Der Long Tail der Kinobranche

Bei den 61. Internationalen Filmfestspielen in Cannes zeichnete sich ab, wie sich die Strukturen des Marktes im Zuge der Digitalisierung wandeln. Während Integrators wie XDC, Kodak oder Arts Alliance Media um die Einführung des digitalen Kinos in Europa konkurrieren, wird in Brasilien ein Cinema-on-Demand-Projekt für Independent-Produktionen gestartet, das auf die aus Hollywood diktierten DCI-Normen verzichtet. Verschiedene Businessmodelle werden auch geprüft, um mit neuen Auswertungsformen wie Video-on-Demand oder Electronic-Sell-Thru zusätzliche Einnahmen zu generieren.

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Der Long Tail der Kinobranche

Auf dem Festival du Film in Cannes ist das digitale Kino bereits Realität. In diesem Jahr wurden in 18 Kinos in und rund um den Festivalpalais knapp 50 Spielfilme in digitaler Projektion vorgeführt, darunter der Eröffnungsfilm „Blindness“ sowie diverse Wettbewerbsbeiträge wie das preisgekrönte türkische Familiendrama „Three Monkeys“, das viereinhalbstündige Kino-Epos „Che“ über den kubanischen Revolutionshelden oder Wim Wenders jüngstes Roadmovie „Palermo Shooting“. Aber auch Woody Allens neue Beziehungskomödie „Vicky Cristina Barcelona“ und das rasante Animationsabenteuer „Kung Fu Panda“ wurden in gestochen scharfer 2 k-Auflösung auf der großen Leinwand präsentiert.

Als Partner für die rund 100 digitalen Filmvorführungen hat das Cannes Film Festival bereits zum vierten Mal den belgischen Serverhersteller XDC gewonnen, der neben seinen JPEG2000-fähigen Servern CineStore Solo G3 und Doremi DCP-2000 dafür die 2 k DLP Cinema-Projektoren von Christie einsetzte. In Europa gehört XDC zusammen mit Mitbewerbern wie Arts Alliance Media, Kodak oder Technicolor zu den so genannten Integrators, die um die digitale Umrüstung der europäischen Kinos konkurrieren. In Cannes verkündete XDC den Abschluss nicht-exklusiver Vereinbarungen über eine Virtual Print Fee (VPF) mit den Hollywoodstudios Warner Bros, Paramount, Fox und Disney. Die Virtual Print Fee, mit welcher der Kostenersparnis der Verleiher beim digitalen Kino Rechnung getragen wird, soll zur Finanzierung der digitalen Projektionssysteme aufgebracht werden. Bisher verfügen von den rund 8.000 Leinwänden in den 22 europäischen Ländern noch nicht einmal 1.000 Säle über digitale Projektionsanlagen. Neben den vier Hollywoodmajors will XDC in nächster Zeit weitere Abkommen mit Universal, Sony, aber auch europäischen Verleihfirmen besiegeln. Im nächsten Schritt muss XDC nicht nur das entsprechende Kapital sowie die erforderlichen Kredite erbringen, um den Roll-Out zu finanzieren, sondern auch die europäischen Kinobetreiber von diesem Modell überzeugen. Bisher verhalten sich die Kinobetreiber eher zurückhaltend, wenn es darum geht, sich die Kosten für die Digitalisierung mit den Verleihern zu teilen, weil sie um ihre Unabhängigkeit fürchten.

Businessmodelle für Kino-Digitalisierung
Die britische Firma Arts Alliance Media, die ebenfalls über mehrere VPF-Deals mit den großen Studios verfügt, konnte für dieses Modell bisher nur die französische Kinokette CRC Cinemas begeistern. Den Investitionsbedarf, um den gesamten Filmtheaterpark in Europa digital umzurüsten, beziffert Robert J. Mayson, Vice President Digital Motion Imaging Entertainment Imaging bei Kodak, auf nahezu eine Milliarde Dollar. „Pro Leinwand müssen für die Digitalisierung inklusive der Wartung und Software-Upgrades rund 100.000 Dollar gerechnet werden“, erläutert Mayson. Um sich als Integrator am Markt durchzusetzen, benötige eine Firma gute Produkte, entsprechende Verträge mit den Kinoketten, VPF-Deals mit den Studios sowie einen Finanzierungsplan, der einen Eigenanteil von 20 Prozent vorsehe. „Ohne dieses Eigenkapital werden die Banken nicht mitspielen.“

Von den weltweit 110.000 Erstaufführungskinos seien bisher erst 5.000 Säle mit digitalen Projektionsanlagen ausgestattet, die nur annähernd den Anforderungen der Digital Cinema Initiative (DCI) in Hollywood entsprächen. „Es gibt bislang noch kein Kino auf der Welt, das alle DCI-Auflagen komplett erfüllt“, so Mayson. „Das wird erst die nächste Generation von Projektoren und Servern leisten können.“
Um diese teure Technik mit den von Hollywood vorgegebenen DCI-Standards in ihren Häusern implementieren zu können, sind entsprechende Businessmodelle erarbeitet worden, bei denen die Finanzierung majoritär über die Virtual-Print-Fees der Hollywoodstudios erfolgt. „Wenn die Studios 80 Prozent der Filme stellen“, rechnet Mayson, „sind damit 80 Prozent des Contents durch die Finanzierung abgedeckt.“ In Deutschland wollen sich viele Kinobetreiber jedoch nicht auf derartige Businessmodelle einlassen.
Stattdessen hat die Branche ein eigenes Konzept entwickelt, bei dem neben den Verleihern die FFA und der Staat zur Hälfte an der Finanzierung der digitalen Projektionssysteme beteiligt sind. „Die Digitalisierung stellt eine neue Herausforderung für die Kinos dar“, erklärte Bernd Neumann, deutscher Staatsminister für Kultur und Medien in Cannes. „Die EU wird sich damit befassen müssen, ob das eine unzulässige Wettbewerbshilfe darstellt.“

Erstes Cinema-on-Demand-Projekt
Ein digitales Kino-Projekt, das komplett auf die Implementierung der DCI-Normen verzichtet, startet die brasilianische Firma Rain Network in diesem Frühsommer mit Moviemobz, das Cinema-on-Demand (CoD) bietet. „Wir möchten im Kino unabhängige Independent-Produktionen aus der ganzen Welt zeigen, die sich das Publikum selbst aussuchen kann“, erläutert Fabio Lima, Geschäftsführer von Moviemobz. Mit dieser Initiative wird in Brasilien das weltweit erste Cinema-on-Demand-Projekt gestartet. Daran nehmen insgesamt 57 Arthouse-Kinos in 20 Städten teil, die insgesamt über mehr als 150 Leinwände verfügen.
Getestet worden ist dieses ambitionierte Projekt bereits vier Jahre lang auf einer B2B-Plattform. Mit der Öffnung der Moviemobz-Plattform können sich künftig alle Konsumenten auf der Website anhand von Trailern, Ausschnitten, Fotos, Inhaltsangaben und Kritiken über das Filmangebot informieren, das derzeit 250 Kinofilme umfasst. „Jeden Monat kommen zehn aktuelle Independent-Filme hinzu“, verrät Lima. „Die Idee ist, dass sich die Kinofans in unserem Internetforum über bestimmte Filme austauschen, die sie gemeinsam im Kino sehen möchten.“ Auf die gezielte Nachfrage hin erfolgt die Programmierung der Titel in den jeweiligen Kinos.
Im Programmangebot bei Moviemobz befinden sich auch diverse europäische Arthouse-Titel, die in Südamerika bisher nicht ins Kino gekommen sind. „Von den meisten dieser Filme gibt es noch keine 2k-Master, deshalb führen wir sie in HD vor.“
Mit diesem Konzept folgt Moviemobz der „Long Tail“-Theorie, nach der ein Anbieter im Internet durch eine große Anzahl an Nischenprodukten Gewinn erzielen kann. Während die Kosten auf dem konventionellen Markt häufig zu hoch sind, um Nischenprodukte anzubieten, weil die Nachfrage in einem geographisch begrenzten Gebiet zu gering ist, besteht global hingegen ein enormes Nachfragepotenzial. „Mit Moviemobz bedienen wir den Long Tail im Kinobereich“, bekräftigt Lima.

Online-Auswertung löst DVD ab
„Das Kino ist immer noch die wichtigste Auswertungsstufe“, konstatiert Ted Shapiro, Senior Vice President der Motion Pictures Association (MPA) in Brüssel, die in Europa die Interessen der Hollywoodstudios vertritt. Auch auf dem Marché du Film (MIF) in Cannes, der mit mehr als 10.000 Teilnehmern aus über 100 Ländern den größten Filmmarkt der Welt darstellt, wird das Kerngeschäft nach wie vor mit dem Verkauf von Kinofilmlizenzen erzielt.
Allerdings kommt den weiteren Auswertungsarten wie Video, TV oder Internet eine wachsende wirtschaftliche Bedeutung zu. „Nur etwa drei von zehn Filmen spielen ihre Kosten an der Kinokasse wieder ein“, weiß Shapiro. Die Hälfte der Einnahmen im Filmbereich stammte heutzutage aus dem Home-Entertainment-Bereich. Doch angesichts neuer Internet-Dienste wie Video-on-Demand (VoD), Electronic-Sell-Thru oder Catch-Up-TV sind nach Einschätzung vieler Branchenexperten die Jahre der DVD bereits gezählt. „Gerade jugendliche Nutzer laden sich lieber Filme aus dem Netz herunter und gehen nicht mehr in die Videothek“, sagt Wigbert Moschall, Geschäftsführer des Berliner Weltvertriebs MDC International.
„Derzeit gibt es weltweit schon mehr als 900 Plattformen zum Download von Filmen und es werden täglich mehr“, weiß Thomas Mai, Producer bei der dänischen Produktionsfirma Zentropa, der seit einem Jahr die Online-Plattform Jaman.com mit Titeln aus der Zentropa-Library bestückt. Da dieses Filmportal von einem Inder in Los Angeles betrieben wird, der darauf überwiegend Bollywoodfilme anbietet, erschließt sich dadurch plötzlich eine ganz neue Klientel für die skandinavischen Arthouse-Produktionen. „Wir haben derzeit über 70 Filme im Netz, die in den meisten Ländern nie ins Kino gekommen sind“, berichtet Mai.

Der Online-Vertrieb eröffne daher für kleine Arthouse-Filme eine ganz neue Nische. Wichtig sei es dabei, auf möglichst vielen Plattformen präsent zu sein. Derzeit verhandelt Mai mit weiteren Online-Portalen wie Amazon und i-tunes über eine zusätzliche nicht-exklusive Auswertung. Dennoch glaubt der Produzent, dass die DVD aufgrund des Blu-ray-Formats noch weiterhin Bestand haben wird. „Es dauert noch eine Zeit lang, bis die DVD völlig vom Markt verschwindet“, versichert auch Ted Shapiro. „Die Firmen erkennen jedoch, dass es wichtig ist, den Konsumenten neue Service-Modelle über das Internet anzubieten, weil sie sich die Inhalte sonst aus illegalen Kanälen downloaden.“
In strategischer Hinsicht spiele Video-on-Demand daher eine wichtige Rolle. In den USA hat die Independent Film & Television Alliance (IFTA) deshalb neue Standardverträge entwickelt, in denen auch VoD enthalten ist. „Die Majors haben ihre eigenen Vertragsmodelle“, berichtet Shapiro. „Die Branche adaptiert und lizenziert diese neuen Dienste. Daher enthalten immer mehr Vertragsabschlüsse diese neuen Medien.“

Mit VoD kaum noch Geld zu verdienen
Allerdings werfen diese neuen Auswertungsarten auch zahlreiche Probleme hinsichtlich der Rechteklärung und der verschiedenen Businessmodelle auf. Bei der 22. Rechtskonferenz der International Chamber of Commerce (ICC) in Cannes ereiferten sich internationale Film- und Medienanwälte darüber, ob es beispielsweise eine zentrale Verwertungsgesellschaft geben sollte, welche die territorialen Auswertungsrechte für den Online-Bereich bündeln.
Auf der Video-on-Demand-Konferenz der Europäischen Informationsstelle wurde erklärt, dass die Branche gar keine multi-territoriale Vergabe der Rechte wünsche, da die Filme oftmals auf nationale Märkte zugeschnitten seien.

Viele Rechteinhaber befürchten sogar wirtschaftliche Schäden durch VoD, weil ihr Content eher der Piraterie zum Opfer fallen könne, wenn er erst einmal online stehe. Zudem legen die VoD-Anbieter nicht offen, welche Lizenzpreise für die Online-Auswertung gezahlt werden. „Es gibt dafür keine Daumenregel, denn der Preis hängt ganz vom Wert des Produktes für die jeweilige Plattform ab“, sagt Michael Kühn von der ProSiebenSat.1 Media AG. Die Spannbreite betrage dabei zwischen 15 und 60 Prozent der DVD-Einkünfte. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser Markt sich trägt“, meint Moschall. Bisher werden jedoch nur sehr geringe Summen durch die VoD-Auswertung generiert.

„Es wird noch drei, vier Jahre dauern, bis die sinkenden Video- und TV-Erlöse durch neue Online-Dienste wie VoD kompensiert werden können“, schätzt Jerome Paillard, Leiter des Marché du Film. „Fest steht, dass der Markt sich durch die Digitalisierung im Umbruch befindet.“ Für Arthouse-Filme könne das eine Chance sein, neue Zuschauergruppen zu erschließen.

Wachsender Online-Werbekuchen
„Das Gute an VoD ist, dass dies nicht exklusiv ist und ein Film somit auf verschiedenen Plattformen angeboten werden kann“, bekräftigt Mai. Derzeit werden für VoD verschiedene Businessmodelle erprobt. „Es sind sogar werbefinanzierte Angebote denkbar, denn für die Online-Werbung werden weltweit inzwischen schon 69 Milliarden Dollar ausgegeben“, weiß der Produzent. „Doch das würde der Kino- und DVD-Auswertung schaden und damit im Endeffekt sogar die Refinanzierung von Filmen gefährden.“
Auch das Experiment des amerikanischen Filmemachers Steven Soderbergh, der vor zwei Jahren seinen Independentfilm „Bubble“ gemäß dem Day-and-Date-Modell der Majors nahezu zeitgleich im Kino und Pay-TV sowie auf DVD gestartet hat, ist nicht aufgegangen. Viele verärgerte Kinobetreiber setzten den Film gar nicht erst ein, und auch im Home-Entertainment-Bereich hat „Bubble“ nur geringe Umsätze erzielt.

Mehr Produktionen, weniger Einkäufer
„Durch die Digitalisierung ist die Anzahl der angebotenen Produktionen auf dem Markt stark angewachsen, während die Zahl der Einkäufer abgenommen hat“, interpretierte Ida Martins von Media Luna Entertainment mit kritischem Blick die aktuelle Marktentwicklung. Bei der Konferenz der Independent Film & Television Allianc in Cannes hätten sogar große Vertriebsfirmen mit Jahresumsätzen in der Größenordnung von 60 Millionen Dollar erklärt, dass sie um ihre Zukunft bangten. „Es gibt es immer weniger Wettbewerb zwischen den Einkäufern“, meint Martins. Durch den Verfall des Dollars werde der Lizenzerwerb von amerikanischen Filmen zwar tendenziell günstiger, aber trotzdem werde nicht mehr Produkt gekauft.

Die entsprechende Verwertbarkeit eines Films sowie der dafür geforderte Preis sind auch bei den Verleihern nach wie vor die entscheidenden Kriterien, um Filme für die Kinoauswertung zu akquirieren. „Für große Filme wird es auch in Zukunft Zwischenhändler geben, aber für kleinere Filme wird das nicht mehr unbedingt notwendig sein“, resümiert Jerome Paillard. „Insofern werden sich die Strukturen des Marktes ändern, doch das Kino wird auch weiterhin Bestand haben.“
Birgit Heidsiek (MB 06/08)

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