Raffinierte Lösung

Bereits vor Jahren sorgte die Wellenfeldsynthese für Furore. Ihre unglaublich realistische Raumklangwiedergabe begeisterte die Fachwelt. Doch wegen des enormen Installationsaufwands konnte sie sich bislang nicht im kommerziellen Bereich durchsetzen. Shure möchte dies mit einem neuen Ansatz ändern.

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Raffinierte Lösung

Im badischen Eppingen, nahe Heilbronn, hat die Shure Distribution GmbH unlängst mit dem Shure Atmosphea ein neues Beschallungssystem vorstellt, das gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT entwickelt wurde und die Wellenfeldsynthese auf überschaubare Dimensionen herunterbricht. Die Beteiligung des Fraunhofer Instituts an dem Produkt ist kein Zufall: Es forschte bereits Anfang der 2000er Jahre im Rahmen des EU-Projekts Carrouso an der Wellenfeldsynthese, die Tochterfirma Iosono GmbH vertreibt eines der ersten kommerziellen WFS-Systeme.

Die Wellenfeldsynthese begeisterte die Audiowelt bereits vor Jahren in Vorführungen, die oft auf Fachkongressen wie der Tonmeistertagung stattfanden. Das Verfahren bildet komplexe Schallfelder im Raum ab, reproduziert Schallereignisse an einer beliebigen Stelle im Raum. Der Hörer ortet die Klangquelle stets dort, selbst wenn er sich im Raum bewegt. Das vermag die herkömmliche Stereophonie nicht: Hier muss der Hörer eine fixe Position genau in der Mitte der Lautsprecher einnehmen – den Sweet Spot –, um alle Schallquellen exakt auf deren zugewiesenen Plätzen im Stereopanorama zu lokalisieren. Die Wellenfeldsynthese dagegen lässt eine Klangquelle nicht nur an einem definierten Ort im Raum erklingen, sondern kann sie auch auf vorgegeben Bahnen wandern lassen – für Theater und Opernhäuser eine ideale Beschallungstechnik. Doch bislang wurden nur wenige Systeme installiert, meist in Universitäten und Forschungseinrichtungen – der technische Aufwand war zu groß.

Entdeckt wurde das Prinzip der Wellenfeldsynthese vom niederländischen Physiker Christiaan Huygens. Er fand heraus, dass sich jede Wellenfront aus einzelnen Elementarwellen zusammensetzen lässt. Die Wellenfeldsynthese nutzt oft mehrere hundert Lautsprecher, aus deren Signalen sich die Wellenfront zusammenfügt. Meist werden Erreger an Paneelen montiert, um Räume optisch dezent beschallen zu können. Für eine perfekte Illusion wären theoretisch unendlich viele Lautsprecher nötig. In der Praxis werden je nach Raumgröße 80 bis hin zu mehreren tausend Erreger-Chassis eingesetzt. Je geringer der Abstand zwischen den Lautsprechern, desto näher kann der Hörer an die Wand herantreten, ohne dass die Illusion des Schallfelds zusammenbricht und er einen einzelnen Wandler heraushört. Jeder Lautsprecher muss mit einem genau berechneten Signal versorgt werden. Bis vor wenigen Jahren konnten nur mehrere miteinander vernetzte Computer diese Rechenleistung bewältigen.

Für Atmosphea liefert das Audionetzwerk Q-Sys des kalifornischen Endstufenherstellers QSC die notwendige Rechenleistung. Die sogenannten Audio-Cores sind das Herzstück von Q-Sys. In deren 19-Zoll-Gehäusen werkeln mehrere Intel-Multicore-Prozessoren. Das größte Modell der Q-Sys-Serie, der Core 4000, verarbeitet bis zu 512 Ein- und 512 Ausgangskanäle. Ein Signal benötigt maximal 2,5 Millisekunden, um von einem Eingang bis zu einem beliebigen Ausgang einer Installation zu gelangen. Das Audionetzwerk Q-LAN befördert sämtliche Audiosignale. Es verwendet ein eigenes, proprietäres Protokoll, setzt aber auf ein Standard-Gigabit-Ethernet auf. Daher lassen sich handelsübliche Netzwerk-Komponenten nutzen. Der Q-Sys-Core berechnet alle Signale für die Wellenfeldsynthese. Ein Computer dient zur Steuerung, er füttert das Q-Sys-Core mit den gewünschten Parametern.

Zur Präsentation des Atmosphea-Systems in Eppingen hatte Shure an der Stirnseite eines rund 150 qm großen Veranstaltungssaals eine Bühne aufgebaut und mehrere Lautsprecher an einer halb herabgelassenen Traverse montiert. Links und rechts hing je ein Lautsprecher-Array an der Traverse.

„Wir nutzen den Raum für verschiedene Veranstaltungen“, erklärte Torsten Haack, Director System Group bei Shure, den angereisten Journalisten. „Sie empfinden den Nachhall vermutlich als absolut natürlich, da er zur Raumgröße passt.“ Und wirklich, die leichten, feucht klingenden Reflektionen schienen die Abmessungen des Saals genau abzubilden. „Wir haben den Raum allerdings akustisch etwas behandelt.“ Dazu wurden an Decke und Wänden Absorber angebracht. „Tatsächlich haben wir den Raum stark gedämpft“, verrät Haack. „Denn wir nutzen ihn ebenso für Präsentationen und andere Sprachvorführungen, wie für Konzerte und Firmenfeiern.“ Haack: „Der Hall und damit der Raumeindruck, den Sie wahrnehmen, wird in Wirklichkeit von unserem Atmosphea-System erzeugt.“ Haack weiter: „In der Decke sind 20 Nierenmikrofone des Typs Shure „KSM 137“ eingelassen. Deren Signale leiten wir in das Atmosphea-System. Wir regeln jetzt einmal den Raumeffekt herunter“, meinte Haack und übergab an seinen Kollegen Clemens Clausen, der den Steuer-PC des Atmosphea-Systems bediente. Auf der grafischen Oberfläche der Atmosphea-Software konnte er sämtliche Parameter einstellen.

Clausen klickt mit seiner Maus und Haack fuhr fort: „Sie merken jetzt, dass der Raum in Wirklichkeit sehr trocken ist.“ Seine Stimme klang dabei plötzlich so prägnant und ohne jeden Nachklang, als stünde er in einer Sprecherkabine. In Anbetracht der Saalgröße haben die Akustiker ganze Arbeit geleistet. „Wir wollten eine gute Sprachverständlichkeit gewährleisten“, erklärte Haack, „außerdem ist es gerade der große Vorteil des Atmosphea-Systems, die Akustik in einem weiten Bereich selbst erzeugen und beeinflussen zu können.“ Eine trockene, gedämpfte Akustik sei die Voraussetzung, damit Atmosphea einen anderen Raumeindruck erwecken könne. Sonst würden sich die akustischen Reflektionen an Decke und Wänden mit den berechneten überlagern – ein verwaschener, unnatürlicher Effekt wäre die Folge. „Wir simulieren jetzt einmal eine andere Raumgröße.“ Clausen machte sich an der Software zu schaffen, und Haacks Stimme klang auf einmal verhallt, als stünde er in einer großen Arena.

Mit Atmosphea soll die Wellenfeldsynthese nun in Kongresshäuser, Theater oder Planetarien einziehen. Das System lässt sich individuell an die jeweiligen Bedürfnisse anpassen. Per Knopfdruck erzeugt es eine komplett virtuelle Raumakustik, Klangquellen lassen sich an einer beliebigen Position im Raum platzieren und auch bewegen. Für eine perfekte Illusion muss der Hörer jedoch vollständig von Lautsprechern umgeben sein.

„Wir haben rund 70 Lautsprecher in einem umlaufenden Ring an den Wänden eingelassen“, erklärte Haack die Beschallung des Mehrzwecksaals. „Die Lautsprecher haben einen Abstand von ungefähr 75 Zentimetern. An den Decken sind weitere 32 Lautsprecher montiert. Jeder Lautsprecher lässt sich einzeln ansteuern.“ Dies ist ein Prinzip der Wellenfeldsynthese: Bei ihr wird nicht eine der Lautsprecherzahl entsprechende Summe von Audiokanälen gespeichert, wie etwa bei 5.1- oder 7.1-Stereo. Die Signale werden ohne jede Raumsimulation aufgezeichnet. Erst das System berechnet den Raumeindruck nach den verfügbaren Lautsprechern. Dazu dienen komplexe Algorithmen.

„Wir verwenden hier hochwertige Zweiwege-Lautsprecher des Typs QSC „AD-S82H“ für den umlaufenden Ring. Sein Horn lässt sich für die horizontale Montage drehen, die Abstrahlcharakteristik dadurch entsprechend anpassen“, erläuterte Haack. In der Decke kämen die Lautsprecher QSC „AD-CI52ST“ zum Einsatz. „Atmosphea lässt sich mit bis zu 32 verschiedenen Signalen füttern“, erklärte Haack. „Denn das Gehirn kann bis zu 32 verschiedene Geräusche getrennt wahrnehmen.“

Kompositionen für Wellenfeldsynthese

Präsentiert wurden in Eppingen einige akustische Demonstrationen, die veranschaulichten, was gemeint ist. Eine Außen-Atmosphäre durchdringt den Raum, oben scheinen Vögel zu zwitschern, nicht näher definierbare Wildtiere knurren aus unterschiedlichen Richtungen. Auch an musikalischem Material mangelt es nicht. Einige Komponisten hätten Stücke eigens für die Wellenfeldsynthese geschrieben, meinte Haack. Ein Trommelgewitter bricht aus allen Richtungen herein. Das Klangfeld bleibt stabil, wenn man im Raum umhergeht. Erst wenn man nah an die Wand tritt, lassen sich einzelne Lautsprecher heraushören. Die Trommeln beginnen schließlich, um die Hörer herumzuwandern. Immer heftiger schwellen die Wirbel an, um schließlich in einem großen Finale zu münden. Auch die folgende Elektromusik streicht raffiniert die Stärken des Systems hervor. „Atmosphea lässt sich auch hervorragend für Sprecher nutzen“, fuhr Haack mit der Präsentation fort, das Mikrofon in der Hand. Clausen am Steuerrechner schob die Schallquelle – einen kleinen Punkt im Programmfenster – per Maus umher. Haack erklingt aus verschiedenen Richtungen. „So lässt sich der Standpunkt eines Sprechers auch akustisch exakt wiedergeben.“ Genau das leistet die herkömmliche Beschallungstechnik nicht. Schließlich sitzen die Zuhörer verteilt im Saal. Da die übliche Stereofonie mit Laufzeit- und Pegelunterschieden arbeitet, bestimmt stets die nächst gelegene Lautsprecherzeile, aus welcher Richtung der Hörer den Schall wahrnimmt. Haack ergänzt: „Die Schallquelle lässt sich auch außerhalb des Raums positionieren.“ Clausen zog das Pünktchen auf dem Computerschirm über die Ränder eines Quadrats hinaus, das die Abmessungen des Raums im Programmfenster vorgibt. Haacks Stimme klang nun anders, ein wenig leiser und indirekter, hinterlässt aber nicht genau den Raumeindruck, den man bei einer weit entfernten Stimme erwarten würde. „Wir haben noch lange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft“, entgegnete Clausen. Mit entsprechenden Algorithmen ließe sich jeder gewünschte Entfernungseindruck erzeugen.

Im Technikraum hinter der Bühne erläuterte Haack die Details des Audiosystems. Das Q-Sys lässt sich vollständig redundant auslegen. Fallen einzelne Bereiche des Netzwerks oder der Komponenten aus, läuft das System ohne Störung weiter. Dazu müssen alle Komponenten mehrfach vorhanden sein – das Core, die Netzwerkleitungen, die Ein- und Ausgangseinheiten sowie Ersatz-Endstufen, die bei einem Ausfall einspringen können. Durch die redundante Ausführung ist Q-Sys auch für Festinstallationen geeignet, die für Notfall-Durchsagen hohe Sicherheitsanforderungen erfüllen müssen. Die 19-Zoll-Racks in Shures Mehrzweckhalle war prall gefüllt mit Netzwerk-Switches, QSC-Endstufen und I/O-Einheiten. Es sei einmalig, meinte Haack, dass ein System zur Wellenfeldsynthese einen Teil der Rechenleistung eines Audio-Cores nutzte. Computer und Core würden dazu bis zu 2000 Befehle pro Sekunde austauschen – per Netzwerk. Mit überzeugenden Ergebnissen – Atmosphea sei eine raffinierte Lösung, um Q-Sys um die Wellenfeldsynthese zu bereichern.
Jan Fleischmann
(MB 02/13)

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