Streaming: Die Qual der Wahl

Wie viel Streaming will das Publikum? Wie viel Streaming kann finanziert werden? Lisa Jäger, Global Head of Technology, Media & Telco bei der Strategieberatung Simon-Kucher, empfiehlt jedem Anbieter eine klare inhaltliche Positionierung. Das Publikum sei offen für neue, auch werbefinanzierte Angebote.

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Lisa Jäger von Simon-Kucher
Lisa Jäger ©Simon-Kucher

Frau Jäger, für die in Auftrag von Simon-Kucher durchgeführte, repräsentative Studie „Global Streaming Study 2023“ wurden 12.100 Personen von 18 bis über 70 Jahren aus zwölf Ländern befragt. Was sind die auffälligsten Veränderungen zum Vorjahr?

Für den deutschen Markt sind zwei Ergebnisse besonders auffällig: Einerseits der Rückgang der Zahlungsbereitschaft von Nutzern, andererseits die Bereitschaft, ein bestehendes Abo zu kündigen, um ein neues abzuschließen. Generell akzeptieren Streamer Werbung immer mehr, im Vorjahr waren die meisten  Streamingangebote noch werbefrei. Ein großer Teil von Nutzern nimmt für ein kostenloses oder günstigeres Streamingangebot Werbung in Kauf. Für den internationalen Markt haben wir technische Features wie Gaming oder Social Streaming abgefragt, die auf dem deutschen Markt derzeit keine große Rolle spielen. Diese Features funktionieren auf Märkten mit starken Gaming-Communities, wie in Asien oder Brasilien. 

Worum geht es bei diesen Features?

Beispielsweise kann sich ein Nutzer per Watch-Together-Funktion mit mehreren Devices verbinden. Das Social-Streaming zeigt dem Nutzer, was andere gerne sehen. Solche Nice-To-Have-Funktionen sind Gimmicks für bestimmte Streamer auf dem deutschen Markt, aber sie haben bezogen auf den Gesamtmarkt derzeit geringes Potential, neue Streamer für ein Abo zu gewinnen oder zusätzliche Zahlungsbereitschaften bei Bestandskunden zu erzielen.  

User-Voting der Streaming-Studie ©Simon-Kucher

Das Daten-Portal „Statista“ prognostiziert für den deutschen Videostreaming-Markt 2024 einen Umsatz von 3,93 Milliarden Euro. Jeder Nutzer investiert im Durchschnitt 105,10 Euro pro Jahr in SVoD-Angebote. Befindet sich der deutsche Streamingmarkt in einer Konsolidierungsphase?

Jein. Unserer aktuelle Streaming-Studie 2023 zeigt: Einerseits steigen die Anzahl von Streamingnutzern und die Nutzungsdauer im Vergleich zum Vorjahr weiter an. Streamingdienste haben sich bei den Zuschauern etabliert. Anderseits stagniert die Zahlungsbereitschaft für Steaming-Abos, was man in Richtung Konsolidierung deuten kann. Es gibt immer mehr Player auf dem Markt, gleichzeitig sind sowohl das finanzielle, als auch das zeitliche Budget von Nutzern begrenzt. Die Leute wollen neue Angebote ausprobieren. Aber wenn sie ein neues Angebot abonnieren, kündigen sie ein anderes. Das Phänomen des Abo-Hoppings verschärft für viele Anbieter die Marktsituation, neue Anbieter erhöhen den Konkurrenzdruck auf dem deutschen Markt.

Das Vergleichs-Portal „Verivox“ listet aktuell 15 Streamingdienste von Apple TV+ bis WOW mit monatlichen Abogebühren von 5,99 bis 27,50 Euro für den deutschen SVoD-Markt auf. Darüber hinaus florieren kostenlose Streamer mit dem Fokus auf Gaming, eSports, Community, Chat und Kultur sowie Open-Source-Plattformen. Wie viel Streaming will das Publikum und wie viel Streaming ist refinanzierbar?

Jeder Deutsche hat im Schnitt 2,1 Paid-Subscription-Angebote abonniert, diese Zahl ist gegenüber dem Vorjahr konstant. Es ist unter den aktuellen, ökonomischen Voraussetzungen unwahrscheinlich, dass diese Zahl steigen wird. Das heißt: Die Anzahl von Streamern, die ein weiteres Abo abschließen, ist minimal. Obwohl sich immer mehr Menschen vorstellen können, ein Streaming-Abo abzuschließen – was für eine noch größere Marktdurchdringung spricht. Bei den hinzugekommenen Streaminganbietern dominieren einerseits Gratis-Abos wie Amazon Freevee, anderseits gibt es neue Nischenanbieter. Für spezielle Sportarten gibt es Anbieter, die nicht mit der großen Marketingmacht wie DAZN oder Sky im Markt unterwegs sind. Für diese Nischenangebote sind Nutzer bereit, viel zu bezahlen. Allerdings muss man bei Nischenangeboten beachten, dass hohe Abopreise sich nur mit einer geringen Menge von Nutzern multiplizieren lassen. Diese Anbieter müssen beispielsweise die teilweise hohen Kosten für Sportübertragungsrechte im Auge behalten.

Mit welchen inhaltlichen und preisstrategischen Maßnahmen können Streaming-Player reüssieren? 

Abonnenten entscheiden sich für einen Streamingdienst nicht nur wegen des Preises, sondern vor allem aufgrund von Inhalten. Auch die Flexibilität, zu kündigen und welche Usability eine App hat, spielen eine Rolle. Die Nutzer suchen nach Inhalten, die es nirgendwo anders gibt und über die jeder spricht. Unsere Studie zeigt: Der Abonnementpreis und die Breite von Inhalten sind die Hauptkriterien für Abonnenten. Aspekte wie Empfehlungen oder die Verfügbarkeit von Inhalten auf mehreren Plattformen sind nicht das Zünglein an der Waage, warum sich ein Nutzer für einen bestimmten Anbieter entscheidet. Anbieter brauchen ein klares inhaltliches Profil. Beispielsweise findet beim Marktführer Netflix jeder etwas: Die Familie, der Crime-Liebhaber, die Kinder. Spartensender wie DAZN oder Sky zeichnen sich durch Sportprofile aus. Disney hat mit seiner Positionierung als Premium-Spielfilmsender im letzten Jahr deutlich an Boden gewonnen. Das heißt: Wer auf dem Streaming-Markt reüssieren will, muss Premiuminhalte anbieten, die exakt zum Profil des Anbieters passen.

Folglich müssen neue Anbieter eine Nische finden, die im Markt nicht besetzt ist?

Account-Sharing-Verbote könnten für Streaming-Anbieter negative Auswirkungen haben ©Simon-Kucher

Richtig. Neben den Inhalten ist die Preis- und Angebotsgestaltung entscheidend. Gefragt ist ein differenziertes Angebot, kein Pauschalpaket. Der One-Size-Fits-All-Ansatz funktioniert nicht. Die richtigen Angebote müssen maßgeschneidert für das Profil der Zielgruppe sein. Im letzten Jahr sind werbefinanzierte Streaming-Angebote hinzugekommen, die von den Nutzern akzeptiert wurden.

Wie viel sind die Deutschen bereit, für Streamingdienste zu bezahlen? 

Laut unserer Studie sind deutsche Streamer bereit, zwischen 15 und 30 Euro im Monat für ein Abo zu bezahlen. Im Durchschnitt liegt die Zahlungsbereitschaft der Deutschen bei monatlich insgesamt 25 Euro für Streaming-Angebote. Es gibt zwei Pole: Einerseits Nutzer, die Werbung akzeptieren und dafür einen geringeren Abopreis erwarten. Andererseits Streamer, die einen höheren Abopreis bezahlen, aber nichts mit Werbung zu tun haben wollen. Diese beiden Gruppen müssen in der Angebotsgestaltung individuell angesprochen werden. Die Streaming-Studie zeigt: Von den Nutzern des Netflix-Abos mit Werbung hat ein Drittel der Befragten nichts gegen Werbung. 

Deutschland zählt zu den weltweit führenden Videostreaming-Märkten mit einer Vielzahl von Plattformen und einer großen Nachfrage nach Premium-Inhalten. Während 41 Prozent der Befragten SVoD nutzen, bevorzugen 36 Prozent der Befragten kostenlose Online-Angebote. Entsteht im Streamingmarkt ein duales System aus SVoD und Free-Streaming-Angeboten – analog zum linearen Fernsehen?

Entscheidend ist die Qualität der Inhalte. Wer aktuelle, angesagte Filme sehen will und keine alten Kamellen, kommt mit einem kostenlosen Streamingangebot mit älteren Angeboten nicht weit. Solche Angebote bedienen Nutzer, die sporadisch irgendeinen Film streamen. Spannender ist die Entwicklung der großen SVoD-Anbieter, die ihr Angebot durch ein werbefinanziertes Modell ergänzen. 

Glauben Sie an ein duales Streamingsystem aus SVoD und Free-Streaming-Angeboten?

Insbesondere jüngere Nutzer können mit dem linearen Fernsehen immer weniger anfangen. Sie akzeptieren keine Sendung, die irgendwann läuft und die man sich entweder ansieht oder aufzeichnet. Stattdessen streamen sie Unterhaltungsinhalte, wenn es in ihren Lebensrhythmus passt. Dafür eignen sich Mediatheken, sowohl von den öffentlich-rechtlichen Anbietern, als auch kostenlose Angebot wie Amazon Freevee. Der Markt ist groß genug für alle Player mit kostenlosen und gebührenpflichtigen Streamingangeboten. Beispielsweise wollte Amazon den Free-Streamingmarkt nicht der Konkurrenz überlassen und lancierte Amazon Freevee. Gleichzeitig hat Amazon sein Aboangebot für Werbung geöffnet. Wenn man Prime Video weiterhin werbefrei streamen will, muss man monatlich zusätzlich drei Euro bezahlen, ansonsten ist automatisch Werbung mit im Paket. Das heißt: Die Übergänge zwischen beiden Streamingmodellen sind fließend, es ist eine Art duales Mischsystem. Fast alle Streaminganbieter haben Pakete mit und ohne Werbung, zum Teil auch kostenlose oder gebührenpflichtige Angebote.

Ein Viertel der Befragten nutzen Streamingsdienste zwei Stunde pro Woche. Filme und Serien stehen hoch im Kurs, ein Drittel der Befragten streamt keine Liveevents. Sind teure Sportrechte für Streaminganbieter noch refinanzierbar? 

Unsere Studie untersucht den Sportstreamingmarkt nicht explizit. Wir sehen, dass DAZN und Sky jeweils klare Profile, haben. DAZN stieg mit relativ günstigen Preisen in den deutschen Markt ein. Viele Personen, die DAZN kennen, werden DAZN enorme Preiserhöhungen attestieren. Nach den Ergebnissen der Studie ist bei beiden Plattformen Fingerspitzengefühl gefragt, da beide Sport-Plattformen für hohe Abopreise stehen.

Was können Streaminganbieter tun, um Kündigungen vorzubeugen?

Es gibt einige Churn-Prevention Ansätze, um Kündigungen zu vermeiden. Warum ist das wichtig? Wir wissen, dass es teurer ist, neue Kunden für ein Streamingangebot zu finden, als Bestandskunden zu halten. Gleichzeitig hat der Streamingmarkt ein sehr hohes Kündigungsrisiko für seine Kunden. Deshalb müssen Streaminganbieter herausfinden, welche Kunden loyal und zufrieden sind und welche Kunden kurz davor stehen, ihr Abo zu kündigen. Ein Indikator kann sein, dass ein Abonnent Streamingangebote nicht mehr regelmäßig nutzt. Dem gilt es gezielt entgegenzuwirken, zum Beispiel durch ein günstigeres, werbefinanziertes Paket.

Welche Streamingdienste haben ein hohes Kündigungsrisiko, welche geringere? 

In der Studie haben wir untersucht, wie hoch das Risiko ist, dass Abonnenten innerhalb der nächsten zwölf Monate ein Streamingabo kündigen. Im Schnitt über alle Anbieter sind 30 Prozent der Nutzer bereit, im nächsten Jahr ein Abo zu kündigen. Beim Sky-Streamingangebot WOW und bei DAZN ist das Kündigungsrisiko eher höher. Dagegen haben Anbieter wie Disney, Netflix oder Amazon Prime ein geringeres Kündigungsrisiko. Warum? Viele Kunden haben Amazon nur abonniert, weil das Streamen mit Vorteilen für den kostenlosem Versand von Paketen kombiniert ist. Netflix ist als Platzhirsch des Streamingmarktes gesetzt. Und Disney hat sich als neuer Spielfilm-Anbieter erfolgreich im Markt positioniert.

Wichtige Zielgruppe für Streaming-Anbieter – die 18-39-Jährigen ©Simon-Kucher

Steigt die Werbe-Attraktivität von Streaming-Plattformen auf ein ähnlich hohes Volumen wie beim werbefinanzierten Fernsehen an?

Entscheidend ist, welchen Ansatz ein Streaminganbieter verfolgt. Auf der einen Seite gibt es Kunden, die eine geringe Zahlungsbereitschaft für Abos haben, aber Werbung akzeptieren. Für diese Nutzer können Streaminginhalte im moderaten Rahmen von Werbung unterbrochen werden. Auf der anderen Seite gibt es Nutzer, die eine hohe Zahlungsbereitschaft für werbefreie Angebote haben. Der Streaminganbieter muss diesen Nutzern ein werbefreies Angebot anbieten, das den Verzicht von Werbung durch einen höheren Abopreis kompensiert. In der digitalen Welt haben Werbekunden die Möglichkeit, Nutzer gezielt mit Werbung anzusprechen. Werbung, die thematisch mit den Interessen des Nutzers korrespondiert, ist unterhaltsamer. Ein Nutzer, der gerne joggt, fühlt sich eher angesprochen, wenn ein Werbespot für eine Laufuhr das Programm unterbricht.

Welche Rolle spielen klassische Rundfunkunternehmen wie ARD, ZDF, RTL und ProSiebenSat.1 Media für den zukünftigen Streamingmarkt?

Im Rundfunkbereich haben öffentlich-rechtlichen Sender eine Art Hygiene-Funktion. Öffentlich-rechtliche Inhalte müssen online verfügbar sein, da lineares Fernsehen bei jüngeren Zielgruppen eine abnehmende Rolle spielt. Auch um die Rundfunkgebühren zu rechtfertigen, müssen alle Zielgruppen mit Online-Angeboten bedient werden. Auch das Privatfernsehen verlängert lineare Inhalte auf digitale Plattformen. Beispielsweise können bestimmte Sendungen als gebührenpflichtige Previews oder in einer höheren Auflösung online verfügbar sein. Alle Player haben ihre Berichtigung im Markt, ohne Mediathek kommt heute kein Fernsehsender mehr aus. 

Zielen auch Telekommunikationsfirmen wie Deutsche Telekom, Telefónica oder Vodafone auf die Generation ‘Streaming‘?

Telekommunikationsfirmen sind Vehikel, um Streaminganbieter auf die Bildschirme zu bringen. Aus Sicht der Deutschen Telekom könnte ein Streamingpartner wie Netflix helfen, neue Kunden für das eigene Telekom-Paket zu gewinnen. Wenn Telekommunikationsunternehmen selbst zum Streamer werden, erweitern sie ihr Geschäftsmodell, was mit einem finanziellen Risiko verbunden sein kann. 


Lisa Jäger ist Partnerin und Global Head of Technology, Media & Telco bei der globalen Strategieberatung Simon-Kucher. Zu ihren Kunden gehören TV- und Radiosender, Verlage sowie Online-Plattformen und Werbevermarkter. Als Expertin der digitalen Transformation ist sie am 24. April 2024 Speakern im Panel „Quo vadis, Streaming?“ beim #Medientage München Special „Future Video 2024“. Die “Streaming Study 2023” kann heruntergeladen werden unter: https://www.simon-kucher.com/de/insights/streaming-studie-so-streamt-deutschland.

Das Interview mit Lisa Jäger erschien erstmals in der Ausgabe 1.2024 von mebulive am 15. April.

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