TV-Gerät wird Telecomputer

Jetzt ist es unwiderruflich so weit: Das TV-Gerät wandelt sich in einen persönlichen Unterhaltungs- und Kommunikations- computer mit Internetanschluss, den jeder Konsument individuell nutzen kann: in das so genannte Smart-TV. Diesen Haupttrend der diesjährigen IFA hat ihr Veranstalter, die Gesellschaft für Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik (GFU) bereits Wochen vor der offiziellen IFA-Eröffnung am 11. Juli 2012 auf einem speziellen Event im Roten Rathaus in Berlin verkündet. Ziel der Gerätehersteller ist, unter Umgehung der rundfunkrechtlichen Regelungen in das Geschäft mit Inhalten einzusteigen. Was den TV-Sendern natürlich nicht gefällt. Oder doch ein bisschen?

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TV-Gerät wird Telecomputer

Was die großen Philosophen von Hegel bis Marx schon immer wussten: Die Welt besteht aus Widersprüchen. Das gilt auch für die Unterhaltungselektronikbranche. Jene Branche, deren Wachstumslokomotive in der Vergangenheit insbesondere der weltweite Abverkauf von TV-Geräten war. Und obwohl die Bewegtbilder des Fernsehens mittlerweile über verschiedenste mobile und stationäre Telecomputer abgerufen werden können, boomt der Absatz von TV-Geräten in Form von Flachbildschirmen weiterhin. Sie sind bekanntlich seit spätestens 2009 hybrid, bieten nicht nur schöne hochaufgelöste Bilder, sondern gleichzeitig den Zugang in die Internet-Welt an.

Bis Ende 2012, so prognostizierte der Aufsichtsratsvorsitzende der Gesellschaft für Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik (gfu), Rainer Hecker, im Roten Rathaus in Berlin, erwarte man mit mehr als zehn Millionen verkauften Geräten in Deutschland einen neuen Absatzrekord. Doch so richtig glücklich sei man damit nicht, schränkte Hecker anlässlich der gfu-Veranstaltung „Insights & Trends – die Zukunft des Fernsehens ist smart“ ein. Weil sich die Unterhaltungselektronikhersteller im Wettbewerb mit einer „aggressiven Preispolitik“ gegenseitig angreifen, falle die Gewinnmarge immer niedriger aus. Es bleibe kaum Rendite übrig. Deshalb so Hecker wolle die Unterhaltungselektronikbranche jetzt „weg vom Boxen verkaufen“. Nach dem Vorbild von Apple-Visionär Steve Jobs, der vor ziemlich genau fünf Jahren die Smartphones auf den Markt gebracht hatte und damit weltweit einen Boom ausgelöst hat, wolle man nun SmartTV puschen, referierte Hecker. Allerdings ließ er weitgehend im Dunkeln, mit welchen neuen Geschäftsmodellen „die neuen Verdienstmöglichkeiten“, die er im SmartTV-Markt sieht, denn nun angegangen werden sollen. Vielleicht wird es auf der diesjährigen IFA verraten. Man kann es sich vorab aber auch selber, wie der VPRT-Präsident Jürgen Doetz, der auf dem Veranstaltungspodium anwesend war, zusammen reimen. So wie Apple und mittlerweile auch der Unterhaltungselektronik-Hersteller Samsung als stärkster Apple-Konkurrent im Smartphone-Markt will auch die gesamte Unterhaltungselektronikbranche als so genannter Plattformanbieter via Apps neuartige Inhalte in Portalen anbieten – und damit künftig selbstredend Geld verdienen.

Damit sind die klassischen TV-Sender und die TV-Gerätehersteller, die sich zuletzt bei der Einführung von HDTV noch als Partner mit gemeinsamen Interessen verhielten, jetzt Konkurrenten im Geschäft mit Inhalten geworden.

Wie bereits in der März-Ausgabe von MEDIEN BULLETIN („Total hybrid“) berichtet, gibt es rund um SmartTV und die Verbindung von Fernsehen und Internet zwei gänzlich verschiedene Philosophien. Während die Unterhaltungselektronikhersteller mit SmartTV insbesondere das Ziel verfolgen, App-Portale als eigene Inhalte-Plattformen anzubieten, wollen die großen TV-Sender bei der Verbindung von TV und Internet vor allem den Standard HbbTV durchgesetzt sehen. Nur mit HbbTV kann es den Sendern gelingen, die Zuschauer in ihren eigenen Servern zu halten, wenn sie sich beim Konsum eines speziellen Senderprogramms entscheiden, mittels der HbbTV-Funktion („Roter Knopf“) auf der Fernbedienung in weitere, im Internet vorgehaltene, nicht-lineare Programmangebote des Senders einzusteigen, den sie gerade schauen. Aber auch hier gibt es Widersprüche.

Tatsächlich sind nämlich spezielle Internet-Angebote wie zum Beispiel die Tagesschau-App, die ZDF-Mediathek oder das VoD-Angebot „Maxdome“ der ProSiebenSat.1-Gruppe (vergl. Mai-Ausgabe MEDIEN BULLETIN) auch in App-Portalen der Unterhaltungselektronik-Hersteller eingebunden. Da stehen sie beispielsweise neben Apps wie „Bild“, „Focus“, „Kicker“, „Mercedes-Benz TV“, „ebay“, „yahoo“, neuen Musiksender-Ideen wie „QTom“ oder dem „Berliner Philharmoniker-TV“, „MySpass.de“, „Berlin Fashion TV“, „Sonnenklar.tv“ oder „Sportdigital.tv“. Mit Abstand am meisten, zu rund 50 Prozent, von all diesen Apps wird Google’s Video-Clip-Angebot „YouTube“ von den SmartTV-Nutzern abgerufen. Das ist Ergebnis aller SmartTV-Studien.

Aber auch die ZDF-Mediathek ist mit 16 Prozent aller Abrufe sehr beliebt, wie der Produktionsdirektor des ZDF, Dr. Andreas Bereczky berichtete. Obwohl laut Jürgen Sewczyk, Leiter der Arbeitsgruppe SmartTV der Deutschen TV-Plattform, mittlerweile nahezu alle TV-Gerätehersteller neben Ihren App-Portalen auch den Standard HbbTV in den SmartTV-Geräten installiert haben, werden die HbbTV-Angebote des ZDF, die ja auch als Online-Version im Internet zur Verfügung stehen, „nur zu zwei Prozent“ tatsächlich via HbbTV abgerufen. „Etwa 98 Prozent“ der Abrufe von ZDF-Mediathek und Heute journal plus erfolge hingegen „von klassischen PCs, Notebooks und von mobilen Geräten wie Tablets und Smartphones“, erläutert Bereczky auf Anfrage. Man werde allerdings die Nutzung von HbbTV-Geräten durch weitere neue Dienste wie etwa zur Olympiade ankurbeln, zeigt er sich optimistisch.

Anders als ARD, ZDF und die ProSiebenSat.1-Gruppe hat sich die Mediengruppe RTL Deutschland für eine konsequente Abstinenz in den App-Portalen der Hersteller entschieden. Chefin Anke Schäferkordt hat strikt angeordnet, dass der Empfang interaktiver Inhalte der Gruppe wie etwa „RTL digitaltext“, „Clipfish“ oder „RTL NOW“ nur von solchen SmartTVs oder Set-Top-Boxen erlaubt sind, „die erstens dem HbbTV-Standard entsprechen und zweitens sicherstellen, dass die Inhalte nicht verändert oder überblendet und Werbung nicht durch Überspringen beziehungsweise Vorspulen umgangen werden kann“.

Wem gehört der Bildschirm?

Für VPRT-Präsident Doetz handelt es sich bei dieser Angelegenheit um ein medienpolitisches und ein wirtschaftliches Problem. Zum einen machte er abermals auf die Tatsache aufmerksam, dass sich auf den hybriden TV-Geräten, die ins Internet verlinken, zwei unterschiedliche Regulierungen für Inhalte-Anbieter gelten. Während TV-Sender stark durch den Rundfunkstaatsvertrag reguliert werden, insbesondere auch in Bezug auf ihre Werbemöglichkeiten, gelten für alle anderen Inhalte-Anbieter, die aus dem Internet kommen, lediglich das Telemediengesetz, das weder Richtlinien für Werbung noch für Programmpflichten vorgibt. Wirtschaftlich befürchtet Doetz, dass die Gerätehersteller in Zukunft ein „parasitäres Geschäftsmodell“ verfolgen könnten, indem sie eigene Geschäfte auf Kosten der TV-Veranstalter machen wollten. Auch das Modell SmartTV basiere letztlich auf TV-Programme und deren Attraktivität für Konsumenten. Er forderte die Geräteindustrie auf, gemeinsame Wege mit den Sendern zu gehen und HbbTV weiter zu verfolgen. Das Problem, um das es geht, brachte Bereczky mit einer einfachen Frage auf den Punkt: „Wem gehört der Bildschirm?“ Man mag hinzufügen: den Apps oder den TV-Sendern? Beispielsweise ist es ja mit den SmartTVs möglich, das TV-Programm nur als kleines Bild in einer Ecke nebenbei laufen zu lassen, während man sich gleichzeitig ein ganz anderes App aus dem Internet einschließlich Werbung auf den großen Bildschirm holt. Der große Flachbildschirm kann zwei Screens in einem leisten. Da muss man nicht mehr mit dem Smartphone als „Second Screen“ vor dem Fernsehen sitzen, – oder nur, um es mit dem entsprechenden App als TV-Fernbedienung einzusetzen.

Ein weiterer Widerspruch: Obwohl Privatfernsehen-Lobbyist Doetz seit Jahren von der Politik weniger Regulierung fordert, hat er nun plötzlich angekündigt, von der Politik selber Regulierung zu fordern, sollten die Gerätehersteller tatsächlich ein parasitäres Geschäftsmodell verfolgen. Und Doetz hat sogar eingeräumt, dass er die regulierte Rundfunkwelt der unregulierten App-Welt vorzöge. Es sind jetzt die Geräte-Hersteller, die weniger Regulierung fordern. So bleibt alles in der Waage.

Wenn auch nicht unbedingt Widersprüche, aber doch Uneinigkeit ist in den vielen Studien zum Nutzungsverhalten von SmartTVs zu registrieren.

Nur beispielsweise: Laut der jüngsten ZVEI/GFK-Studie, die anlässlich der Veranstaltung vorgestellt wurde, sei bereits in jedem fünften deutschen TV-Haushalt ein internetfähiges TV-Gerät vorhanden, wobei 59 Prozent dieser SmartTV-Geräte auch bereits tatsächlich an das Internet angeschlossen seien und rege von den SmartTV-Besitzern genutzt werden würden. Hingegen stellte das ebenso renommierte internationale Forschungsunternehmen YouGov zwei Tage zuvor erste Ergebnisse seines vierteiligen „SmartTV-Tracker“ mit anderen Zahlen und Interpretation vor. Danach besitzt bislang nur jeder zehnte Deutsche ein SmartTV und die Geräte seien nur „zufällig“ unbewusst gekauft worden, ohne dass die Käufer etwas von den speziellen „Smart-Funktionen“ gewusst hätten. Für rund die Hälfte der Käufer, so YouGov in einer Pressemitteilung, waren beim Kauf von SmartTVs „die Kriterien Bildqualität und guter Funktionsumfang entscheidend“.

Warum die Ergebnisse der SmartTV-Nutzungsstudien unterschiedlich sind, könnte daran liegen, dass bislang gar nicht definiert worden ist, was SmartTV überhaupt ist. Das hat Bereczky als Problem erkannt und er forderte Jürgen Sewczyk, den Leiter der SmartTV-Arbeitsgruppe der Deutschen TV-Plattform, auf, doch mal eine HbbTV-Definition auf Wikipedia zu veröffentlichen. Es wäre sicher interessant zu verfolgen, wie sich diese Definition dann im Zuge der „Schwarmintelligenz-Bearbeitung“ verändert.

Alarmierend für TV-Gerätehersteller dürfte ein anderes Ergebnis der jüngsten ZVEI/GFK-Studie sein. Denn 77 Prozent der unter 25jährigen gaben in der repräsentativen Umfrage an, mobile PCs häufiger als den Fernseher zu nutzen. Dennoch: In allen Altersgruppen ist das TV-Gerät bis heute das „am häufigsten im Haushalt genutzte elektronische Gerät“ geblieben. Und erstaunlicherweise wird der alte, eigentlich grafisch unmoderne und hässliche Videotext von 80 Prozent der Befragten immer noch regelmäßig genutzt. Deshalb adelte ZVEI Vizepräsident Hans-Joachim Kamp den Videotext als „ältesten App“ und schlug vor, ihn mit HbbTV in „einen modern anmutenden HD-Teletext“ zu überführen. Womit er den TV-Sendern wohl die Hand reichen will.

Nicht nur TV-Gerätehersteller und TV-Sender basteln an Modellen, um personalisiertes Fernsehen möglich zu machen. Beispielsweise strebt die Axel Springer AG mit ihrem Technologieprodukt „Watchmi“ an, über eine TV-Programmführerfunktion mit Empfehlungsalgorithmen ein neues Geschäft mit Videowerbung aufzubauen. Auch der personalisierte Berliner Web-TV-Musiksender tape.tv will schon bald auf den großen Schirm drauf. Und dann gibt es etliche Startups in Berlin, etwa Tweek TV, die mit Social Media-Freundesempfehlungen á la Facebook hoffen, eine neue Art Fernsehen für die Internetgeneration zu etablieren.
Was in Zukunft durchschlagenden Erfolg haben wird, weiß niemand. „Wir stehen mit einem Bein in der Vergangenheit“, merkte Doetz an, „und mit dem anderen in der Zukunft“.
Erika Butzek
(MB 09/12)

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