Kreative Entwicklung der Unruhe

Die IT-basierte Systemlandschaft, die der Berliner Nachrichtensender N24 seit 2008 aufgebaut, modifiziert und modernisiert hat, gilt nach wie vor als Vorbild für internationale Nachrichtensender. Mit einem properen Rekord- Marktanteil von 1,5Prozent bei den jüngeren Zuschauern hat sich N24 auch in 2012 deutlich vor seine direkten Konkurrenten wie n-tv oder Phoenix positioniert. MEDIEN BULLETIN sprach mit Frank Meißner, N24-Geschäftsführer Technik & Produktion, über Erfahrungen und neue Ziele und inwieweit spezifische IT-Erfahrungen auf andere Sender übertragbar sind.

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Kreative Entwicklung der Unruhe

Herr Meißner, vor wenigen Jahren hat noch niemand damit gerechnet, dass der deutsche Fernsehmarkt mehr als einen Nachrichtensender trägt und N24 einen beachtlichen Jahresmarktanteil von 1,5 Prozent erreichen könnte. Haben Sie eine Erklärung?

Meine persönliche Meinung: Ich selbst schaue mir ausschließlich Nachrichten und Sportereignisse im Fernsehen an, um up to date zu sein. Abends und in der Freizeit wähle ich gezielt Inhalte, die mich interessieren und weniger nach Sendern im TV-Angebot aus.

Nach meiner Beobachtung ist es mittlerweile so, dass sich das Zapping-Verhalten in der Mediennutzung verändert hat, da auch die Umschaltzeiten bei digitalen Empfangsgeräten langsamer als im analogen Zeitalter sind. Deshalb setzen sich heute immer mehr Fernsehzuschauer mit den EPGs auf ihrem TV-Bildschirm auseinander, um gezielt gewünschte Inhalte abzurufen. Die Sender selbst werden vernachlässigt, der Content wird entscheidend. Nachrichten und Live-Sport bilden dabei allerdings eine Ausnahme.

Wie lange bleiben die TV-Zuschauer bei der aktuellen Berichterstattung von N24 am TV-Bildschirm hängen?

Wir registrieren insgesamt eine Verweildauer von durchschnittlich 20 Minuten.

Sie arbeiten zurzeit an einer neuen Multiplattform-Strategie, um N24 aktuell jederzeit auf möglichst allen denkbaren Endgeräten online und mobil verfügbar zu machen. Worum geht es genau?

Nachdem sich das Mediennutzungsverhalten in der digitalen Welt drastisch geändert hat, müssen wir als Nachrichtensender auf möglichst allen Endgeräten präsent sein. Das erwartet der User von uns. Wir müssen ihm die Möglichkeit geben, uns genau auf dem Endgerät zu finden, das er gerade nutzt. Wir werden zwar aus Kostengründen nicht gleich alles auf einmal machen können, doch langfristig wollen wir überall dabei sein, um allen Usern die Möglichkeit zu geben, uns jederzeit über beliebige Endgeräte zu finden.

Der aktuelle Online-Auftritt von N24 stammt offensichtlich noch aus der Zeit, als N24 Tochter der ProSiebenSat.1-Gruppe war?

Wir haben 2010 beim Kauf des Senders N24 für den Digitalbereich die Technik übernommen, die damals von der dafür verantwortlichen Konzerntochter entwickelt worden war. Insofern ist der Online-Auftritt von N24 in der Tat noch ein letztes Überbleibsel aus dieser Zeit. Wir haben dann feststellen müssen, dass das Online-Redaktionssystem viel zu starr ist, um schnell und effektiv Aktualisierungen vornehmen zu können, so wie wir es als kleiner, flexibler und konzernunabhängiger Nachrichtensender brauchen. Details zu unserem neuen System wollen wir aber erst im Frühjahr veröffentlichen, wenn wir an den Start gehen.

Vermutlich geht es in Richtung Automatisierung, um Kosten zu sparen?

Die Kostenfrage steht bei uns immer im Mittelpunkt. Und richtig: Je mehr wir automatisieren, umso preisgünstiger wird es. Dennoch kann man nicht alles automatisieren. Nach wie vor sind es Menschen, die Inhalte kreieren, die Nachrichten im Stil von N24 recherchieren, aufbereiten und dann ins Netz stellen, egal für welchen Verbreitungsweg, ob per Smartphone, Tablet oder PC. Wir werden im Onlinebereich sogar zusätzlich Personal einstellen, um unsere Marke zu stärken.

Seit dem Aufbau der N24-Sendezentrale am Potsdamer Platz 2008 gilt N24 als Vorbild für Nachrichtensender und ist auch Marktführer in Deutschland. Hat das mit der Technik zu tun?

Für die Marktführerschaft sind die Inhalte entscheidend und dass wir eine größtmögliche Reichweite haben. Die Technik selbst ist dabei nur unterstützend tätig. Worauf wir hinsichtlich unserer technologischen Systemlandschaft trotzdem stolz sind, ist die Tatsache, dass wir nach wie vor aus der ganzen Welt Besuch bekommen, der sich unser System anschaut.

Wir haben ein bisschen den Eindruck, dass jeder, der einen neuen Nachrichtensender aufbauen oder einen alten modernisieren will, überzeugt ist, vorher erst einmal bei uns vorbeischauen zu müssen, um zu erfahren, wie wir das gemacht haben. Kürzlich erst hatten wir Besuch aus der Türkei, Brasilien und der Ukraine …

Das 2008 eingeführte IT-basierte Konzept für den Newsroom, Redaktions- und Produktionssystem und Netzwerk hat sich bis heute voll bewährt? Nur positive Erfahrungen?

Soweit ich es auch aus internationalen Besucherberichten erfahren habe, können wir schon stolz sein, dass wir damals mit einem Planungs- und Realisierungshintergrund von neun Monaten und einem eher niedrigen Budget von zwölf Millionen Euro einen Nachrichtensender im Kaltstart aufgebaut haben, der funktioniert. Wenn ich höre oder lese, dass andere Sender einzelne Nachrichtenstudios für 20 bis 30 Millionen Euro bauen, stelle ich mir schon die Frage der Verhältnismäßigkeit.

Auch der Standort, den wir damals gesucht, gefunden und umgebaut haben, hat sich als perfekt für einen Nachrichtensender erwiesen. Wir sind mitten in der Metropole, am Puls der Zeit. Dabei ist uns auch gelungen, eine Systemlandschaft so aufzubauen, dass wir so kostengünstig wie möglich Nachrichten produzieren können. Das ist gerade heute für uns als einziger inhabergeführter Fernsehsender in Deutschland enorm wichtig. Denn wir können nicht auf Synergien eines Konzerns zurückgreifen. Wir müssen permanent kostenbewusst und kreativ als kleines Privatunternehmen agieren, alles so effizient wie möglich realisieren. Es hat sich auch von Anfang an bewährt, dass Journalisten ihre Beiträge selbst schneiden. Da hatten wir zunächst mit Problemen und Vorbehalten gerechnet. Mittlerweile wird diese Technik aber nicht nur von Journalisten akzeptiert, sondern sie ist auch von der überwiegenden Mehrzahl erwünscht. Sie haben schlicht Spaß daran, ihre Beiträge eigenständig herzustellen. Ebenso hat sich bewährt, dass wir in den Regien mit nur jeweils zwei Mitarbeitern und nicht, wie es damals bei uns klassisch war, mit neun Leuten arbeiten. So sind wir auch sehr flexibel und effizient, wenn wir aufgrund von Breaking News zusätzliche Schichten einbauen müssen, wenn sich die Prime-Time in den Nachmittag hinein verlängert.

Und die Mehrkosten für Breaking News werden dann gleich vom IT-System erfasst und umgeschichtet?

Das macht bei uns kein System. Wir haben vielmehr eine Redaktionsrunde, in der genau nachgehalten wird, was direkt beauftragt worden ist. So wissen wir tagesaktuell, wo wir mit unserem Budget stehen. Für Breaking News halten wir ein Sonderbudget vor, das aber natürlich nur vage sein kann.

Nach dem Management-Buy-out, an dem Sie selber 2010 beteiligt waren, mussten Sie dann ja nach nur zwei Jahren die gesamte Technik vom Konzern ProSiebenSat.1 abkoppeln. Wie sind Sie da vorgegangen?

Das war ein Prozess, der noch bis 2011 hinein gedauert hat. Im ersten Schritt des Carve out haben wir zusammen mit dem technischen Management von ProSiebenSat.1 genau analysiert, welche Schnittstellen wo vorhanden sind und wie man sie auseinander dividieren kann, so dass N24 zum Schluss stand alone agieren kann. Es waren dann insbesondere drei Hauptbereiche zu berücksichtigen: das Playout, Netzwerk samt IT und das Archiv. Aus Kostengründen, aber auch aus Gründen der Sendebetriebssicherheit haben wir uns entschlossen, die Sendeabwicklung in München zu belassen, also keine neue Sendeabwicklung in Berlin aufzubauen. Um den Hintergrund zu erläutern: In Berlin ist und von Berlin kommt alles, was live ist: die Nachrichten, Sondersendungen, Talk-Formate. Aber die Dokumentationen und Reportagen sowie die Werbung lagen in den Sendeabwicklungs-Servern der damaligen ProSiebenSat.1-Produktion in München. Nach einer Ausschreibung haben wir dann APS den Zuschlag für das Playout gegeben, so dass auch alle längeren Sendebeiträge wie die Werbung als Files oder auf Band in München bleiben konnten. Wir hatten überlegt, dass falls es in Berlin ein Desaster im Sendebetrieb gibt, die Sendeabwicklung zunächst mit den längeren Beiträgen von München aus übernommen werden kann, um so Zeit für die Reparatur zu gewinnen. APS konfektioniert seitdem das endgültige Sendesignal für uns nach Vorgabe der N24-Sendeplanung aus Berlin. Dadurch, dass Astra als Uplink-Dienstleister das Playout weiterhin in München realisiert, konnten wir Investitionen in Berlin sparen und gleichzeitig ein zusätzliches Backup für die Sicherheit des Sendebetriebs realisieren.

Parallel dazu haben wir uns aus dem Outsourcing-Vertrag gelöst, den wir damals als Konzerntochter von ProSiebenSat.1 mit IBM in Sachen IT und Netzwerk hatten. Es war zunächst schwierig ein anderes Unternehmen zu finden, das zu uns als kleinem Nachrichtensender passt. IBM ist zwar für große Unternehmen, die auf standardisierte IT-Lösungen bauen, optimal, wir aber sind mit unserer kleinteiligen Systemwelt und Netzwerk-Technik für IBM zu klein. Wir haben uns dann für PingUs, einen kleinen Dienstleister aus der Region Berlin-Brandenburg, entschieden. PingUs sollte für uns zunächst nur das Netzwerk und die neue IT-Technik neu aufbauen. Wir wollten aber, dass das Unternehmen, das die neue IT-Technik aufbaut, sie dann auch selbst betreibt und verantwortet. PingUs hat dann mit PingUs-Services ein neues Unternehmen gegründet, so dass sie jetzt die Technik, die sie für uns aufgebaut haben, auch verwalten können.

Drittes großes Thema war die Frage, wo das Archiv lokalisiert ist, und wer es verwaltet. Hier ging es für uns um die Frage, ob wir etwas Neues kaufen oder etwas Bestehendes nutzen sollen. Da ProSiebenSat.1 zur selben Zeit sein bisheriges Archivsystem durch ein neues von Faro ersetzen wollte, hat man uns das Angebot gemacht, dass wir als Mandant am System partizipieren können. Das haben wir gemacht.

Wird das Archiv denn viel von N24 genutzt?

Als Nachrichtensender muss man auf jeden Fall ein Archiv besitzen. Allerdings ist es schon so, dass das Material natürlich umso weniger genutzt wird, je älter es ist.

Ist denn mittlerweile die dann 2010 neu eingeführte IT-Architektur stabil geblieben, kommt in den IT-Bereich auch mal Ruhe rein?

Die IT ist permanent in der Entwicklung und damit auch in Unruhe. Seitdem Software im Spiel ist, kehrt in der Fernsehtechnik keine Ruhe mehr ein. Das hängt schon mit den notwendigen Updates zusammen. Und wenn ich an irgendeiner Stelle mit einem Update in das System eingreife, führt dies zu neuen Unstimmigkeiten und Fehlern im Gesamtsystem, die dann beseitigt werden müssen.

Warum muss man laufend Updates durchführen?

Man will neue Features einführen, man will eine bessere Usability erreichen, man will Performance-Probleme beseitigen oder einfach nur neue Funktionen einbinden.

Welches Update steht für das N24-System aktuell an?

Wir stehen gerade vor der Frage, ob wir für unser Produktionssystem – das ist Sonaps von Sony – ein größeres Update durchführen sollen. Das wäre aber in jedem Fall eine kostenintensive Angelegenheit. Deshalb überlegen wir gleichzeitig, ob es nicht sinnvoller wäre, das Produktionssystem, das bereits eine Laufzeit von fünf Jahren hat, auszutauschen, zumal wenn es mittlerweile etwas auf dem Markt gibt, das noch besser zu uns passt. Wir müssen über den Tellerrand schauen und peu a peu auch Systeme ersetzen …

IT bleibt eine „Entwicklung der Unruhe“?

Zu Zeiten, als die IT die Fernsehtechnik noch nicht so dominiert hat, war sie jedenfalls wirtschaftlich planbarer. Ich wusste, dass so eine „Blech-Maschine“ eine Abschreibung von fünf Jahren hat und mit der normalen Wartung aber sogar zehn Jahre läuft. Heute ist das ganz anders. Man kauft IT-Systeme. Daran hängen Wartungsaufträge. Es kann passieren, dass der Hersteller schon nach zwei Jahren aus der Wartung herausgeht, weil die Hardware nicht mehr unterstützt wird. Heute ist nichts mehr langfristig planbar. Ich kann nicht sagen, ich kaufe das und es läuft dann sieben Jahre. Es ist eine Entwicklung der Unruhe.

Wie ist N24 zurzeit in Sachen Liveberichterstattung aufgestellt?

Wir fahren bei der Liveberichterstattung mehrgleisig. Wir haben Easy Links, abgespeckte SNG-Wagen, die mit zwei Mann, Operator und Reporter, dahin fahren, wo etwas passiert. Das machen wir schon seit vielen Jahren. Für Krisengebiete und schnelle Einsätze benutzen wir BGAN-Anlagen, also Laptops, an die sich eine Kamera anschließen lässt und mit denen man dann über Satellit von jedem Punkt der Welt senden kann. Wir verfügen über zwei Anlagen, die wir beispielsweise aktuell in Mali eingesetzt haben und im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Ganz neu haben wir die Technik von LiveU, ein System auf Basis von Mobilfunktechnik. Da prüfen wir aber immer noch die Qualität und die Verlässlichkeit, weil man damit ja über Handy-Zellen sendet und die Bandbreite dort schwankt, je nachdem wie stark die Zellen genutzt werden.

Im Gegensatz zu reicheren Sendern wie ZDF hat sich N24 für ein reales anstatt ein virtuelles Nachrichtenstudio entschieden. Bleibt es dabei?

Wir haben uns damals bewusst für ein reales Studio entschieden und sind dabei geblieben – was mit den Arbeitsbedingungen der Moderatoren zu tun hat und dem Look and Feel des Senders. Das reale Studio ist authentischer und passt deshalb besser zur Marke N24.

Bei uns sitzen die Moderatoren über Stunden im Studio. Deshalb ist es für sie wichtig, dass sie die Atmosphäre des Newsrooms spüren und ihre Kolleginnen und Kollegen um sich herum wissen. Die „grüne Hölle“ – wie man beim ZDF sagt – ist eher dazu geeignet, wenn Moderatoren sich darin nur kurze Zeit bewegen. Dennoch setzen wir wie zum Beispiel das ZDF auch auf Erklärstücke, die wir aber nicht virtuell, sondern über eine reale Video-Wand realisieren. Das hat auch wieder den Vorteil der Authentizität, weil der Moderator, das, was er erklärt, auch vor sich sieht.

Neben dem Nachrichtensender N24 gehören zur N24 Media GmbH auch noch die Berliner Produktionsfirmen Maz & More, Agenda Media und Content Factory. Sind die auch alle in dieselbe Technik eingebunden?

Was IT angeht, sind wir schon im Netzwerk verbunden. Die Fernsehproduktionstechnik für Maz & More wird allerdings von der Fernsehwerft gestellt. Die Technik, über die N24 Media verfügt, bezieht sich zu 99 Prozent auf N24.

Da die IT so unruhig ist, kann N24 dann überhaupt seine Erfahrungen und sein Erfolgsgeheimnis anderen Nachrichtensendern vermitteln?

Es geht nicht um ein Geheimnis. Wir gehen in der Kommunikation relativ offen mit Problemen und Lösungen für unsere Systeme um. Letztlich muss aber jeder seine eigenen Erfahrungen machen, selbst wenn man von einem vergleichbaren Grundsystem ausgeht. Jeder Sender hat seine eigene individuelle Historie und eine eigene IT-Landschaft aufgebaut. Selbst wenn man Standardprodukte einsetzt, gibt es an den Schnittstellen und bei der Integration in das Gesamtsystem immer zusätzlich eigene Entwicklungen, die für den jeweiligen Sender notwendig sind.                                                                                                                                                                          Erika Butzek
(MB 03/13)

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