Mit rund einer Million Euro, viel weniger als ein 90-minütiger „Tatort“ kostet, war das Budget selbst für einen deutschen Kinofilm ziemlich mickrig angelegt. Und manche Zuschauer haben „Victoria“ in den ersten Minuten mit gemischten Gefühlen im Kino erlebt: Oh weia, will man diese seltsamen jungen Nachtgestalten wirklich lange 140 Minuten beobachten? Doch unvermittelt entwickelt der Film „Victoria“, der mittlerweile unter dem Etikett „Arthouse“ firmiert, einen Sog. Die Gestalten gewinnen Profil, werden Charaktere. Ein Drama, eine Geschichte über die Sehnsucht nach Liebe, ein Thriller, ein Bankraub, alles auf einmal geht los – und man ist als Zuschauer mittendrin, live dabei bis zum bitteren Ende. Flash! „Absolut gigantisch“. „Ein Film, der das deutsche Kino durchrütteln wird“, schrieben Feuilletonisten. Und: Sturla Brandth Grøvlen, der wohl als erster Kameramann der Welt die Chance hatte, einen Kinofilm in Echtzeit mit einer Canon C300 zu drehen, erhielt auf der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären.
Beim Deutschen Filmpreis 2015 wurde der Film sogar in sechs Kategorien mit einer „goldenen Lola“ prämiert, als bester Spielfilm, für die beste Regie, beste Musik, beste Darstellerleistungen der beiden Hauptprotagonisten – und natürlich für die beste Kameraleistung. Auch Marco Schuler war von „Victoria“, wie er sagt, „geflasht“. Er fand den Film „super, faszinierend“. Schuler ist Redakteur bei RTL NITRO, ein Sender, der sich an jüngere Männer wendet. In dieser Position ist er verantwortlich für alle Eigen- und Auftragsproduktionen. Dazu gehören die Selfmade-Show „Hammerzeit“, die Musik-Show „Formel Eins“, die Spiel-Show „Autoquartett“, Live-Fußballübertragungen einiger Qualifikationsspiele zur EM und WM (ohne Beteiligung der deutschen Nationalmannschaft, die bei RTL spielt) und last but not least das Wissensmagazin „Yps – die Sendung“, von dem es in diesem Jahr insgesamt fünf rund einstündige Ausgaben gab beziehungsweise gibt. Schulers Anspruch ist, die Produktionen etwas anders, etwas besonders speziell für die Zielgruppe von RTL NITRO gestalten zu lassen, wobei ihm allerdings im Vergleich zum Mutterschiff RTL eher überschaubare Budgets zur Verfügung stehen. Nachdem sich Schuler zu den Produktionsbedingungen einschließlich Kosten von „Victoria“ schlau gemacht – und ebenso herausgefunden hatte, dass es auch im deutschen Fernsehen noch nie eine längeres Format nach dem Prinzip „only one take“ gegeben hat, spielte er die Idee, etwas Ähnliches als Reportage auszuprobieren, der Produktionsfirma Endemol Beyond zu, die das Wissensmagazin „Yps“ realisiert.
Nach einigem Hin und Her der Überlegungen entschied man sich dafür, eine Reportage über Nachtarbeit nicht in Berlin (wie „Victoria“), sondern in Hamburg rund um die Reeperbahn zu produzieren. Auch da ist in der Nacht jede Menge los. Rund vier Wochen vor dem Dreh (Freitag, 16. Oktober von 23.30 Uhr bis 0.30 Uhr) schwärmten Mitarbeiter von Endemol Beyond aus, um Protagonisten auszuspähen, die etwas Interessantes oder Unterhaltsames über die Nachtarbeit rund um die Reeperbahn beisteuern können. Man wurde fündig. Unter anderem bei der Band „Revolverheld“, dem DJ MAD, der Wasserschutzpolizei, dem Besitzer eines SM-Clubs, einem Taxi-Fahrer und bei Karl Dall, der in der Drehnacht einen Auftritt an der Reeperbahn hatte. Die erste Herausforderung war, die Distanzen zwischen den verschiedenen Locations so genau zu bemessen, dass „Yps“-Moderator Jan Köppen diese zusammen mit dem Kameramann Jürgen Thelen in genau 60 Minuten samt den Zwischenstopps bei den ausgewählten Nachtarbeitern bewältigen konnte. Was mit zusätzlicher Pferdestärke eines amerikanischen Party-Bus und einer Taxi gelang.
Gibt es beim Prinzip „only one take“ im Vergleich zu anderen „Yps“-Reportagen Möglichkeiten die Produktionskosten zu reduzieren? Es ging, so betont Schuler, bei dem Experiment „nicht um Kostensparen, wir wollten mal etwas anderes machen“. Man habe es auch nicht mit weniger Aufwand zu tun, sondern mit einer Aufwandsverlagerung. Beispielsweise fielen bei der „Yps“-Reportage über das Autofahren in der Zukunft viel mehr Drehtage für ein fünfköpfiges Team an verschiedenen Orten in Deutschland und Österreich an. Am Dreh der Reeperbahn-Reportage waren inklusive Security 23 Personen beteiligt. In der dreitägigen konkreten Dreh-Vorbereitung vor Ort waren es sechs Mitarbeiter, die sich insbesondere darum kümmerten, dass alle am Dreh beteiligten Personen ganz genau ihre Aufgaben und die zeitliche Abfolge dafür kannten. Wichtig war die Kommunikation über Funk. Bevor Moderator Köppen und Kameramann Thelen an einem Ort auftauchten, musste alles vorbereitet sein, der jeweilige Interviewpartner in time „verkabelt“ sein. Zur Mikrofonierung wurden Sennheiser Funkstrecken eingesetzt und für die Teamkoordination und Funkverbindung zu den einzelnen Stationen Sennheiser Walkies.
Die organisatorische Herausforderung lag nicht nur im genauen Timing, sondern auch in der Improvisationskunst bei Widrigkeiten. So war beispielsweise geplant, die Einspieler für die Hintergrundinformation an Hauswänden zu projizieren, während Köppen live den Text dazu vorträgt. Doch „der Projektor hatte kurz vor Dreh den Geist aufgegeben“, verrät Schuler. Deshalb war man froh ein Backup auf dem iPad dabei zu haben, da war alles drauf. Kurzentschlossen wurde das iPad mit den Einspielungen in die Kamera gehalten, die sie abfilmte. Gerne hätte man auch in der Pommesbude den laufenden Fernseher gekapert, um die zweite MAZ einzuspielen. Das musste aus Zeitgründen gestrichen werden. Bauchbinden zur Vorstellung der Interviewpartner hat man auf Pappe produziert und auch sie einfach in die Kamera gehalten.
Ganz klar hatte bei dem Projekt Kameramann Thelen – auch im wörtlichen Sinn – die größte Last zu tragen. Natürlich war er unabhängig vom „Yps“-Projekt längst im Kino gewesen, um „Victoria“ zu sehen. Als ein paar Wochen später die Anfrage kam, ob er den „only one take“ für „Yps“ machen wolle, fand er es „unfassbar spannend“. Ein Projekt mit „Reiz und Risiko“, er war sofort „Feuer und Flamme“. So etwas hatte er noch nie gemacht, bislang war Thelen für allerlei TV-Formate, unter anderem Shows wie „Supertalent“ und DSDS oder jüngst auch bei dem Dokumentarfilm „Hawar – meine Reise in den Genozid“, als einer unter den Kameramännern tätig. Dass allerdings die beiden Projekte „Victoria“ und die Reeperbahn-Reportage nicht vergleichbar sind, war ihm von Anfang an bewusst. Angefangen bei einem noch viel bescheidenerem Budget. Wichtiger noch: Zum einen hat „Victoria“ viel mit Schauspielerei zu tun. Zum anderen wurden bei „Victoria“ drei Wochen lang die einzelnen Plots geprobt und man hatte drei Versionen komplett gefilmt, bevor man sich für die dritte als Endversion entschied. Thelen aber hatte nur drei Tage Probezeit vor Ort und nur einen Versuch. Der musste gelingen. Gut, dass er „Projekte mit ein bisschen Risiko“ mag, die seine Leistung anspornen. Einfacher wäre der Dreh in vielerlei Hinsicht mit einer Steadycam-Vorrichtung gewesen. Das hätte aber zu einem „Handkameralook“ geführt. Zusammen mit Endemol Beyond entschied Thelen, es muss dieselbe Kamera wie bei „Victoria“ sein, um einen vergleichbaren cineastischen Look zu erzielen. Also kam die Canon C300 mit einem ARRI Filmobjekt 20mm Festbrennweite zum Zuge. Die Kamera, die rund acht Kilo wiegt, musste durch einen sogenannten Galgen entlastend für Thelen angebracht werden. 60 Minuten durchgehend die Kamera zu führen, ist auf Dauer zu anstrengend, so dass nicht gewährleitet werden könnte, die Bilder wackelfrei zu halten. Das Objektiv mit einer Festbrennweite und einer Anfangsblende von 1.9 war wichtig, um die vorhandenen Lichtverhältnisse der Nacht realistisch abbilden zu können. Thelen erklärt: Man habe im Prinzip mit vorhandenem Licht gedreht. Ich hatte aber noch ein Kopflicht drauf. Allein im recht dunklen SM-Studio wurde ein „bisschen Licht hingesetzt – aber ansonsten alles mit offener Blende und dem Kopflicht gedreht“.
Da Thelen kein Focus-Puller zur Verfügung stand, musste er sich im Gehen unter anderem darum kümmern, die Schärfe zu ziehen. Aufgrund der Festbrennweite konnte er nicht zoomen. Stattdessen musste er alles mit der Geschwindigkeit im Laufen korrigieren, mal schneller, mal langsamer und dabei die Schärfe einstellen. Wenn Gefahr drohte, dass er die ins Visier genommenen Leute aus dem Bild verlor, musste er schnell rückwärts laufen, um sie wieder einzufangen. Das war besonders „heikel“, erinnert sich Thelen, weil er dabei befürchtete, „wenn die Kamera aufgeht, ist alles vorbei“. Auch das Rückwärtslaufen ist ihm gut gelungen, wie man an der fertigen Reportage erkennen kann.
Beim Dreh hatte man Glück gehabt, dass der Dauerregen in Hamburg, der bei den Proben noch Begleiter war, endlich aufgehört hatte. Nur: Die hohe Luftfeuchtigkeit war noch vorhanden. Und die beschlägt die Optik, zumal, wenn man von drinnen nach draußen wechselt. Leider hatte sich auch der Party-Bus-Fahrer nicht an die Bitte gehalten, die Heizung ausgeschaltet zu lassen. In diesen Fällen sprang Moderator Köppen hilfreich ein, nahm den von Thelen hingehaltenen Lederlappen, um die Optik von der Feuchtigkeit zu befreien. Wobei sich im Huckepack ein netter Running Gag für die Live-Reportage entwickelte. Eine andere Widrigkeit: Mit dem hohen Galgen kam Thelen nicht in das Taxi rein, obwohl man eigentlich ein geräumiges Modell ausgesucht hatte. Weshalb er sich den Galgen abschnallen ließ und die letzten 20 Minuten ohne Entlastung für das Gewicht der Kamera weiter drehte. Nachdem die Reportage „NACHT – Auf der Reeperbahn nachts bis halb eins“ mit einem gemeinsamen Auftritt von Köppen und Karl Dall zu Ende ging, war Thelen „klatschnass“. Doch durch das Adrenalin, das immer noch in ihm steckte, hätte er auch noch weiter machen können, behauptet er. Es war eine hohe Konzentration verbunden mit physischer Leistung. „Aber man versucht auch seine Handschrift zu profilieren, – es ist auch ein Stück Kunst, die man da macht“, resümiert Thelen.
Auch mit dem Ton (Audiodevice, sechs Kanäle, davon vier Funken plus Angel) sei man mit hohem Anspruch heran gegangen, meint Redakteur Schuler. Die Soundmischung samt Musik wurde allerdings in der Postproduktion noch nachbearbeitet.
Auch wurden Farbkorrekturen vorgenommen. Und um es noch spannender zu machen, wurde auch eine Uhr als Count Down-Signal für die 60-Minuten-Reportage eingeblendet. Um das Experiment gegenüber den Zuschauern auch glaubwürdig rüber zu bringen, wurde ausnahmsweise auf die Unterbrecher-Werbung verzichtet. Denn dann hätte man doch noch einen Schnitt machen müssen.
Es ist eine klassische Reportage mit einem besonderen Live-Thrill geworden, der auf die zeitliche Parallelität vieler unterschiedlicher Nachtarbeiten fokussiert. Schuler ist mit dem Ergebnis „sehr zufrieden“, wenn auch nicht alle Ideen und Wünsche realisiert werden konnten und man im Nachhinein immer noch irgendetwas hätte besser machen können. Ist das Experiment eine Eintagsfliege oder zeigt es neue Perspektiven für die Produktion von Reportagen? Schuler: „Es hat allen Beteiligten sehr viel Spaß gemacht. Das ist meistens ein Indikator dafür, dass sich eine neue Produktionsmethode durchsetzen kann, wenn es auch dem Zuschauer gefällt. Und es gibt viele Städte und Themen“.
Könnte man eine „only one take“-Reportage nicht nur live produzieren, sondern damit auch gleich live auf den Sender gehen? „Das kann man nicht ausschließen“, meint Schuler: „Aber das wird logistisch noch einmal eine ganz andere Kiste – und es ist die Frage, ob dann auch die Funkverbindungen so gut funktionieren“.
Ausgestrahlt wurde die Reportage übrigens am 19. November 2015. Anschauen kann man sie jetzt noch in der Mediathek RTLNITRONOW. Der Abruf kostet dort 99 Cent.
Erika Butzek
MB 8/2015
© RTL / Morris Mac Matzen