Eine tolle Erfindung

Just zum zehnjährigen Jubiläum der Einführung von Hybrid Broadcast Broadband TV, HbbTV, in Deutschland fand in Partnerschaft mit der Deutschen TV-Plattform vom 14. bis 15. November das siebte Symposium der weltweit operierenden HbbTV Association statt. Mit über 300 Teilnehmern aus 27 Ländern erreichte das englischsprachige Symposium 2018 in Berlin hinsichtlich Besuchern und Referenten Rekordzahlen. Heißt das auch, dass sich HbbTV doch noch als eine Erfolgsstory für das TV-Business entwickelt hat?

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Eine tolle Erfindung

Auf Deutsch ausgesprochen ist HbbTV ein Zungenbrecher und als „Brand“, um TV-Konsumenten zu begeistern, ungeeignet. Auf Englisch klingt das Kürzel für die Technologie, die bei Knopfdruck auf der TV-Fernsehbedienung das lineare Programm mit der interaktiven Internet-Welt via OTT verbindet, schon schmeichelhafter. Aber das ist salopp gesagt „wurscht“. Denn der Erfolg der Technologie hängt von der Akzeptanz seitens der Konsumenten ab, ob sie im Angebot einen Profit für sich entdecken. Bei HDTV war und ist es wie bei UHD oder 4K die überragende Bildqualität. Bei Video- bzw. Teletext als Vorgänger von HbbTV in der analogen Fernsehwelt waren und sind es auch heute noch die prägnant-kurzen aktuellen Informationen, für die sich Konsumenten zusätzlich zum herkömmlichen Fernsehschauen über das TV-Gerät schnell und eher beiläufig auf Knopfdruck interessieren.

Was ist nun für TV-Gucker an HbbTV persönlich nutzbringend oder unterhaltsam, insbesondere auch im Vergleich zu dem, was ihnen Broadcaster ohnehin schon als Apps – wie zum Beispiel ihre Mediatheken – über das moderne SmartTV-Gerät bieten? Man weiß es nicht genau. Generalisierte Forschungsergebnisse liegen dazu jedenfalls noch nicht vor. Sowieso ist nur den wenigsten Mediennutzern Begriff und Funktion von „HbbTV“, die technisch raffiniert im Rundfunksignal eingebaut ist, bekannt. Für Nutzer ist allein der Bedienkomfort wichtig. Sie folgen, wie sie es in der digitalen Welt gelernt haben, einer vorgegebenen Navigation, die eben mit dem Druck auf dem roten Knopf der Fernsehbedienung startet – und dann u.a. auch zu der Mediathek eines TV-Senders weiterleitet. Dafür wird der offene Standard von HbbTV stetig optimiert und ist jetzt über 1.0 und 1.5 bei Version 2.0 gelandet, die unter anderem Tools auch für eine Verlinkung zu UHD/HDR-Programmen und zum Second Screen als Bedienalternative zur TV-Fernbedienung erlaubt.

Ziel der HbbTV Association ist, globale Vorgaben für den offenen Standard HbbTV unter Berücksichtigung bestehender Spezifikationen anderer Standards wie OIPF, CEA, DVB, MPEG-DASH und W3C stetig weiter zu entwickeln. So erhält der Nutzer, wenn es die Sender vorgesehen haben, die Möglichkeit auf Zusatzservices von einem linearen Programm aus zuzugreifen: auf Programmführer (EPG), die Mediatheken mit einer weiteren Auswahl an Programmen, spezielle persönliche Werbung und Einkaufstipps, den Teletext, Spiele – zumal im Kinderprogramm –, Voting, Nutzung von sozialen Medien und vieles mehr, was Sender auf ihren Servern im Netz vorhalten. Um all das seitens Broadcaster relativ einfach via HbbTV auf den TV-Bildschirm zu bringen, werden Toolkits benötigt wie etwa das im Rahmen eines EU-Projekts entwickelte MPAT (Multiplatform Application Toolkit).

Große Herausforderungen

Aktuell, so betonte Vincent Grivet, Vorsitzender der HbbTV Association, in seiner Eröffnungsrede, stehe die TV-Branche „vor großen Herausforderungen“ und müsse sich anpassen, „indem sie OTT als Ergänzung und Bereicherung der traditionellen Rundfunkangebote annimmt“. Denn HbbTV als Weg, um OTT in die klassische TV-Welt einzubinden, würde helfen „das Rundfunkgeschäft auszubauen“. Was genau ist gemeint?

Es geht bei der technischen Weiterentwicklung nicht zuvorderst um potentielle Interessen der Nutzer, sondern um strategische Geschäftsziele der Broadcaster. Hauptintention dabei ist die „Personalisierung des Fernsehens“, insbesondere im Sinne des sogenannten „Adressable TV“ oder „Targeting Advertising“. Das wird von kommerziellen TV-Sendern für die Platzierung von individueller und zielgruppenspezifischer TV-Werbung angestrebt und schon seit längerer Zeit größeren Werbekunden angeboten. Das Tolle aus der Sicht der kommerziellen Sender daran ist, dass sie die in der Online-Welt unerreichbare nationale Reichweite von TV mit individualisierter oder regionalisierter TV-Werbung verbinden können. Und es sind gerade in Deutschland schon einige Adressable TV-Kampagnen realisiert worden. Inwieweit Nutzer davon begeistert sind, ist zumindest öffentlich unbekannt.

Werbung aus dem Internet heraus ist ARD/ZDF nicht erlaubt. Aber auch öffentlich-rechtlich möchte man HbbTV in Deutschland als Marketing-Instrument für die Kundenbindung einsetzen. Man versucht TV-Konsumenten nach dem Motto, ‚wenn Ihnen das gesehene Programm XY gefallen hat, könnte ihnen auch das Programm XZ gefallen‘, im eigenen Programm zu halten. Zum Beispiel kann man via HbbTV nach dem „Tatort“ via HbbTV auch noch einen älteren „Tatort“ oder die Vorschau auf den nächsten oder Hintergrundinformationen zur Produktion erhalten.

Als HbbTV vor rund zehn Jahren in Deutschland eingeführt wurde, gab es zuallererst industrie- und medienpolitische Konflikte. Die Broadcaster, also TV-Sender, hatten sich von der im TV-Gerät eingebundenen HbbTV-Funktion eine moderne digitale Ergänzung im Sinne eines multimedial gestaltbaren Teletextes erhofft, den sie ganz nach ihren eigenen Geschäfts- und Programmierungsphilosophien aus ihren Servern im Internet heraus bestücken könnten – ohne auf dem Big Screen mit den Internetgiganten in Konkurrenz treten zu müssen. Man träumte von einer modernen interaktiven Fernsehwelt, die man im Gegensatz zur Computerwelt allein im Griff haben könnte. Doch TV-Gerätehersteller witterten für sich mit den neuen, ans Internet anschließbaren SmartTV-Geräten, ein neues Geschäft. Wie damals auch Apple. Sie realisierten nicht nur HbbTV, sondern auch die Möglichkeit über den TV-Bildschirm – wie es schon beim Smartphone üblich war – verschiedenste Apps anzubieten, um im Gegenzug von den einzelnen Anbietern Lizenzgebühren zu kassieren. Etwa von YouTube, Ebay, Maxdome oder Wetter.com – heute auch von Netflix, Amazon Video Prime und allen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Sendern, die eigene TV-Apps zum Beispiel für ihre Mediatheken entwickelt haben, mit denen sie die Fernsehzuschauer über den Big Screen auf ihre im Internet gespeicherten Inhalte führen.

Als damals die ersten SmartTV-Geräte ausgeliefert wurden, stellte sich heraus, dass die Geräte zwar mit der HbbTV-Funktion technisch ausgerüstet–, aber die wenigsten von Werk aus für den sofortigen Betrieb aktiviert worden waren. Diesen Makel haben die Gerätehersteller mittlerweile weitgehend ausgebügelt. Seitdem berichten kommerzielle und öffentlich-rechtliche TV-Sender unisono, dass der rote Knopf auf der Fernbedienung immer häufiger genutzt werden würde, wodurch auch die Nutzungshäufigkeit der Mediatheken steigt.

Aber die digitale TV-Welt ist mittlerweile insbesondere durch die Apps von VoD-Anbietern wie Netflix noch einmal ganz anders aufgemischt. Damit ist wahr geworden, wovor sowohl die öffentlich-rechtlichen wie privaten TV-Sender in Deutschland von Anfang an bei Einführung der mit Apps aus dem Internet bestückten SmartTV-Geräte warnten: Es ist medienpolitisch zu einer ungleichen Behandlung von global agierenden Internetgiganten und nationalen Broadcastern auf dem TV-Bildschirm gekommen. Während sich deutsche TV-Sender an den strengeren Regularien des Rundfunkstaatsvertrags halten müssen, können globale Anbieter aus dem Internet wie eben YouTube, Netflix, Amazon und andere mehr oder weniger unreguliert ihre Geschäftsinteressen verfolgen – ohne, dass es eine rechtliche Behörde gibt, die diesen neuartigen Wettbewerb mit nationalen Regulierungs-Standards unter Kontrolle hätte. Die globalen Mitwettbewerber aus dem Internet schert das nicht. Sie nutzen auch keine teure Broadcastübertragung wie über Satellit oder DVB-T2, sondern eben nur die OTT-Möglichkeiten.

Von wie vielen TV-Konsumenten wie oft welche durch HbbTV möglich gemachten Zusatzservices abgerufen werden, bleibt im Dunkeln. Das wird nur einzeln von den Sendern ermittelt. Daten werden heute als Betriebsgeheimnis behandelt, weil man diese Kostbarkeit nicht mit anderen teilen möchte. So wie übrigens auch beispielsweise Netflix nicht verrät, über wie viele Kunden man national und weltweit verfügt. Fakt ist allerdings laut GfK Retail & Technology mit Stand Mai 2018, dass der Anteil der Smart-TVs auf 46 Prozent der 38,7 Mio. TV-Haushalte in Deutschland angestiegen ist, wovon 61 Prozent mit dem Internet verbunden sind und die meisten davon sowohl einen Zugriff auf die Apps als auch, allerdings weniger, auf HbbTV haben. Konkreter machte ProSiebenSat.1 im letzten Sommer publik, man bediene rund drei Millionen HbbTV-Nutzer monatlich. Die potentielle Reichweite liege bei zwölf Millionen Zuschauern. Was ja keine schlechte Ausgangslage für HbbTV wäre!

Im Vergleich zu HbbTV wurde die Vorgängerfunktion, der Teletext, in Deutschland in den vergangenen Jahren durch repräsentative Befragungen relativ genau gemessen. Laut rbb, der für die ARD in Sachen Teletext und HbbTV federführend ist, nutzen auch heute noch zehn Millionen Zuschauer den Teletext. Jeden Tag! Damit ist aber der Höhepunkt aus dem Jahr 2006, als Teletext noch von 17 Millionen Zuschauern täglich genutzt wurde, weit unterschritten. Tendenziell gehe die Nutzung des klassischen Teletexts zurück, wohingegen die HbbTV-Nutzung teils beachtlich ansteige. Konsequenterweise bietet der rbb in Berlin-Brandenburg den Teletext bereits seit acht Jahren auch in HbbTV an und liegt monatlich damit mittlerweile bei 2,6 Millionen Seitenabrufen (Quelle: IVW/InfOnline). Aufbauend auf diesen Erfolg hat der rbb für die ARD seit Ende letzten Jahres den Teletext speziell für die HbbTV-Nutzung in Design, Struktur und Navigation modernisiert. Geboten werden damit Programminformationen, Nachrichten und Sportergebnisse bis hinunter zu regionalen Ligen, jede Menge Serviceinformationen zu Verkehr, Kultur und regionalen Veranstaltungen. Darüber hinaus hat das beim rbb angesiedelte ARD Play-Out-Center einen besonderen HbbTV-Service entwickelt, der prompt beim Symposium in der Kategorie „Best Technology Innovation“ mit dem HbbTV Award 2018 ausgezeichnet wurde. Es handelt sich um eine Livestream-App mit einem Gebärdendolmetscher, der seit 2017 regelmäßig für verschiedene Sendungen, darunter „Hart, aber fair“ und „Anne Will“, eingesetzt wird.

HbbTV verstärkt Mediathek-Nutzung

Beim ZDF wiederum hat HbbTV zu einer häufigeren Nutzung der Mediathek geführt, in der die ZDF-Senderfamilie gebündelt ist. Wie überhaupt Broadcast-Vertreter aus beispielsweise Spanien, Frankreich oder Australien HbbTV für eine wichtige Funktion halten, um sich im zunehmenden Wettbewerb durch globale VoD-Anbieter (Netflix & Co.) bei steigender On-Demand-Nutzung behaupten zu können. Tatsächlich stellen die „offenen Spezifikationen“ von HbbTV sicher, dass Plattformen wie Mediatheken oder VoD-Kooperationen von Anfang an potentiell ein Maximum an Smart-TVs und Set-Top-Boxen im Markt erreichen können. Um das möglich zu machen hat die HbbTV Association 2017 mit der OpApp (Operator Appliccation) eine neue Spezifikation für HbbTV entwickelt, von der jetzt aber auch andere Plattformbetreiber profitieren können. Wie beispielsweise auch der Internetgigant Google/YouTube, der 2018 Mitglied der HbbTV-Association geworden ist. Der Google-Delegierte referierte auf dem Symposium, dass HbbTV „genial“ sei, sich ein neuer „Milliarden-Markt“ für Werbung auftun werde. Jürgen Sewczyk, der bei der Deutschen TV-Plattform die Arbeitsgruppe Smart Media leitet, wozu auch die nationale Spezifizierung von HbbTV gehört, fasst die Situation zusammen: Es gebe für Broadcaster „zwei Wege“, um sich auch mit ihren Online-Angeboten auf den SmartTV-Geräten zu präsentieren: „Entweder sie programmieren sich eine App. Dann müssen die Broadcaster einen Vertrag mit den Endgeräteherstellern abschließen. Oder: Der Broadcaster holt den Zuschauer via HbbTV in sein Online-Angebot, dann wird die HbbTV-URL im Broadcast-Signal mit transportiert und über das TV-Gerät ausgewertet“. Nur im zweiten Fall sei der Broadcaster „Herr seines eigenen Geschehens so wie beim Teletext“. Sowieso sei HbbTV „die Weiterentwicklung des Teletextes“.

Derweil mokiert das Bundesamt für Sicherheit der Informationstechnik in Deutschland, für HbbTV-Nutzer bestehe noch stärker als im reinen Online-Bereich die Gefahr, über Datensammlung ausspioniert zu werden. Was allerdings Sewczyk vehement bestreitet: „Ich bin mir sicher, dass die Gefahr, die täglich am Handy, am Second Screen oder PC vorhanden ist, über ein Vielfaches höher ist als bei der HbbTV-Funktion“. Denn bei HbbTV würden „die Broadcaster die Hoheit für Inhalt und die Sicherheit haben und auch dafür bürgen“.

Für Sewczyk ist HbbTV ganz klar „eine Erfolgsstory“. Es gebe „keine andere Fernsehtechnik, die sich schneller verbreitet hätte“. Der Teletext habe lange 30 Jahre gebraucht, um einen „relevanten Markt“ aufzubauen: „HbbTV ist für’s Fernsehen eine tolle Erfindung“.

Erika Butzek

01.04.2019

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