Man muss Roger Ebert nachsehen, dass er sein Urteil aufgrund eines Tiefpunkts des stereoskopischen Films fällte. Michel Gondrys „The Green Hornet“ wurde wie ein normaler 2D-Film gedreht und offensichtlich auch konzipiert. Die nachfolgende Konvertierung fällt zwar nicht auf und erzeugt auch Tiefe, doch der Film nimmt keine allzu große Rücksicht auf die Möglichkeiten von S3D. S3D lebt von der Inszenierung des Raums. Von seiner Tiefe, von der Möglichkeit mit den Augen in ihm herum zu wandern. S3D soll im Zuschauer das Gefühl erzeugen Teil der Szenerie zu sein. Wenn ein Gegenstand in seine Richtung fliegt, ist das genauso Teil der Immersion als ob man im Park einen Ball zugeworfen bekommt oder unerwartet auf einen selber geschossen wird anstatt nur auf die Filmfiguren. Die meisten der bisherigen S3D-Filme bilden ein Experimentierstadium ab und haben keine wirklich zufriedenstellende Sprache gefunden, die die erzählerischen Möglichkeiten der neuen Technik voll ausschöpft. So auch „The Green Hornet“. Hinzu kommt, dass die 3D-Brillen einen Großteil des Lichts schlucken.
Doch anstatt die Projektoren heller zu stellen, werden sie eher dunkler gestellt, um Strom und Lebenszeit der Lampen zu sparen. Bei „The Green Hornet“ wirkte sich nachteilig aus, dass der Film aus stilistischen Gründen generell dunkel gehalten wurde. Dies erweckte beim Publikum den Eindruck S3D taugt nicht viel und bei den Fachleuten, dass sich die Macher keine Gedanken über eine S3D-gerechte Inszenierung gemacht hatten. Beruhigend ist allerdings, dass sich immer mehr Filmemacher gerade darüber immer mehr Gedanken machen.
Bei der Berlinale konnte man bei zwei der vier stereoskopischen Filme, die im offiziellen Programm der Berlinale liefen, sehen, zu welchen Überraschungen S3D fähig ist. Über „Pina“ von Wim Wenders ist zwar schon alles gesagt worden, dennoch soll an dieser Stelle wiederholt werden, dass Wenders über Jahre hinweg nach einer Form gesucht hatte das Tanztheater von Pina Bausch so auf die Leinwand zu bringen, dass es den Zuschauer wie eine Bühneninszenierung in seinen Bann schlägt. Diese fand Wenders aber erst in der S3D-Technik, mit der es ihm gelingt das Publikum wahrhaftig an der Inszenierung teil haben zu lassen.
Wirklich radikal erscheint zum jetzigen Zeitpunkt jedoch „The Mortician“ von Gareth Maxwell Roberts. Der britische Film lief im Panorama und verlangt den Augen des Zuschauers einiges ab. Unter anderem zwang der Regisseur den Zuschauer durch Unschärfen auf bestimmte Bildstellen zu schauen. Für die Augen, die in der Szene zuvor noch frei herum blicken konnten, eine äußerst unangenehme Gewalteinwirkung. Denn plötzlich mussten sie mit einer Unschärfe zurecht kommen, die sie nicht mehr selber korrigieren konnten, es gewohnheitsmäßig aber versuchten. Erleichterung verschafften nur die scharfen Stellen des Bildes.
Auch waren die Obduktionsszenen realer als es sich mancher wünscht. Möglich wird dies durch die plastische Darstellung, die im Nahbereich besonders überzeugend ist. Eingeweide und Gehirn werden zu etwas Greifbarem, etwas Realem, das vor dem Zuschauer auf dem Tisch liegt. Sie werden als ‚echte’ Gegenstände wahr genommen und nicht mehr als S3D-Gegenstand in einem Film. Gerade dieses Bewusstmachen scheint noch immer ein Problem bei S3D zu sein.
Vergisst man beim Schauen, dass der Film in S3D ist, heißt es: „Den hätte man auch in 2D sehen können.“ Wird man sich des S3D-Effekts bewusst, heißt es, das sei vordergründig und eine kurzlebige Jahrmarktsbelustigung. Beides ist natürlich falsch, denn S3D ist eine Nachahmung der Wirklichkeit und insofern per se künstlich. Es zu sehen, ist letztendlich also eine intellektuelle Leistung, was wiederum bedeutet, dass S3D bewusst als (sichtbares) Gestaltungsmittel eingesetzt werden kann. S3D entwickelt einen Großteil seiner Stärke, wenn die Inszenierung so gestaltet ist, dass der Zuschauer sich als Beobachter in der Szene fühlt, anstatt als außen Stehender wie bei 2D. Das wird sofort klar, wenn man effektlose S3D-Filme wie „Oben“ sowohl in der einen als auch in der anderen Version sieht. Die 2D-Fassung sieht nach S3D einfach flach und undynamisch aus während die S3D-Fassung im Vergleich rund, dynamisch und warm wirkt, obwohl man den S3D-Effekt nach einer Weile nicht mehr bewusst wahrnimmt.
Gefühl der Immersion
Wie stark das Gefühl der Immersion – der Einbeziehung – wirkt, kann man an einer Szene in „The Green Hornet“ sehen. Der Zuschauer ‚steht’ in der rechten Ecke des riesigen Arbeitszimmers des verstorbenen Vaters des Helden, der später die Grüne Hornisse wird. Der Held betritt das Zimmer in der linken Ecke. An der Tür gibt es einen Dialog. Anschließend durchquert er den Raum weg vom Beobachter auf die gegenüberliegende Seite. Dort stellt er sich hinter den Schreibtisch und fasst den Stuhl an der Rücklehne. Die gesamte Zeit über bleibt die Kamera unverändert. Erst als sich der Held auf den Stuhl setzt, wird zu ihm geschnitten. Doch das zerstört die zuvor erzeugte Situation eines anwesenden Beobachters, der den sich setzenden Helden auch aus seiner Beobachterecke weiter betrachtet hätte. Bei „The Mortician“ hingegen gelingt es Gareth Maxwell Roberts den Zuschauer fast durchgängig als anwesenden Beobachter zu halten. Neben den vier Filmen im offiziellen Programm wurden auf dem European Film Market der Berlinale 26 S3D-Filme angeboten.
Erst langsam befreien sich die Kreativen aus der ersten Faszination der neuen Möglichkeiten und fangen an sich intensiv Gedanken darüber zu machen, was stereoskopisches Sehen eigentlich bedeutet und wie man S3D als Gestaltungsmittel auch in künstlerischer Hinsicht einsetzen kann. „The Mortician“ gibt einen ersten Einblick und Michael Coldewey, Geschäftsführer der Visual Effects- und CGI-Schmiede Trixter aus München mit einer Niederlassung in Berlin erklärte beim Podium „3D – Heaven or Hell“, das die internationale Vereinigung WIFT – Women in Film & Television während der Berlinale veranstaltete, dass dreidimensionales Sehen ohnehin eine Illusion sei. „Der Mensch sieht nur mit einem Auge, das Andere misst die Entfernung“, sagt er und fügt hinzu: „Wirklich dreidimensional sieht man nur, was man mit der Hand greifen kann. Alles was darüber hinaus geht, ist eine intellektuelle Leistung.“ Das bedeutet, dass das exakte Werfen eines Balls oder Abschießen eines Pfeils zu einem erheblichen Teil aufgrund von Erfahrungswerten gelingt. Das heißt nach der Erfahrung von Michael Coldewey aber auch, dass Filme nicht zwangsläufig in S3D aufgenommen werden müssen, weil die Konversion der 2D-Bilder in einer Qualität möglich ist, dass sie das Gehirn als ‘echt’ akzeptiert.
Ob man konvertiert oder gleich in S3D filmt, ist eine Glaubensfrage. „Das hängt davon ab, was Kamera und Regie wollen“, sagt Michael Coldewey, der einige Szenen für „The Green Hornet“ konvertiert hat. „Bei ‘Green Hornet’ wollte der Regisseur Michel Gondry, dass auch das Filmkorn in S3D sichtbar wurde. So kann man jetzt die Luft sehen, die sich zwischen den Objekten und Personen befindet.“ Martin Moszkowicz, Produktionsvorstand von Constantin Film, schwörte bei den berlin film lectures 2011 darauf, gleich in S3D zu drehen. „’Shot in 3D’ ist für uns bereits das Qualitätsmerkmal“, sagte er. Am Tag darauf war bei einer anderen Veranstaltung, dem Prime-Symposium des Fraunhofer Heinrich Hertz-Instituts, der vierminütige Verkaufstrailer der Constantin Film-Produktion „Die drei Musketiere“ (Kinostart: 1. September 2011) zu sehen, der in erster Linie damit beeindruckte wie sehr der Beobachter bei den Figuren und im Geschehen ist. Verblüfft hat eine simple Kameraposition, die wie kaum eine andere dazu geeignet erscheint den Zuschauer zum anwesenden Beobachter zu machen, weil sie ihm regelrecht ein Rampe liefert, über die er in den Film gezogen wird: die untere Bildkante ist identisch mit dem Beginn des Bodens. In diesem Fall war es jedoch keine normale, glatte Fläche sondern die Reliefplatten von Gräbern, die im Boden eingelassen sind. Die Erhebungen des Reliefs war deutlich zu sehen – deutlicher sogar, als wenn man tatsächlich vor ihnen stünde. Dass Boden als Entree in eine stereoskopische Geschichte fantastisch funktioniert, zeigen auch Ausschnitte aus den Animationsfilmen „Ronal the Barbarian“ und „The Suicide Shop“, die bei Cartoon Movie in Lyon vorgestellt wurden.
Mehr Sorgfalt bei S3D
Allerdings gibt es für Constantin Film noch andere Gründe stolz auf „Die drei Musketiere“ zu sein. „3D on location zu drehen, hat jeder für unmöglich gehalten“, erzählte Christine Rothe, Herstellungsleiterin bei Constantin Film bei der WIFT-Veranstaltung. „Die Produktionsbedingungen sind deutlich anspruchsvoller, die Umbauphasen sind aufwändiger und die Stereoriggs müssen sorgfältig eingerichtet werden, dennoch haben wir für die Dreharbeiten nicht länger gebraucht als für einen 2D-Film.“ Zwar ist Rothe nicht darauf eingegangen wie dies erreicht wurde, doch kommt ein S3D-Film mit weniger Einstellungen aus. Schnelle und viele Schnitte und S3D vertragen sich nicht gut. S3D vermittelt mehr Bildinformation als 2D, weshalb es eine Rückkehr zur Langsamkeit, zu Inszenierungs- und Schauspielkunst verlangt ohne das darunter der Eindruck leidet, dass auf der Leinwand und in der Geschichte etwas passiert. Denn der Zuschauer möchte das Bild selbst erfahren, mit den Augen darin herum wandern. Daher sind nicht nur die Schauwerte, das Schauspiel oder das Staging – die Anordnung von Personen und Gegenständen im Bild, damit die Größenverhältnisse stimmen und das Bild natürlich ausgefüllt aussieht – enorm wichtig, alle Beteiligten müssen sorgfältiger arbeiten, da S3D, in Verbindung mit der HD-Aufnahmetechnik, all Jenes sichtbar macht, wo man sich bei 2D noch mit kleinen ‘Betrügereien’ drum herum schummeln konnte.
„In S3D kann man alles sehen, deshalb brauchen wir nicht nur großartige Locations, weil das Bild sonst langweilig wird, das Art Department muss auch sorgfältiger arbeiten, weil sich nichts mehr verstecken lässt“, sagt Christine Rothe. „Fix it in the Post gibt es bei S3D nicht, da es viel zu teuer würde.“ Eine Erkenntnis, die Eva Maria Stiebler teilt, die als Stage Designer an „Wicki auf großer Fahrt“ (Kinostart: 29. September 2011) beteiligt war. „Man muss sehr präzise arbeiten und alles was man bisher gelernt hat, neu ausprobieren und überprüfen, um zu sehen wie es in 3D wirkt und wie es mit den S3D-Visual Effects zusammen passt“, sagt sie. Auch Schauspieler müssen komplett neu denken – zumindest, wenn sie nicht über Theatererfahrung verfügen.
„Bei S3D ist der Schauspieler in höherem Maße involviert, da er aufgrund der Effekte präziser arbeiten muss“, sagt Jeanette Hain und erläutert dies an einem kleinen Beispiel aus dem Horrorfilm „The Forbidden Girl“, in dem sie mitspielt: „Allein so eine kleine Bewegung, wie dem Aufrichten des Oberkörpers in die Kamera nach dem Aufwachen wird exakt ausprobiert, weil es in S3D rasch zu einer unerwünschten Wirkung kommen kann.“ Für Jeanette Hain ist das Drehen in S3D jedoch kein Nachteil, auch wenn die Umbaupausen und damit die Wartezeiten länger geworden sind. „Man hat viel Zeit zum Spielen – wie im Theater – und die Kamera wird zu einem Ansprechpartner mit der man richtig kommuniziert“, berichtet sie von ihren ersten S3D-Dreherfahrungen.
Und Michael Coldewey ergänzt: „Das Schauspiel muss richtig gut sein, da die Kamera länger drauf hält. Man kann bei S3D nicht um schauspielerische Probleme herum schneiden.“
Längere Einstellungen bei S3D führen letztendlich dazu, dass der Film für eine 2D-Auswertung zu langsam und langweilig wird. Daher wird „Wicki auf großer Fahrt“ für die 2D-Version auch anders geschnitten, denn der Unterschied von 2D und 3D entsteht, angefangen beim Breakdown des Buchs, in der visuellen Gestaltung des Films und nicht beim Schreiben des Drehbuchs. Dies ist die einzige Stelle im ganzen S3D-Prozess, der sich in keiner Weise vom 2D-Film unterscheidet, merkt Michael Coldewey an, und verweist auf einen weiteren Trick, um 2D interessanter zu machen, auf den man bei S3D verzichten kann: „Bei normalen Filmen versucht man eine räumliche Wirkung durch lange Brennweiten zu simulieren. Das ist bei S3D nicht nötig, was aber bedeutet, dass die 2D-Version langweilig aussieht.“
Nur bei zwei Genres macht das all keinen Unterschied: beim Liebesfilm und beim Kammerspiel. Dass auch diese Filme letztendlich in S3D gedreht werden, davon ist Christine Rothe überzeugt. „Es gibt sehr viele Möglichkeiten in S3D zu erzählen. Auch psychologische Dramen, Kammerspiele oder Krimis“, sagt sie.
„Das hängt alleine von der inhaltlichen Qualität des Films ab.“ Daher vertritt sie auch die Meinung, dass S3D als gestalterisches Mittel ein fester Bestandteil der audiovisuellen Unterhaltungsindustrie bleiben und 2D-Filme ergänzen wird. Damit vertritt sie eine allgemein gültige Ansicht der Branche. „3D macht mehr Spaß als 2D“, stellt Martin Moszkowicz fest. „Deshalb wird es bleiben und deshalb war ‘Resident Evil 3D’ auch der weltweit erfolgreichste Film des Franchise und der Constantin Film.“ Denn der Zuschauer entscheidet sich nur dann für einen S3D-Film, wenn er sich davon einen Mehrwert beim Seherlebnis verspricht.
„S3D bringt die Geschichte näher an den Zuschauer heran“, erinnert Michael Coldewey. „Und wenn der Regisseur das will, dann funktioniert S3D auch in einer Liebesgeschichte. Wichtig ist nur, dass der Zuschauer vergisst, dass es einen S3D-Film sieht und – wie bei 2D auch – von der Geschichte absorbiert wird.“ Dass dies gelingt, sieht man gerade bei den darstellenden Künsten. „Wim Wenders ist mit ‘Pina’ ein Quantensprung beim S3D-Film gelungen“, sagt Wolfgang Bergmann, Leiter des ZDFtheaterkanal, der den Film koproduziert hat. „Durch 3D erhält der Film eine Wertigkeit, die die inhaltliche Entwicklung von S3D darstellt und zeigt, dass das gesamte Gebiet der Performing Arts für S3D interessant ist, weil es die Bühne auf besondere Art erlebbar macht.“
Geschäftsmodell für die Kinobranche
Für die Kinobranche hingegen stellt S3D eine Einkommensmöglichkeit dar, mit der sie fest kalkuliert. „S3D ist ein Geschäftsmodell mit dem man durch den Aufschlag fast 30 Prozent mehr Brutto erzielen kann“, sagte Thomas Negele, Vorstandsvorsitzender des Kinoverbands HDF Kino e.V bei den berlin film lectures. „Auch ist Werbung in S3D inzwischen so elementar geworden, dass wir unseren Kunden garantieren, dass bestimmte Vorstellungen eine Mindestanzahl an Zuschauern haben.“ So erhöht sich die Abhängigkeit der Kinobetreiber von ansprechender Ware dermaßen, dass sie im Gegenzug von den Produzenten eine entsprechende Qualität verlangen, damit der S3D-Hype nicht unter ein Existenz bedrohendes Niveau fällt. „Durch den 3D-Hype kommen zu viele konvertierte Filme ins Kino, die vom Publikum nicht wirklich angenommen werden“, stellte Christian Gisy, Vorstandsvorsitzender der CinemaxX AG, bei der Runde „3D: Fad or Fab“ fest, die im Rahmen der Industry Debates des European Film Market der Berlinale statt fand. Wie auch Thomas Negele sieht er in konvertierten oder unkonvertierten Schnellschüssen, die allein auf Hype, Effekt und das schnelle Geld zielen, eine Gefahr für eine lang anhaltende hohe Akzeptanz von S3D-Filmen.
Ein Problem, das auch Michael Coldewey umtreibt. „Was fehlt ist eine Qualitätskontrolle für S3D-Filme“, sagt er und fordert ihre Einführung. Dazu gehört nicht nur die inhaltlich und technisch einwandfreie Herstellung eines Films, sondern auch die Lichtleistung in den Kinos. Denn auch eine zu dunkle Projektion, deren Lichtleistung herunter gedreht wurde, damit man Strom spart und die Lampen länger halten, führt dazu, dass der Zuschauer S3D als unausgereift empfindet und es ablehnt.
Jedoch versucht Technicolor bereits eine Qualitätsinitiative für S3D zu gründen sowie einen Punkteplan mit 15 Mindestanforderungen zu formulieren, die jede S3D-Produktion erfüllen muss. Und auch das Fraunhofer Heinrich Hertz-Institut setzt sich mit dem Thema Qualitätsmaßstäbe bei S3D auseinander.
Kostenfrage
Bleibt die Frage nach den Kosten. Hier gibt es keine eindeutige Antwort. Der dänische S3D-Animationsfilm „Ronal the Barbarian“ hat 2,5 Mio. Euro gekostet. In 2D wäre er genauso teuer gewesen. Aber bei Animations reicht es – stark vereinfacht formuliert – auf den Knopf ‘erstelle 3D-Version’ zu drücken. Das geht bei Realfilm nicht. „Die Mehrkosten betragen 10 bis 20 Prozent“, sagt Christine Rothe. „Das hängt von den Visual Effects ab, die der Film benötigt.“ Und Michael Coldewey sagt: „Es gibt Fixkosten für S3D, die sich auf etwa eine Millionen Euro belaufen.“ Aber auch er verweist darauf, dass es die Visual Effects sind, die den letztendlichen Preis bestimmen. Davon ist auch abhängig, ob sich eine Konvertierung lohnt oder man nicht besser gleich in S3D dreht. Aber auch der Drehort selbst bestimmt die Zusatzkosten mit. Wie kompliziert ist es dort zu drehen? Wie viele Sets gibt es? Und, und, und. Für den nur in einem Raum gedrehten Horrorfilm „Iron Doors“ von Stephen Manuel entstanden Konvertierungskosten von rund 800.000 Euro.
Der Film wurde in 2D gedreht, weil Manuel lediglich das Budget für eine 2D-Version aufbringen konnte. Die Konvertierung führte PassmoreLab als Rückstellung durch. „The Mortician“ hatte ebenfalls Mehrkosten von 800.000 Euro, wurde aber gleich in S3D gedreht. „Inzwischen habe ich festgestellt, dass Finanziers unruhig werden, wenn man ihnen einen Film in S3D vorschlägt“, sagte Sam Taylor, dessen Firma Film and Music Entertainment, „The Mortician“ finanziert hat, bei „3D: Fad or Fab“. „Dann muss man immer sehr genau erklären, warum die Geschichte aus kreativen Gründen in S3D gedreht werden soll.“
Dies ist auch im Animationsfilm eine der zentralen Frage und unabhängig davon, ob ein Film wie „Ronal the Barbarian“, der von seinen Machern als „Boobs, Balls and Muscles in 3D“ beschrieben wird und einen sehr unterhaltsamen und politisch unkorrekten Kinoabend verspricht, tatsächlich in S3D gemacht werden muss. So kristallisieren sich auch in der Animation immer mehr künstlerische Argumente heraus – egal was man geschmacklich davon zu halten hat, denn „Boobs, Balls and Muscles“ haben alle drei mit Rundungen zu tun und die stellt S3D extrem überzeugend da, wie man selbst in Kinderfilmen wie „Rapunzel“ sehen kann.
Zudem werden Animationsfilme für arrivierte Filmemacher immer interessanter. Zwei der bei Cartoon Movie vorgestellten Filme werden von dem Monty Python-Mitglied Terry Gilliam („Baron Münchhausen“), der eine ausbordende visuelle Vorstellungskraft hat sowie dem französischen Filmemacher Patrice Leconte („Der Mann der Friseuse“ oder die „Les Bronzés“-Trilogie) vorgestellt. Gilliam wird bei „1884: Yesterday’s Future“, einer viktorianischen Materialschlacht aus Stahl und Zeppelinen als Produzent fungieren. In diesem Fall wird der 3D-Effekt der Zeit entsprechend aussehen, nämlich als ob man in ein Gerät schaut, das Bilder in 3D darstellt, wie es in der viktorianischen Zeit zur Volksbelustigung üblich war. Die Geschichte über die Zukunft, die es nicht gab, gepaart mit einer James Bond-Geschichte aus dem 19. Jahrhundert hat ein Budget von sechs Millionen Euro und soll im Herbst 2012 fertig sein.
Auch Patrice Lecontes Musical „The Suicide Shop“ nutzt S3D in einer sehr artifiziellen Art. „Ich wollte einen Film, der den Zuschauer grafisch anspricht“, sagte er. „Gestaltet wird er wie ein Pop-Up-Buch, in dem die Figuren und Gegenstände in 2D dargestellt aber räumlich angeordnet sind.“ Die ersten Szenen vermitteln eine ungeheure Tiefe, die den Charakter der Geschichte unterstützen und das Versprochene überzeugend wieder geben. Das Budget beläuft sich auf 11,6 Millionen Euro, die nicht nur das von 150 Zeichnern geschaffene Artwork umfassen, sondern auch zehn Songs. Künstlerisch sind dies die beiden ambitioniertesten Projekte, die das diesjährige Cartoon Movie zu bieten hatte. Dicht gefolgt von „The Strange Case of Dad’s Missing Head“, der sich an Zeitschriftenillustrationen der 50er Jahre orientiert und ebenfalls mit 2D-Cutouts in einer S3D-Umgebung arbeitet sowie dem von Luc Bessons EuropaCorp produzierten „French Riviera“, dessen bisheriges Artwork aber so überzeugend ist, dass man Nichts dagegen hätte, wenn es sich die Produzenten anders überlegten. Von insgesamt 56 vorgestellten Projekten sind zwölf Projekte S3D-Filme. Weitere Beispiele sind „Legends of Valhalla – Thor“ (s. MEDIEN BULLETIN 07/08/2010), bei dem man sich erst in letzter Minute dazu entschloss ihn als S3D-Film zu machen, was bedeutet, dass die bereits geschlossene Finanzierung um eine Millionen Euro aufgestockt werden musste. „Doch der Markt verlangt S3D, so war es einfach das Geld in kürzester Zeit aufzutreiben“, sagte Emily Christians vom deutschen Koproduzenten Ulysses Filmproduktion. Auch bei der Romanverfilmung „Ana“, die von einem Mädchen erzählt, das in der Psychiatrie lebt, ist S3D ein wesentliches Mittel, um die Geschichte zu erzählen. Ernsthafte Fragen haben ein französisches und ein spanisches Projekt aufgeworfen. „Soul Man“ konnte mit seinen Ausschnitten überhaupt nicht überzeugen, weil sie viel zu schnell geschnitten waren. Man konnte im wahrsten Sinne des Wortes Nichts erkennen.
Zudem hat der Film ein Budget von 13 Millionen Euro, was für europäische Projekte sehr viel ist, wahrscheinlich aber dem Plan der Produzenten geschuldet ist, das Projekt mit Partnern aus den USA und Asien zu realisieren und es auch auf diesen Märkten zu vertreiben. Kein allzu falscher Gedanke, denn auch die Idee des außerordentlich erfolgreichen und mit dem Cartoon Movie Tribute für beste Regie ausgezeichneten S3D-Animationsfilm „ICH – Einfach unverbesserlich“ stammt aus Frankreich, wurde allerdings von einem US-Major produziert. Das spanische Projekt ist das Sequel „The Happets in the Rainbow Forest“, das sich an Kinder unter sieben Jahre richtet (s. Interview mit dem Produzenten Alex Colls).
Show-Case: Wicki auf Großer Fahrt
Im Rahmen der Berlinale fand im Heinrich Hertz Institut das Prime-Symposium des Fraunhofer-Instituts statt. Nach einem Tag Theorie und Technik ging es am Abend im Kino weiter. Dort wurden verschiedene S3D-Beispiele aus Film, Videospiel und Live-Aufzeichnung gezeigt und erläutert. Zu „Wicki auf Großer Fahrt“ kamen Produzent Christian Becker und Stereografer Florian Meyer, um einen kleinen Erfahrungsbericht zu geben. Die Filmemacher konnten auf keinerlei Erfahrung aus dem S3D-Bereich zurückgreifen. Sie sahen sich an Sets anderer in S3D gedrehter Filme um und erarbeiteten sich alles selber während des Drehs, wie Christian Becker betonte. „Wir haben viel am Set von ‘Drive Angry 3D’ verbracht, um zu sehen wie es geht und haben dann zusammen mit Florian Meyer ein System entwickelt“, so Becker. Kernstück des Systems ist die Alexa von Arri, für die ein 3D-Rig für den Dolly und eines für die Steadicam gebaut wurde.
„Am ersten Tag haben wir drei Einstellungen geschafft, am zweiten sieben und dann sind wir auf die normale Geschwindigkeit gekommen und konnten sogar die Objektive nach einem Wechsel binnen zwei Minuten kalibrieren“, erzählte Christian Becker. „Nach ein paar Tagen war es trotz der Umgewöhnung bei Technik und Workflow wie ein normaler Dreh. Wir haben alle Fehler gemacht und können die Erfahrung nun nutzen und weitergeben.“ Um sich auf den Dreh vorzubereiten, nahmen sich die Produzenten viereinhalb Monate Zeit. Normal ist eine Vorbereitungszeit von sechs Wochen. Das Ergebnis kam offenbar gut an. „Beim European Film Market waren alle von dem Trailer begeistert, weil wir eine bessere Qualität zu niedrigeren Kosten als Andere abliefern“, freute sich Christian Becker. Gekostet hat der Film aber immer noch 16 Millionen Euro.
Marktübersicht für 3D
Bei dem Prime-Symposium gab Kemal Görgülü von Flying Eye eine kurze Übersicht über die Markt- und Geschäftsmodelle für 3D‐Kino und 3D‐TV. Dort sprach er von fast 22.000 S3D-Installationen weltweit, davon rund 900 in Deutschland. Hinzu kommen 178.000 S3D-fähige Fernsehgeräte, die 2010 in Deutschland verkauft wurden. Jedoch sind bislang weniger Brillen als Geräte verkauft worden. In diesem Jahr werden mit 50 S3D-Filmen doppelt so viele in die Kinos kommen wie im Jahr zuvor. Dennoch gibt es noch immer zu wenig Filme und andere Inhalte für den Home Entertainment-Bereich. Allerdings treibt S3D sowohl die Digitalisierung des Kinos, als den Verkauf von S3D-fähigen Fernsehgeräten, da trotz aller Schwierigkeiten S3D vom Zuschauer als Erlebnis wahrgenommen wird. Sei es im Bereich von Spielfilm, Theater oder Live-Events wie Sport und Konzerten. Damit hat sich ein Traum verwirklicht, den die Menschheit schon seit Jahrzehnten verfolgt: die Nachempfindung des räumlichen Sehens bei Bildern. Schon im 19. Jahrhundert wurden die ersten Stereobetrachtungsgeräte mit den entsprechenden Bildern entwickelt und der deutsche Science-Fiction-Autor Hans Dominik beschreibt in seinem 1921 entstandenen Roman „Die Macht der Drei“ eine S3D-Filmvorführung, bei der die Personen sogar aus dem Film heraus treten und mit den Zuschauern interagieren. Auch die Nazis träumten vom ‘Raumfilm’. Das US-Fachblatt Variety berichtete während der Berlinale davon, dass eine 30-minütige Filmrolle im Bundesarchiv entdeckt wurde, die einen 1936 produzierten 3D-Film in höchster technischer Qualität enthält.
Thomas Steiger
(MB 04/11)