattgefunden hat, weil die Verbesserungen und der Mehrwert so dominant sind – und zwar gar nicht mal preislich, was die Gerätetechnik betrifft, sondern was den Mehrwert mit Blick auf Effizienz und Flexibilität im Einsatz des Equipments in den Geräteräumen et cetera betrifft. Das führt zwangsweise dazu, dass sich diejenigen, die sich nicht rechtzeitig mit dem Thema befasst haben, in eine sehr bedrängende Situation kommen werden. Und möglicherweise dabei auch aussortiert werden. Das wird in gleicher Weise Dienstleister, Broadcaster aber auch Hersteller treffen.

Wie sehen Sie das IP-Engagement auf Herstellerseite?

Im Moment ist die Schar derer, die auf breiter Front den Bereich IP Video mit dazu gehöriger Steuerung angehen, noch gering. Die kann man an einer Hand abzählen. Wenn man den Audiobereich, der sicher nochmal eine sehr komplexe Situation für sich darstellt, dazu nimmt, dann fallen mir außer Lawo eigentlich gar nicht mehr so viele Namen ein, die das IP-Thema in seiner Gesamtheit adressieren. Sicherlich gibt es große Videohersteller, die von ihrer Historie her mehr Erfahrung im Videobereich haben und mehr Ressourcen und Kundenpotenzial mitbringen. Aber in Sachen technischer Entwicklung sind wir in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit ganz wenigen, die sich auf der kompletten Linie mit dem Thema auseinandersetzen.

TV Skyline hat beim Ü8 UHD ein Ü-Wagen-Konzept mit IP-Ansatz und Lawo-Equipment entwickelt. Ist das der neue Trend?

Wir konnten zu dem sehr innovativen Ü-Wagen-Konzept unsere Produkte beisteuern. Und ich bin mir sicher, dass TV Skyline mit dem Ü8 und dem dabei gewählten IP-Ansatz mit unseren Geräten einen Schritt gemacht hat, der den klassischen Ü-Wagen-Betrieb deutlich erweitert. Der Ü-Wagen erhält dadurch eine unglaubliche Flexibilität. Er kann als Regieraum oder als Transportmedium bestimmter Gerätetechnik eingesetzt werden, an einem lokalen Venue oder auch in Kombination mit einer Remote Location und anderen lokalen Venues. Das ist ganz sicher der Schritt in die richtige Richtung. Glückwunsch an TV Skyline an der Stelle. Das war mutig, aber richtig. Viele andere werden diesen Schritt auch gehen.

Wo sieht sich Lawo in der sich ändernden Medienwelt?

Wir sehen uns als Infrastrukturlieferant und zwar für Audio, Video und Steuerung, der die Komponenten und die Technik von der Stagebox am Ü-Wagen bis in die Infrastruktur ins Funkhaus hinein, inklusive Processing im Audiobereich und Glue-Funktionen im Videobereich, zur Verfügung stellt und damit letztendlich auch die Plattform für ein neues IP-Konzept bietet. Durch sie werden die klassischen Disziplinen wie AÜ-, Studio- und Remote-Produktion komplett miteinander verschmelzen: Eine Stagebox wird nicht nur ausschließlich am Ü-Wagen oder Studio, sondern multifunktional mit unterschiedlichsten Anbindungsoptionen eingesetzt. Die gegenwärtig auf physikalische Grenzen reduzierte Produktionsstruktur wird sich mit IP komplett auflösen. Die klassischen, etablierten Workflows werden wohl erst einmal 1:1 übernommen, sich aber sehr bald in einer größeren Vielfalt weiter entwickeln. Da, wo heute ein Ü-Wagen hinfährt und einen fertigen Programmfeed abliefert, wird in Zukunft wahrscheinlich nur ein Kontrollraum vor Ort stehen, mit Bedienern, Regisseur und Redaktion. Von den Stageboxen vor Ort wird das Signal zum Processing in die Cloud verlagert beziehungsweise hin zu Remote Locations in einem Funkhaus oder einem Dienstleistungszentrum, wo ein Teil der Produktion zentral erbracht wird. Hier werden zusätzliche Studiokapazitäten und, einem Rechenzentrum ähnlich, Optionen für Processing, Grafik und Servertechnik zur Verfügung stehen. Notwendigkeiten, die bislang auf Grund klassischer Technologien bestehen, werden obsolet. Es wird fahrende Stagebox- und Kameratransporter geben, es wird fahrbare Kontrollräume geben und es wird zumietbare Processing Engines oder Serverkapazitäten geben. Es wird Dienstleistungen auf einem anderen Level geben, was eine ganz andere Investitionsauslastung ermöglicht, weil das Equipment, die Räume, und die sehr teuren Bedienoberflächen für mehrere Produktionen am Tag genutzt werden können.

Sind auch komplette Live-TV-Produktionen in der Cloud möglich, zum Beispiel bei großen Sport-Events?

Nein, das sehe ich nicht so – egal ob es sich um hochwertige Sport- oder andere Großevents handelt. Solche Produktionen werden nur zum Teil ihre Aufgaben in die Cloud auslagern können. Als Cloud verstehe ich hier ganz spezielle Echtzeit-Datacenter, die via Glasfaser-Datenleitung an eine Produktion angeschlossen sind. Aber das wird definitiv Einzug halten – und dann entscheidet über den Standort nur, wo Strom, Klimatechnik und Rack Space am billigsten sind. Das Studio wird dort sein, wo man den Content gerne produzieren möchte, Kontroll- und Technikraum aber ganz woanders. Solche Einheiten wird es in mobiler wie in stationärer Form geben. Der Schritt passiert gerade, DutchView Infostrada arbeitet zum Teil bereits so. Wenn sich das etabliert hat, die Erfahrungen damit gemacht und Tools wie auch Arbeitsabläufe umgesetzt worden sind, dann gibt es genau diesen Erdrutsch 2016 in Richtung IP-basierter Workflows. Dagegen wird sich ein konventionelles System preislich sicherlich nicht halten können.

Was versprechen Sie sich vom Engagement in der AIMS?

Lawo setzte sich schon immer für offene Standards und Interoperabilität ein, sei es AES3, MADI, RAVENNA und AES67 im Audio, SMPTE 2022-6/-7, TR-01 und TR-03 im Video oder Ember+ als Steuerungsprotokoll. Wir haben AIMS mit dem Ziel mitgegründet, dass alle vermarkteten IP-Lösungen auf einem definierten Set offener Standards basieren und Interoperabilität bieten. Durch diese Initiative wollen wir aktiv die technische Fragmentierung, die unsere Branche in den letzten 20 Jahren begleitet hat, überwinden und teure wie zeitaufwendige Fehlentwicklungen – und damit auch Fehlinvestitionen der Kunden – der Vergangenheit vermeiden. Wir sind überzeugt, dass standardisierte, offene Ansätze zu den bestmöglichen Lösungen mit einer soliden und sicheren Langzeitperspektive für unsere Kunden führen.

Eckhard Eckstein

MB 1/2016

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