Experimentierfläche für Verjüngungskur

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat laut Rundfunkstaatsvertrag eine gesellschaftliche Integrationsaufgabe mit der Grundversorgung zu leisten. Laut dem Privatfunkverband VPRT schließt dies die Auslagerung bestimmter Programminhalte in immer mehr Spartenangebote- und Zielgruppenkanäle aus. Wie interpretiert die ARD Integrationsaufgaben – und warum wird der kürzlich von den Ministerpräsidenten der Länder vorerst ausgebremste Jugendkanal überhaupt gebraucht? MEDIEN BULLETIN sprach darüber mit dem NDR-Intendant und ARD-Vorsitzenden Lutz Marmor.

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Experimentierfläche für Verjüngungskur

Herr Marmor, angenommen die Länder beauftragen ARD/ZDF im Frühjahr einen Jugendkanal zu etablieren, wann geht er dann auf Sendung?

Dadurch, dass die Beauftragung voraussichtlich frühestens im Frühjahr 2014 erfolgen wird, verschiebt sich der Start, was ich bedaure. Wir werden nicht vor Mitte 2015 senden können.

Sie waren zur Freude vom VPRT, zum Ärger vom ZDF bereits im April mit dem Vorschlag vorgeprescht aus sechs vorhandenen öffentlich-rechtlichen Spartenkanälen nur drei zu machen. Zumal es das Internet gibt: Wieso braucht man für die öffentlich-rechtliche Integrationsaufgabe überhaupt zusätzliche Kanäle?

Um mit einem gängigen Vorurteil aufzuräumen: Es geht uns nicht um einen zusätzlichen Kanal. Trotz anderslautender Behauptungen hat die ARD seit 1997 keinen zusätzlichen Fernsehkanal mehr gegründet. Im Gegenteil: wenn wir von den Ländern den Auftrag bekommen, gemeinsam mit dem ZDF einen jungen Sender auf den Weg zu bringen, dann fallen Einsfestival, EinsPlus und ZDFkultur weg. Das heißt, wir machen aus sechs Kanälen vier, bündeln also unsere Kräfte.

Ihr Hauptziel bei der „Bündelung der Kräfte“ ist es, durch Umschichtung rund 45 Millionen Euro für einen Jugendkanal zur Verfügung zu haben. Warum baut Das Erste nicht einfach speziell für Jüngere öfter einmal die für sie attraktiven Programme wie etwa Musik, Life Style oder US-Serien ein?

Mit Tatort, Sport, dem Eurovision Song Contest oder der Tagesschau punkten wir im Ersten auch bei jüngeren Zuschauern. „Günther Jauch“ hatte mit seiner Sendung nach dem TV-Duell doppelt so viele junge Zuschauer wie Stefan Raab. Die Jungen finden uns. Aber vergessen Sie nicht: Das Erste ist ein Programm für alle und kümmert sich auch um die Zuschauer, die nicht von den privaten Sendern umworben werden, also um diejenigen, die jünger sind als 19 und älter als 49.

In unserer Gesellschaft will doch jeder jung sein und bleiben. Würde der Jugendkanal ein Erfolg, würden auch die Älteren zu ihm wechseln. Und hieße das nicht doch, dass man einfach nur Das Erste verjüngen müsste?

Ehrlich gesagt würde es mich überraschen, wenn ältere Menschen scharenweise den Jugendkanal schauen würden. Die Medienforschung zeigt uns hier sehr klar, dass die Interessen verschiedener Altersgruppen stark auseinander gehen. Auch die Art der Ansprache, die man sich in den Medien wünscht, unterscheidet sich. Ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn die älteren Zuschauer den Jugendkanal einschalten. Unabhängig davon bleibt es die Aufgabe des Ersten, auch attraktiv für Junge zu sein. Das Ziel bleibt es, Das Erste langfristig moderat zu verjüngen. Da gibt es noch Luft nach oben. Der junge Kanal ist kein Gegenangebot zum Ersten, ganz im Gegenteil, es ist eine Experimentierfläche. Diese Erfahrungen kommen dann auch dem Ersten oder den Dritten Programmen zu Gute.

Der Jugendsender soll sich insbesondere an jugendliche TV-Zuschauer im Alter zwischen 14 und 29 Jahren wenden, die mehr oder weniger zu den privaten Programmen und dem Internet übergelaufen sind. Stimmt das?

Junge Erwachsene sehen mit zweieinviertel Stunden nach wie vor viel fern, aber inzwischen verbringen sie noch mehr Zeit im Internet. Das sind die Ergebnisse unserer Medienforscher. Der Zuwachs geht vor allem auf die mobilen Geräte wie Smartphones und Tablet-Computer zurück. Wenn sich junge Leute vor den Fernseher setzen, dann sehen sie viel Sport, vor allem Fußball, außerdem US-Serien und fiktionale Unterhaltung. Besonders häufig schalten sie Pro7 und RTL ein.

Sehen sie inhaltliche Defizite in den kommerziellen TV-Programmen für Jugendliche, die öffentlich-rechtlich ausgefüllt werden müssen?

Es gibt in den privaten Sendern ohne Zweifel gute und interessante Formate für junge Leute. Ein öffentlich-rechtlicher Jugendkanal hätte aber einen entscheidenden Unterschied. Er wäre nicht kommerziell. Und er wird junge Menschen in ihrer Lebenssituation ernst nehmen. Junge Leute zwischen 14 bis 29 Jahren sind auf der Suche. Sie entdecken ihre Weltanschauungen und Wertvorstellungen, und sie wollen sich ihr eigenes Urteil bilden. Ein öffentlich-rechtliches Jugendangebot soll Orientierung bieten. Nicht mit dem Zeigefinger, sondern indem widerstreitende Meinungen, Interessen und Ansichten dargestellt und diskutiert werden.

Bei einem öffentlich-rechtlichen Kanal für junge Leute sollte es zum Beispiel keine „Scripted Reality“-Formate geben. Wir wollen auf Dokus oder Dokusoaps setzen, die tatsächlich die Lebenswirklichkeit unserer Zielgruppe abbilden. So abstrakt das in manchen Ohren klingen mag: Wir möchten Angebote mit Anspruch. Beispielsweise auch News und Infos. Unser Ziel beim jungen Kanal ist nicht in erster Linie Quote, sondern Qualität. Das schließt natürlich gute Unterhaltung mit ein, beispielsweise eine Late-Night-Show, Musikformate, Konzerte, auch Serien.

Was ist so schlimm an Scripted Reality, warum sind Dokusoaps besser und bietet die kommerzielle Konkurrenz nicht schon jede Menge „News und Infos“ und Musikformate?

Nicht die „News und Infos“, die wir meinen und die wir liefern können. Nachrichten und Informationen mit Gehalt. Und was Scripted Reality betrifft: die Programme, die dieses Label repräsentieren, sind mit öffentlich-rechtlichem Auftrag und Anspruch schwer vereinbar. Meines Erachtens wird darin eine Realität vorgegaukelt, die keine ist. Uns geht es um die Abbildung der Lebenswirklichkeit und eben nicht darum, zu „scripten“. Dokusoaps sind eine Möglichkeit, den Zuschauern auch andere Lebenswelten in unterhaltsamer und journalistisch aufrichtiger Form nahezubringen. Machen Sie sich keine Sorgen: wir werden kein Bildungsfernsehen für brave wohlerzogene Jugendliche machen, aber möglichst auch kein Trash-TV. Aufmüpfig, frech und gegen den Strich gebürstet darf und soll es aber durchaus sein.

Wie soll Unterhaltung und Information in einem Jugendkanal kombiniert werden?

Uns ist klar, dass wir eine schwierige Aufgabe vor uns haben. Die Jugend bildet keine einheitliche Zielgruppe. Sie ist vielfältig, hat viele unterschiedliche Interessen und ist für Medien nicht leicht zu erreichen. Aber wir haben einen großen Vorteil und das sind unsere jungen Radiowellen. 1LIVE vom WDR, Fritz vom RBB, DASDING vom SWR und N-JOY vom NDR, um nur einige Sender zu nennen. Der Jugendkanal ist trimedial geplant, das heißt wir wollen TV-, Radio- und Online-Angebote miteinander verbinden. Junge Leute auf Augenhöhe anzusprechen, damit kennen sich die Macherinnen und Macher unserer jungen Radios aus: Sie wissen, wie sie verlässliche Informationen aus Deutschland und aus der Welt, Szene-News über Stars und Musik, Comedies und Sport richtig rüberbringen.

Werden sich Jugendliche dann nicht doch nur die Unterhaltung aus dem TV-Angebot zeitversetzt herauspicken?

Unterhaltung und Information sind für mich überhaupt kein Widerspruch. Ich glaube durchaus, dass junge Menschen an verlässlich, gut recherchierten Informationen in „öffentlich-rechtlicher Qualität“ interessiert sind – ob es nun um Stars oder das Weltgeschehen geht. Das können Sie am Erfolg der Tagesschau auch bei den Jungen sehen. Es stimmt: Das Mediennutzungsverhalten der Jungen verändert sich. Aber trotz der gestiegenen Bedeutung des Internets hat das bislang nicht dazu geführt, dass junge Menschen weniger fernsehen. Wie schon erwähnt: Seit Jahren nutzen sie das Fernsehangebot im Schnitt etwa zweieinviertel Stunden pro Tag. Ich bin optimistisch, dass unsere Angebote ihr junges Publikum finden werden. Die TV-Inhalte werden auf der Homepage des Jugendkanals zeit- und ortsunabhängig nutzbar und teilbar angeboten. Sie werden auf der Homepage mit Zusatzinformationen ergänzt und mit interaktiven Zugängen versehen.

„Trimedial“ oder „crossmedial“ soll der Jugendkanal werden – was heißt das genau? Und was soll das Internet samt Social Media dabei leisten?

Ein Fernseh-Kanal alleine reicht nicht mehr. Die Kunst besteht darin, Fernsehen, Radio und Internet intelligent miteinander zu verknüpfen. Die jungen Hörfunkwellen der ARD werden in die Entwicklung des Programms ständig einbezogen und können eigene Produktionen zuliefern. Nach Möglichkeit werden auch gemeinsame Programmaktionen konzipiert. Unter anderem in den Live-Strecken werden die jungen Wellen Teil des Fernsehprogramms und sind wichtige Themengeber. Die Online-Redaktion soll möglichst rund um die Uhr mit Zuschauerinnen und Zuschauern, beziehungsweise mit Nutzerinnen und Nutzern kommunizieren – über Facebook, Twitter, aber auch über Angebote auf der eigenen Internet-Seite. Interaktive Elemente werden dabei eine wichtige Rolle spielen und bei allen geeigneten Sendungen unmittelbar mit ins Programm genommen. Das Online-Angebot kann auf allen mobilen Endgeräten abgerufen und genutzt werden, sprich: Wir setzen auch dort auf das so genannte „responsive Design“.

Heißt das, Sie wollen etwas Ähnliches anbieten wie der auf Social Media kaprizierte kommerzielle TV-Sender „joiz“?

Es ist eine wichtige Frage, wie und warum Social Media integriert wird. Ein wesentlicher Aspekt des Konzepts von „joiz“ ist es ja, über die Benutzerprofile der eingeloggten Zuschauer und deren Rückmeldungen im Programm der werbetreibenden Wirtschaft möglichst genaue Informationen über Vorlieben und Interessen der Zuschauer liefern zu können. Interaktion wird dort über ein Punktesystem belohnt, weil sie sich so zu Geld machen lässt. Ein solches Modell ist uns natürlich fremd. Social Media ermöglicht uns, den Zuschauern einen Kanal anzubieten, über den sie mitdiskutieren, ihre Welt und Gedanken zeigen und damit auch Programm mitgestalten können. Wir werden uns auch inhaltlich und in der Genrevielfalt von „joiz“ unterscheiden und vor allem: Unser Angebot bezieht ja auch Radio mit ein.

Die Quote steht zunehmend auf dem Prüfstand – welche Funktion hat sie heute um die Erfüllung der Integrations- und Grundversorgungsaufgabe nach zu weisen?

Letztendlich stehen hinter der Quote Menschen, also Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir möchten mit unseren Angeboten möglichst viele Menschen erreichen, aber nicht um jeden Preis. Bestimmte Formate werden Sie bei uns nicht finden, keine Gerichtsshows, kein Scripted Reality. Wir lassen es uns außerdem nicht nehmen, schwierige und manchmal nicht so publikumsattraktive Themen anzubieten wie Dokumentationen über Rechtsextremismus. Das gehört zu unserem öffentlich-rechtlichen Auftrag. Bei dem geplanten jungen Kanal steht die Quote nicht im Vordergrund. Aber es gilt: Wenn fast alle Menschen den Rundfunkbeitrag zahlen, dann ist es unsere Aufgabe, auch für möglichst alle Programm anzubieten und viele zu erreichen.

Reicht es aus, ARTE und 3sat als europäische Integrationsförderung anzubieten? Oder müssen nicht doch neuartige Programme dafür entwickelt werden?

Neuartige Programme brauchen wir sicherlich nicht. Wir sind ja gerade dabei, unsere Sender zu konzentrieren. Es hat keinen Sinn, parallel dazu zusätzliche Programme zu erfinden. ARTE und 3sat sind erfolgreich. Auch in unseren Dritten Fernsehprogrammen und im Ersten berichten wir über europäische Themen. Und nicht zu vergessen: in unseren ARD-Radios.

Nach Meinung des Privatfunks, der sich immer breiter kommerziell und fragmentiert aufstellt, sollten sich ARD/ZDF weitgehend aus der Unterhaltung verabschieden, weil die Privaten das selber leisten können. Was verstehen Sie unter einem öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsprogramm?

Ihre Feststellung ist richtig. Nämlich, dass sich die Privaten Fernsehsender immer fragmentierter aufstellen. Was die Unterhaltung angeht, da haben wir Öffentlich-Rechtlichen einen klaren gesetzlichen Auftrag: Wir sollen auch Unterhaltungsprogramme anbieten, und das tun wir durchaus erfolgreich. Außer dem „Tatort“ schalten viele Menschen gerne „Um Himmels Willen“, „In aller Freundschaft“ oder auch „Weissensee“ ein. Bei den klassischen Unterhaltungsshows sind wir zum Beispiel mit „Klein gegen Groß“ oder „Das ist spitze“ sehr erfolgreich. Und solche Unterhaltungssendungen verhelfen politischen Magazinen und Informationssendungen wie den Tagesthemen zu zusätzlichen Zuschauern. Deswegen brauchen wir die Kombination Unterhaltung und Information, allerdings mit klarem Schwerpunkt auf der Information.

Erika Butzek

 (MB12/13_01/14)