Entscheidender Trumpf

Als ProSieben am 1. Januar 1989 seinen Sendebetrieb aufnahm, saß Wolfgang Lanzenberger (56) am Regiepult. Es folgten zahlreiche Formatentwicklungen. später war der heutige Leiter Regie von der ProSiebenSat.1 Produktion für den Sendestart des DSF und von N24 regieverantwortlich. der studierte Kommunikationswissenschaftler, der auch als Hochschuldozent und Fachbuchautor tätig ist, veröffentlichte Ende 2015 sein neues Buch „Live-TV. Produzieren und senden in Echtzeit“ (UVK-Verlag). Sein selbstreflexives Credo: „Bilder müssen berühren. Bei allem, was ich als Regisseur tue, denke ich dabei zuerst an die Wirkung. Ich bin bei jeder Idee mein erster Zuschauer.“ Im Live-TV sieht er den Königsweg des Fernsehens.

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Entscheidender Trumpf

Herr Lanzenberger, was ist das Besondere am Live-Fernsehen? Keine andere Produktionsform vermittelt Inhalte so intensiv und so emotional wie Live-TV. In der Gunst der Zuschauer rangieren es ganz oben. Nirgendwo lässt sich TV direkter erleben, als wenn sich Millionen von Zuschauern zur gleichen Zeit versammeln und das Selbe tun. Live-TV erlebt immer dann seine Höhepunkte, wenn es um relevante Ereignisse oder um große Gefühle geht, es etwas zu gewinnen oder zu verlieren gibt.

In Ihrem Buch sagen Sie, die „beste Sendezeit“ sei „immer genau jetzt“. Wie meinen Sie das?

Man sollte die Wirkung von Live-TV nicht unterschätzen. Es vermag nicht nur eine soziale Teilhabe herzustellen, sondern auch Großartiges zu leisten. Live-TV kann nationenübergreifend verbindend wirken, wie wir es von „Public Viewings“ kennen. Auch Unterhaltungsprogramme können die globale Familie – symbolisch gesprochen – auf dem Sofa zusammenrücken lassen, Distanzen überbrücken und Verhalten zeitlich synchronisieren. Der „European Song Contest“ etwa, an dem fast 40 Länder teilnehmen, stiftet so etwas wie eine kollektive europäische Identität, wenn auch nur für die kurze Zeit der TV-Übertragung. Es gibt nicht viele Ereignisse, die Europa als gemeinsamen Kulturraum erfahrbar machen; besonders in Zeiten wie diesen.

Vor welchen Aufgaben stehen Fernsehmacher, wenn sie sich für eine Live-Sendung entscheiden?

TV-Journalisten, Gestalter und Techniker stehen immer wieder neu vor der Frage, wie sie Themen und Inhalte optimal auf den Bildschirm bringen können. Im Live-Modus fällt die Lösung oft schwieriger aus. Dort ist Schnelligkeit und spontanes Reagieren gefragt. Ob das Live-Vorhaben, wie geplant, tatsächlich gelingt, ist nämlich ungewiss. Live-Sendungen sind oft ein Abenteuer mit offenem Ausgang.

Das heißt: Live-TV ist viel unberechenbarer und risikobehafteter als Programme aus der Konserve?

So könnte man es formulieren. Bei einer Live-Produktion hat man nur eine Chance, keine zweite. Jedes Missgeschick, jeder Fehler geht live „on Air“. So gesehen ist Live-TV das riskantere Fernsehen. Die Unberechenbarkeit hat aber auch ihr Gutes: Live-TV ist Fernsehen mit Ecken und Kanten und dadurch viel authentischer. Der Zuschauer spürt diese Ehrlichkeit, er weiß die Echtheit des Moments zu schätzen. Und er liebt es, überrascht zu werden. Wenn wir uns an die großen Fernsehmomente erinnern, sind es hauptsächlich die großen Live-Bilder.

Ist live immer live – oder wird hier auch gemogelt?

Live und nicht-live sind zwei Paar Schuhe. Oft erleben die Fernsehzuschauer eine Mischung, die ihnen so gar nicht bewusst ist. Das hat auch praktische Gründe. Wenn beispielsweise ein Schaltgespräch vorproduziert wird, da der Gesprächspartner nur zu einer bestimmten Uhrzeit zur Verfügung steht. In der Sendung erfolgt dann der Hinweis, dass dieses Interview vor der Sendung aufgezeichnet wurde. Dieser verbale Zusatz ist fair und notwendig, denn es hätte eine redaktionelle Bearbeitung stattfinden können. Aber man darf den Zuschauer nie in die Irre führen. Es sprechen aber auch ganz andere, handfeste Gründe für Voraufzeichnungen: Bei Galileo etwa arbeiten wir mit teils aufwendigen, virtuellen Effekten, die man live nicht riskieren würde. Moderationen dazu zeichnen wir kurz vor der Sendung auf und wiederholen sie öfters, falls erforderlich. Die Galileo-Sendung ist dann allerdings in der Regel „real-live“.

Zählt „Live-on-tape“ überhaupt noch zum Live-TV?

Die live-nahe Produktionsweise wirkt wie live obwohl sich de facto eine Aufzeichnung dahinter verbirgt. Dieser Produktionsmodus hat sich zum Beispiel bei Show-Produktionen bewährt. Man lässt das Showprogramm 1:1 durchlaufen und schneidet hinterher ein perfektes Ergebnis in der Postproduktion zurecht. Dazu ist es notwendig, mit mehreren, sogenannten „abgesteckten Kameras“ zu arbeiten, um sich verschiedene Optionen im Schnitt offen zu halten. Auf diese Weise lassen sich einzelne Bilder austauschen oder zusätzliche Effekte integrieren. Effekt-Sounds zum Beispiel, um auf der Audioebene eine größere Emotionalität zu erzielen. Auch der Schnittrhythmus lässt sich variieren, um das Geschehene dramatischer erscheinen zu lassen. Oft wird auch in Überlänge produziert, um sich in der Postproduktion die Rosinen herauspicken zu können.

Live-on-tape-Produktionen sind als effizienter als Live-TV?

Durch gezielte dramaturgische Umstellungen kann man jedenfalls das Showgeschehen dichter, schneller, perfekter gestalten. Wenn die Musikshows in die Live-Phase wechseln, verlieren sie oft an Quote, während voraufgezeichnete Shows wahre Quotengaranten sind. Überspitzt ausgedrückt: „Pseudo-Live“ funktioniert manchmal besser als das tatsächliche Live.

Ist Live-TV, im Zuge der aktuellen politischen Geschehnisse, noch unberechenbarer geworden?

Diese Gefahr sehe ich nicht. Man sollte keine allzu große Angst vor möglichen Pannen haben. Die Live-Profis sind erfahren genug, um mit Entgleisungen aller Art umzugehen. Bei „Günther Jauch“ etwa randalierte jemand aus dem Publikum, so dass er von Sicherheitsleuten aus dem Studio gebracht werden musste. Günther Jauch fing das moderativ souverän so auf, indem er sagte, bei ihm werde keiner so einfach aus der Sendung geschmissen. Er ließ den Mann also wieder hereinbringen. Dies sind die Momente, in denen man als Zuschauer den Atem anhält und eine Gänsehaut bekommt. Die Quotenkurve schießt in solchen Situationen schon mal nach oben. Als TV-Macher wünscht man sich solche Dinge natürlich nicht.

Vor kurzem hat eine Kamera-Drohne bei einem Ski-Nachtrennen den Skifahrer Marcel Hirscher nur knapp verfehlt. Ein Einzelfall?

Dieser bedauerliche und Gott sei Dank glimpflich verlaufende Zwischenfall ist eine Ausnahme. Niemals würde man, der spektakulären Bilder wegen, die Sicherheit des Publikums aufs Spiel setzen. Es existieren klare Richtlinien und Vorschriften, dass beispielsweise Kameradrohnen nicht über Zuschauermengen fliegen dürfen. Auch die exakt definierten Mindestabstände, wie weit zum Beispiel eine Kamera von einem Abfahrtsläufer entfernt sein muss, sind vorgeschrieben.

Von der Zuverlässigkeit der Technik hängt im Live-Betrieb viel ab. Was sind Ihre Erfahrungen mit der Studio- und Regietechnik?

Die Systeme sind in der Regel stabil und erprobt. Natürlich gibt es Anpassungsprobleme, wenn ein System neu ist. Wenn sich eine Technologie etabliert hat, sorgen Back-up-Systeme für den Fall der Fälle. Man kann sich das wie in einem Flugzeug vorstellen, bei dem alles mehrfach abgesichert ist. Wenn also ein Server, der Beiträge zuspielt, ausfällt, existiert ein Back-up Server, auf den man wechseln kann. Oder man bedient sich ganz einfacher Mittel: Bei unseren Studioproduktionen haben wir stets einen Stand-by-Beitrag in der MAZ vorliegen, falls irgendetwas nicht klappt. Und im Play-Out-Center, der Sendezentrale, wo alle Signale zusammenlaufen, liegt eine komplett vorproduzierte Sendung für den Notfall bereit.

Das alles bedeutet Mehr-Aufwand, der sich auch rechnen muss?

Das sollte jeder Sender für sich entscheiden. Tendenziell muss man für Live-Produktionen mehr zeitliche, personelle und technische Ressourcen vorhalten. Das fängt bei der genauen technischen und redaktionellen Planung an, geht über eine großzügige Buchung für Übertragungswege und endet bei der Einsatzdisposition der Mitarbeiter. Wichtig im Live-Betrieb ist, dass stets genügend Zeitpuffer eingeplant werden. Es muss Produktionssicherheit herrschen, selbstverständlich um den Preis, dass diese zusätzlichen Zeitaufwände bezahlt werden müssen. Bei Live-Produktionen sind ein doppelter Boden und zusätzliche Havarie-Lösungen unverzichtbar.

Von der Studiocrew bis zum Live-Signal – sind die Kosten pro Sendeminute beim Live-TV teurer als bei einer Aufzeichnung?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Entscheidend sind immer die Formatanforderungen und der „Production-Value“, den man anstrebt. Der Minutenpreis für die Live-Übertragung einer Bundestagsdebatte auf Phoenix ist sicherlich nicht sehr hoch. Die Kameras sind fest im Plenarsaal installiert, die Regietechnik auch, so dass hier sehr überschaubare Kosten anfallen. Live ist also nicht per se das teurere Programm. Anders ist das bei Außenübertragungen, wo eine entsprechende Produktionsinfrastruktur mit einem Ü-Wagen, Rüstfahrzeugen und einer aufwendigen Verkabelung erst geschaffen werden muss. Zudem schlagen hier die Auf- und Abbauzeiten zu Buche.

Kommen wir zur gestalterischen Umsetzung: Welche dramaturgischen Herausforderungen sehen Sie beim Live-Fernsehen?

Die redaktionellen Vorbereitungen und das Zeitmanagement sind neben der  Schnelligkeit in der technischen Umsetzung essentiell. Man agiert im Live-Modus nämlich in mehreren Zeitebenen gleichzeitig. Bisweilen entstehen hier auch Zeit- und Zielkonflikte, zwischen denen man vermitteln muss. Zum einen gibt es die Eigenzeit des Ereignisses, über das berichtet wird. Diese deckt sich nicht unbedingt mit der Sendezeit. Es gibt „Planzeiten“ und „Ist-Zeiten“, die vom Redaktionssystem ausgewiesen werden und die nicht selten auseinander driften. Die Kunst der Live-Produktion besteht darin, zwischen all diesen Zeitebenen zu jonglieren und am Ende pünktlich zu landen. Das kann bedeuten, Zeitabläufe zu raffen oder Zeitlücken auf zu puffern. Bei Live-Sendungen muß jedes Sendeelement in eine zeitliche Chronologie gebracht werden.

Haben Sie hierfür ein Praxisbeispiel parat?

Mal angenommen Sie arbeiten bei einem News-Sender und es passiert ein Flugzeugabsturz. Sie unterbrechen sofort Ihr Programm mit einer „Breaking News“, haben aber nicht mehr als eine Agenturmeldung und ein paar Footagebilder. Trotzdem müssen Sie Sendezeit füllen, weil das Ereignis von hoher Relevanz ist. Selbst dann, wenn die Materiallage extrem dünn ist. Für solche Fälle ist der Redaktionsexperte Gold wert, der sich mit Airlines und Flugzeugtypen gut auskennt, der sein Sakko immer griffbereit hat und vor der Kamera aus dem Stegreif über die Flugzeugabstürze der letzten zehn Jahre referieren kann. Andererseits gibt es aber auch Live-Sendungen, bei denen Live-Material im Überfluß zur Verfügung steht und das Hauptproblem darin besteht, nichts Wichtiges zu verpassen.

Die da wären?

Wahlsendungen zum Beispiel: Binnen Sekunden muss in der Wahlberichterstattung entschieden werden, zu welchem Gesprächspartner geschaltet wird. Da in der Senderegie mehrere Live-Signale von verschiedenen Übertragungsorten, etwa den Parteizentralen, zusammen laufen, ist hier das Priorisieren extrem wichtig. Das heißt, man schaltet immer dort hin, wo man noch nicht war oder wo vielleicht ein höherrangiger Interviewpartner zur Verfügung steht. Wahlsendungen sind eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Der Wahlausgang ist offen und es existiert eine wahre Flut an Live-Bildern, die folgerichtig zu selektieren sind. Die Hauptlast entfällt auf die Moderatoren. Diese müssen in Windeseile auf Hochrechnungen reagieren, fehlerfrei sprechen, formulieren, bewerten, einordnen und sich dabei auf das beziehen, was jeweils zuvor gesagt wurde. Wahlberichterstattung ist die ganz hohe Schule des Live-TVs.

Zwischen live und nicht-live gibt es große Unterschiede in redaktioneller, aber auch in produktionstechnischer Hinsicht?

Das kommt wiederum auf den Einzelfall an. Bei einer Sendung wie Galileo ist der Unterschied zwischen einer Live-Sendung und einer Aufzeichnung gar nicht so groß: Beide werden mit der gleichen Technik, der gleichen Mannschaft produziert. Nach mehreren tausend Sendungen, die wir in unseren Studios mit fast immer dem gleichen Team hergestellt haben, sind die Arbeitsabläufe sehr gut eingespielt. Es existieren ausgeprägte Live-Routinen, die das Sendeergebnis viel kalkulierbarer machen. Anders ist das bei Sendungen, die nur einmal produziert und die aus dem Stand entwickelt, geprobt und umgesetzt werden. Dennoch gibt einen psychologischen Unterschied, wenn man live drauf ist…

Sie meinen den Live-Kitzel?

Fernsehmacher lieben live. Man spürt, jetzt geht es um die Wurst. Millionen Zuschauer sehen zu und jeder muss seine Bestleistung bringen. Das beschert allen Beteiligten einen höheren Spaßfaktor, ohne die Aufzeichnung abwerten zu wollen. Fakt ist: Live arbeiten alle eine Spur konzentrierter und bisweilen auch mit mehr Leidenschaft. In dem Bewusstsein, dass man bei Aufzeichnungen jederzeit abbrechen und nachjustieren kann, entstehen gerne Verzögerungen: Der Licht setzende Kameramann entdeckt noch einen kleinen Schatten im Bildhintergrund, der Bildingenieur hätte gerne eine bestimmte Einstellung schärfer oder kontrastreicher. Die Redaktion überlegt, noch ein zusätzliches Hintergrundbild zu schneiden, damit der Studioauftritt spannender wird. Der Moderator findet plötzlich Unstimmigkeiten in seinem Text usw. Heißt, jeder kämpft mehr oder weniger für sich. Unter Live-Bedingungen herrscht dagegen von vornherein mehr Disziplin. Während bei Aufzeichnungen schon mal länger diskutiert und jedes Gewerk versucht, für sich das Beste herauszuholen. Im Live-Betrieb muss das Zusammenspiel perfekt klappen.

Was ist für Sie als Live-Regisseur besonders wichtig?

Das Geheimnis einer gelingenden Live-Sendung liegt in der Vorbereitung. Live wird vielfach nur abgearbeitet, was zuvor gedacht, geplant und geprobt wurde. Als Regisseur verbringt man viel Zeit auf Redaktionskonferenzen. Dort hat man eine Vertrauensfunktion inne. Dieses Vertrauen muss man sich allerdings erst über die Berufsjahre erarbeiten. Zudem ist die Ablaufplanung wichtig. In der Zusammenarbeit mit der Redaktion wird der Ablaufplan erstellt, der jedem an der Sendung Beteiligten vorliegt. Der Plan muss exakt ausgearbeitet und fehlerfrei sein, sonst kann das zu Live-Katastrophen führen.

Mit welchen gestalterischen Finessen fangen Sie den Live-Charakter noch besser ein?

Zunächst ist festzustellen, dass sich die Sehgewohnheiten in den letzten Jahren radikal geändert haben. Heutzutage schrauben sich die Ansprüche in der optischen Präsentation immer mehr nach oben. Vor allem Live-Fernsehen braucht die großen Bilder. Das Sender-Design, die Grafikanimationen oder die Verpackungselemente der einzelnen Sendungen müssen harmonisch mit den Studiobildern verschmelzen. Jedes x-beliebige Verbrauchermagazin hat inzwischen eine ausladende Studiodekoration, die man erst mal erschaffen muss. Im Showbereich ist der Aufwand an Effekten und Licht immens. Überhaupt Licht! Ein Gestaltungsmittel, dessen Wirkung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Höchstens kleine Lokalsender können sich noch ein schlechtes Licht erlauben. Schließlich gehört die mediale Bespielung via Plasma-Screen und LED-Wänden zum Standardrepertoire der anspruchsvollen Studioproduktion.

Wie erreicht man möglichst hohe Opulenz in den Bildern?

Durch eine ausgeklügelte Aufnahmetechnik. Eine Steadicam etwa bietet die Möglichkeit, der Statik von Studiobildern zu entfliehen. Mit diesem beweglichen Kamerasystem sind zum Beispiel 360-Grad-Gänge möglich, die den Zuschauer direkt in das Geschehen hineinziehen. Besonders beliebt sind Kamerakranbewegungen, die – in Kombination mit Weitwinkelobjektiven – für einen perfekten räumlichen Eindruck sorgen. Bei Live-Übertragungen mit viel Publikum bieten sich „Flying Cams“ an, die an Seilsystemen ferngesteuert durchs Fußballstadion rasen. All diese Mittel vermitteln Größe und Wertigkeit, wenn auch der Zuschauer das nur unbewusst wahrnimmt.

Welche technischen Faktoren beeinflussen die Qualität einer Live-Übertragung?

Im Zuge der Digitalisierung und Vernetzung wird heute filebasiert produziert, also viel schneller und im Produktionsworkflow nahezu bandlos. Vernetzte Systeme, wie Archiv- oder Redaktionssysteme, erlauben einen viel schnelleren Zugriff auf Inhalte und Bewegtbilder aller Art. Der gesamte Herstellungsprozess einer Live-Sendung hat sich geändert. Dadurch ist es möglich, viel schneller und effizienter zu produzieren. Viele Studioabläufe sind inzwischen automatisiert. Im Tagesschau-Studio etwa befinden sich nur noch die Moderatoren. Die Kamerabewegungen verrichtet eine Kamera-Robotik, die auf Knopfdruck Fahrten mit äußerster Präzision ausführt. Wir sehen eine Konvergenz von Redaktion und Produktion, was nicht ohne Auswirkungen auf die jeweiligen Berufsbilder bleibt.

Welchen Einfluss haben digitale Entwicklungen aufs Live-TV?

Mit der Smartphone-Technologie, gekoppelt mit einer Internetverbindung und einem Streaminganbieter, ist für Live-TV-Anbieter anno 2016 sehr viel möglich. Gerade in der Sportberichterstattung gibt es viele Möglichkeiten, um mit erstaunlicher Qualität etwas live von A nach B zu übermitteln. Generell existieren heute mehr Ausspielwege für Live-Inhalte: Es gibt Live-Channels auf den Videoportalen, Live-Apps und über HbbTV lassen sich zusätzliche Live-Kanäle einrichten. Sogenannte Rucksacksysteme, wie der „TransBag“, der auf Mobilfunktechnologie basiert, ermöglichen Live-Reportagen für wenig Geld.

Auf Konsumentenseite wird das Live-Streaming immer populärer, auf Portalen wie YouTube finden sich immer mehr Live-Inhalte. Ein Smartphone ist im Prinzip schon eine funktionierende Übertragungseinheit. Falls es das Thema hergibt, schalten sich in unseren Programmen schon mal Live-Reporter mit einem Selfie-Video in unsere Sendungen. Es gibt heute zahlreiche Möglichkeiten, auch mit kleinem Besteck zu produzieren. Die erfolgreichen YouTuber machen es vor, wie das gehen kann. In letzter Zeit machen die Livestreaming-Apps wie Periscope und Meerkat von sich reden. Wir erleben gerade eine wahre Flut von „User-generated-Content“ und in Zukunft wird die Masse der Live-Bilder vermutlich noch stark zunehmen. Allerdings wird Fernsehen, das ist meine feste Meinung, das professionelle Medium für Information und Live-Entertainment bleiben, da hier ein etablierter Apparat mit redaktionellem und technischem Know-how dahinter steht und eine Wertigkeit hergestellt werden kann, die eine Einzelperson so nicht schaffen kann.

TV-/Web-Experimente wie „Keep Your Light Shining“ sind bislang gescheitert. Glauben Sie an eine Verschmelzung der Medien?

In der Symbiose von TV und Internet steckt noch viel Musik. Wer das Ping-Pong Spiel zwischen TV und Online beherrscht, hat Marktvorteile. Gelungene, öffentlich-rechtliche Beispiele sind „24h Jerusalem“ oder „Deutschland. Dein Tag“. Bei ProSieben haben wir mit „Du bist Kanzler“ ein Paradebeispiel für interaktives Fernsehen geliefert. Durch Live-Voting konnten sich die Fernsehzuschauer in die Rolle der Bundeskanzlerin begeben. In den Beiträgen wurden Fragen gestellt, über die man abstimmen konnte. Innerhalb der Sendung wurde live darauf reagiert, das heißt, die Folgen der Entscheidung waren sofort spürbar. Auf alle Fälle kann interaktives Fernsehen den Zuschauer noch stärker involvieren.

Wo sehen Sie die größten Potentiale für das Live-Fernsehen? Überall dort, wo es um ein Informationsbedürfnis und eine emotionale Publikumswahrnehmung geht, kann Live-Fernsehen punkten. Man sollte dabei nicht vergessen, wo das Fernsehen herkommt. In den Anfangsjahren, als die Magnetaufzeichnung noch nicht erfunden war, wurde immer live gesendet. Zwar war das weitgehend nur bebilderter Hörfunk, entscheidend war aber, dass durch das Fernsehen die räumliche Überwindung von Distanz und soziale Teilhabe ermöglicht wurden. Vielleicht besinnt man künftig wieder stärker auf diese Wurzeln.

Wenn das Live-TV so viele Vorteile bietet – warum gibt es prozentual so wenige Live-Strecken im Fernsehprogramm?

Ich vermute, das hängt mit den hohen Anforderungen der Formatierung zusammen. Beim TV zählt nämlich nicht so sehr der einmalige Erfolg, sondern der reproduzierbare Erfolg. Programmstrategen haben vor allem Zielgruppen und die Wirtschaftlichkeit im Visier. Die serielle Produktion ist genau durchgetaktet und entspricht im Wesen der Industrienormierung. Zudem lässt die Verankerung in festen Zeitschienen wenig Spielraum für Veränderungen. Es geht darum, das Profil eines Fernsehformates zu schärfen und die Erfolge kalkulierbarer zu machen. Anders gesagt: Formate geben ein Versprechen ab, dem Zuschauer exakt das zu liefern, was er erwartet, und das schüttelt man nicht so einfach aus dem Ärmel.

Läuft die Online-Konkurrenz dem TV den Rang ab?

Wer weiß das schon. Wenn früher eine Sendung Erfolg hatte, lag das zum einen an der Personality des Moderators, zum anderen daran, dass für den Zuschauer neue, aufregende Dinge dargestellt wurden. Heutzutage gibt es zwar immer noch hervorragende Moderatoren, aber das Verlangen nach Neuem und lässt sich kaum mehr befriedigen. Im medialen Overkill sowie der Omnipräsenz des Internets wird es zunehmend schwieriger, Themen und Formen zu finden, weil alles irgendwie schon einmal produziert wurde und die Mitbewerber vielleicht schon eine Nasenlänge voraus waren. Wenn man so will, hat es das Fernsehen 2016 schwerer als noch vor 20 Jahren, aber es ist immer noch die wichtigste Freizeitbeschäftigung. Es gibt keine Alternative: Jeder Sender muss sich dem verschärften Wettbewerb stellen.

Wolfgang Scheidt

© Rupert Neumayr

MB 1/2016