In jede Richtung denken

In der „Digitalen Garage“ bei Radio Bremen suchen engagierte Nachwuchsredakteure nach neuen Formen, um journalistische Inhalte für die jugendlichen Zielgruppen aufzubereiten, die zunehmend in soziale Netzwerke abwandern. Die Ergebnisse aus dem „360 Grad“-Projekt werden in die verschiedenen Redaktionen des Senders eingebracht.

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In jede Richtung denken

„Wir geben der ARD/ZDF-Online-Studie ein Gesicht“, erklärt Isabell Werner, die zu der Gruppe junger Journalisten, Webdesigner und Programmierer gehört, die im Sender neue Wege betreten, um den 15- bis 25-jährigen die Radio Bremen-Inhalte näher zu bringen. Aufgrund des veränderten Medienverhaltens der jugendlichen Smartphone-Fans brechen den öffentlich-rechtlichen Sendern reihenweise die jungen Zuhörer und Zuschauer weg.

Diese Entwicklung geht auch nicht an Radio Bremen spurlos vorbei, obwohl sich der Sender in dem kleinen Stadtstaat mit einem satten Marktanteil von 65 Prozent behaupten kann. Um sich frühzeitig auf das sich wandelnde Mediennutzungsverhalten der jungen Zielgruppe einzustellen, hat der Intendant Jan Metzger das Projekt „360 Grad“ ins Leben gerufen.

„Mit der Digitalen Garage investieren wir in die Zukunft – von Radio Bremen, aber auch in die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“, erklärt Metzger, der sich trotz des verordneten Sparkurses bei Radio Bremen diesen innovativen Ideenpool leistet. Der kleine Sender ist gefordert, seine Kosten in den kommenden zwei Jahren noch einmal um 4,8 Mio. Euro herunterzufahren. Geschehen soll dies durch strukturelle Veränderungen, aber auch durch den Verzicht der Ausstrahlung des Programms „Musikschau der Nationen“.

Für die Digitale Garage ist dem jungen Team ein Konferenzraum mit Weser-Blick sowie „ein Kasten Bier“ zur Verfügung gestellt worden – inhaltliche Vorgaben gab es keine. Die Grundlage für das „360 Grad“-Projekt bildete ein Thesenpapier des Intendanten, das die Jungredakteure dazu anregen sollte, in jede Richtung zu denken. Mit diesem kreativen Input hat der Intendant für eine „positive Unruhe“ im Haus gesorgt. „Das Bewusstsein für soziale Netzwerke muss zum Handwerk des Journalisten gehören“, betont Teja Adams, der neben der Arbeit in der Digitalen Garage auch in der Regionalredaktion bei Radio Bremen tätig ist. „Online ist kein Medium, das nebenbei produziert werden kann.“

Vor allem bei den jungen Zielgruppen haben sich die digitalen Medien bereits durchgesetzt. „Inzwischen erfahren viele Jugendliche die wichtigsten Nachrichten über soziale Netzwerke.“
Allein in Bremen, das zusammen mit Bremerhaven über 660.000 Einwohner verfügt, gibt es schon 91.000 Facebook-Nutzer. Im gesamten Sendegebiet im Umkreis von 100 km sind es sogar 280.000 Facebook-Teilnehmer. „Jeden Monat kommen rund 13.000 neue Nutzer hinzu“, weiß Marcello Bonventre, RvD der jungen Popwelle Bremen Vier. „Die größte Gruppe besteht dabei aus den 18- bis 24-jährigen, von denen bereits 40 Prozent ein Smartphone besitzen.

Das „360 Grad“-Team eruiert die Möglichkeiten, um journalistische Inhalte auf diesen Plattformen auszuwerten. „Facebook bietet dafür die besten Voraussetzungen, weil sich darüber Video- und Audioinhalte, Text und Fotos verbreiten lassen“, erklärt Werner. „Zudem ist es dort möglich, ein YouTube-Video einzubinden.“ Der wesentliche Unterschied zu den klassischen Medien Fernsehen und Radio sei die andere Ansprech-Haltung, mit der zum Beispiel die Marke und Qualität der „Tagesschau“ in Facebook transportiert werde.

Im Zeitalter der sozialen Netzwerke sei jeder Nutzer gleichzeitig ein Sender, wodurch das Monopol einer großen Sendeanstalt aufgehoben werde. Die Netzwerkgemeinde dürfe allerdings nicht mit Informationen bombardiert werden, weil diese den Absender sonst als „Spammer“ kategorisiere. „Um herauszufinden, was auf Facebook funktioniert, sind Taktik und Strategien gefordert“, konstatiert Bonventre.

In der Digitalen Garage hat das Team zunächst den Sendebetrieb einer kompletten Woche bei Radio Bremen unter die Lupe genommen und 1.142 Programmelemente wie Hörfunk- und TV-Reportagen, Interviews, O-Ton-Collagen und Gewinnspiele auf ihre Facebook-Kompatibilität geprüft. „Es ist längst nicht alles für soziale Netzwerke geeignet, weil dort andere Spielregeln gelten“, unterstreicht Adams. Doch die digitalen Plattformen eröffnen auch neue Möglichkeiten, um Inhalte aufzubereiten.

Mit der Software Animato können zum Beispiel Audio-Töne und Fotos miteinander kombiniert werden, um einen vertonten Fotoroman zu erstellen. „Wir schauen uns um, welche Tools und Shareware es im Netz gibt. Es geht uns darum, möglichst einfache Lösungen zu finden“, betont Helge Haas, der als Programmleiter von Bremen Vier und „3nach9“ auch für das Projekt „360 Grad“ verantwortlich ist. „Oft sind es die Start-Ups, die schnelle Lösungen bieten. Um die nutzen zu können, braucht die Digitale Garage Bewegungsfreiheit im Netz – wir arbeiten deshalb mit einem Teil unserer Rechner jenseits der Firewall.“

Zu den Ansätzen in der Digitalen Garage gehört auch, Augmented Reality-Anwendungen in die Projekte mit einzubinden. Dies erlaubt zum Beispiel den Passanten vor einem Theater, sich per Handy die entsprechenden Beiträge herunterzuladen, die Radio Bremen dazu produziert hat. „Technisch ermöglicht wird dies durch ein Content Management-System, mit dem sich die Beiträge auf virtuellen Landkarten gezielt verorten lassen“, erläutert Isabell Werner. Denkbar sei auch eine Wanderroute mit „Tatort“-Schauplätzen zu entwerfen und an den Drehorten jeweils die entsprechenden Filmausschnitte vorzuhalten, die über Handy abrufbar sind. „Über den GPS-Sensor im Handy erkennt Google, wo sich der Nutzer gerade aufhält, so dass das entsprechende Video abgespielt wird.“

Die Voraussetzung dafür ist, dass die Beiträge mit den GPS-Daten verknüpft werden und eine entsprechende Verschlagwortung erfolgt ist. „Es gehört bei uns seit 2007 zum Workflow, zu jedem Beitrag Teaser für die Online-Auswertung zu schreiben“, berichtet Bonventre. Mittlerweile muss jeder Beitrag auch im Internet auffindbar sein. Dies ermöglicht es den Hörfunkredakteuren, O-Töne aus Fernsehbeiträgen zu verwenden.
Um mehr über die Interessen der 15- bis 25-jährigen zu erfahren, hat das Garagen-Team eine nicht repräsentative Umfrage mit verschiedenen Jugendlichen aus Bremen und dem Umland vorgenommen. Wie stark welche Themen die junge Generation ansprechen, zeigt eine Themen-Cloud, in der Musik, Facebook, YouTube und Events groß geschrieben sind, während Fußball und Filme für sie keine große Relevanz besitzen. Die Jungredakteure aus der Digitalen Garage fungieren somit als Trend-Scouts für das Haus. Zu ihren Zielsetzungen gehört es, neue Darstellungsformen und Tools zu finden, durch die sich die Arbeitsabläufe beschleunigen lassen. Dies leistet die Software U-Stream, mit der aufgenommene Videos binnen Sekunden als Live-Stream ins Netz gestellt werden können.

Bei ihren Recherchen arbeitet die „360 Grad“-Crew mit externen Organisationen, Universitäten sowie der Electronic Media School in Potsdam zusammen, die sowohl für den RBB als auch für Radio Bremen die Volontäre schult. Ihr erworbenes Wissen, welche Trends und Themen im Netz dominieren und welche Videos gerade hoch im Kurs stehen, lassen die Garagen-Mitglieder bei Radio Bremen in den Redaktionsalltag einfließen. „Es gibt viele Radio Bremen-Inhalte wie beispielsweise ein Wochenrückblick, für den sich auch Jugendliche interessieren“, versichert Adams. „Ob sie diese Angebote wahrnehmen, hängt jedoch ganz von der Machart ab.“

Darüber hinaus werden in der Digitalen Garage, die bis Oktober 2011 bestehen bleiben soll, mobile Apps entwickelt. „Unsere Strategie sieht vor, in soziale Netzwerke zu gehen“, resümiert Werner. „Wir nehmen den 360 Grad-Charakter auf, den die Community uns bietet und versuchen, den Ball wieder zurückzuspielen.“ Birgit Heidsiek
(MB 02/2011)