Livestream für die Bildung

Auch heute noch ist die gesetzliche Existenzgrundlage für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit seiner Kernaufgabe verbunden, neben Information und Unterhaltung insbesondere Bildung zu bieten. Genau das war Ziel des ARD-Musikvermittlungsprojekts „Das Dvorák-Experiment“. Höhepunkt war ein crossmedialer Live-Event am 19. September. Weil das ambitionierte Projekt aber nur via Radio und Internet realisiert wurde, nahm die breite Öffentlichkeit davon leider kaum Notiz.

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Livestream für die Bildung

Faszination Internet – schon seit rund 20 Jahren dauert der rasante Siegeszug der vernetzten Informations- und Kommunikationstechnologie an: in den Medien, an Arbeitsplätzen und im ganz normalen privaten Alltag, in den Köpfen. Den Blick eindimensional auf die digitale Zukunft gerichtet, schienen traditionelle Werte ihre gesellschaftliche Relevanz zu verlieren. Jetzt schlägt das Pendel der Zeit zurück, es kommt die Wende. In den neuesten Büchern zum Thema Internet wird nunmehr vor „Digitaler Demenz“ und „Digitaler Diktatur“ gewarnt. In Zeitungen sind Headlines wie „Das böse Internet“ zu finden, das reale Arbeitsplätze zu Gunsten technologischer Effizienz vernichtet, ohne sich um Datenschutz und die Errungenschaften einer sozialen Arbeitswelt wie Tarife zu scheren. Natürlich will niemand das Internet abgeschafft wissen. Doch es steht immer mehr die Forderung im Raum, dass sich das Netz den tradierten gesellschaftlichen Werten unterzuordnen habe, anstatt dass sich Menschen der algorithmischen Zweckrationalität der Technik anpassen müssen. Der im Juni überraschend verstorbene FAZ-Mit-Herausgeber Frank Schirrmacher war der Erste in Deutschland, der eine entsprechende Kampagne entfacht hatte, die zumindest in intellektuellen Kreisen und bei einigen Politikern zündete. Und am 12. Oktober in diesem Jahr hat der berühmte kalifornische Internet-Guru Jaron Lanier den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels dafür erhalten, dass er seine frühere bedingungslose Internet-Euphorie aufgegeben hat. Neuerdings predigt Lanier, man müsse eine Synthese „aus dem Besten der prä-digitalen und der digitalen Systeme“ finden. Das sei die „einzig ethische Option“. Als Dankeschön für die Ehrung in der Frankfurter Paulskirche nahm er seine Khaen, ein altes laotisches Holzblasinstrument, in die Hände, um das Publikum mit einer althergebrachten Musikweise zu beglücken. Womit er im Huckepack seine neueste Erkenntnis sinnlich nachvollziehbar machte: Trotz aller Digitalisierung dürfe Althergebrachtes nicht über Bord geworfen werden.

ARD – mehr als Fernsehen

Nun hat auch die ARD in ihrer Rolle als Kulturinstitution scheinbar die Zeichen der Trendwende zurück zu traditionellen Werten erkannt, – allerdings durchaus auch eigennützig. Es geht nicht um ein einzelnes Musikinstrument. Vielmehr sind im riesigen beitragsfinanzierten Gefüge der neun ARD-Anstalten mit 24 Orchestern, Chören und Big Bands sowie einem Kinderchor nicht nur ungezählte Musikinstrumente, sondern ein kostspieliger Personalapparat eingebunden, zumal bekanntlich jedes einzelne Orchester vielköpfig ist. Mehr noch: Bei jeder der neun ARD-Anstalten ist dazu noch eine „Edukations“-Redaktion angebunden, was man in den vergangenen Jahren gar nicht wusste. Das kann daran liegen, dass man bei der ARD den Begriff „Edukation“ nicht mag, zumal er in „denglish“ geprägten Internetzeiten völlig altmodisch klingt und erst Recht nicht zur Quotenjagd passt. Wenn überhaupt redet man lieber über „Education“.

Existenzabsicherung für ARD-Orchester

Bereits Anfang Februar hat die ARD unter Leitung ihres Vorsitzenden und NDR-Intendanten Lutz Marmor das Projekt „Dvořák-Experiment – Ein ARD Konzert macht Schule“ erstmals im Rahmen einer Pressekonferenz als „Education Angebot“ in Berlin vorgestellt. Joachim Knuth, Programmdirektor NDR Hörfunk und Vorsitzender der ARD-Hörfunkkommission erklärte damals klipp und klar, worum es vorrangig geht: Man wolle auch etwas für die „Existenzabsicherung“ der ARD-Orchester tun, nämlich „vorsorgen, dass man die Orchester auch in Zukunft braucht“. Tatsächlich gibt es nämlich Kulturbanausen, die nach Kosteneffizienz-Kriterien einen Kahlschlag für die teuren ARD-Orchester fordern, ohne die Situation zu prüfen. Marmor betonte, die ARD sei „mehr als Fernsehen“. Kinder würden Musik lieben, aber nur passive Liebe reiche nicht aus, weshalb man „Musik zum Anfassen“ bieten wolle. Der Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters, Thomas Hengelbrock, für den das Projekt eine „Herzensangelegenheit“ ist, berichtete, dass er selber viel in Schulen unterwegs sei und es „bedrückend und besorgniserregend findet, „dass der Musikunterreicht so häufig ausfällt“. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrats, der Partner des ARD-Projekts ist, kennt die erschreckende Zahl: „80 Prozent des Musikunterrichts in den Schulen fallen aus“. Deshalb komme die Kooperation „zum richtigen Zeitpunkt, um zu versuchen alle Kinder mit dem Reichtum der Musik zu konfrontieren“. Eine schöne Idee. Wenn es der ARD gelänge, auf den bundesweitem Missstand im musischen Unterricht an den Schulen hinzuweisen und mit den vorhandenen Kapazitäten die vermutlich von den Kulturministerien verschuldete Lücke etwas zu schließen, dann wäre der auch in Orchestern und Edukation fließende Rundfunkbeitrag bestimmt gut investiert. Aber was genau hat denn nun die ARD mit ihrem Musikvermittlungsprojekt im Einzelnen auf die Schiene gesetzt?


„Das Dvořák-Experiment war von Anfang an als bundesweites Live-Ereignis geplant“, erklärt NDR-Redakteurin Christina Dean, die das ARD-Projekt koordinierte. Im Mittelpunkt stand dabei Dvořáks 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt”, das das NDR-Sinfonieorchester im Rolf-Liebermann-Studio des NDR in Hamburg unter Leitung von Hengelbrock am 19. September aufführte. Seltsamerweise wurde es aber nicht live über einen der vielen ARD-TV-Kanäle massenwirksam ausgestrahlt, sondern in Nischen gesteckt und per Video-Livestream von ARTE-Concert im Netz und in allen Kulturradios der ARD übertragen. Dafür wurde immerhin die Produktionsfirma e-motion-factory Bremen beauftragt. Auf Basis einer mobilen Regie von Barco, mit sechs bemannten und zwei unbemannten Kameras von Sony ließ sich die Übertragung recht preisgünstig realisieren, inklusiver zweier Schaltungen zum rbb und WDR über das ARD-interne Glasfaser-Leitungsnetz Hybnet. Der Livestream wurde in der Auflösung 1024 x 576 in SD-Qualität mit einer Datenrate von zirka 1Mbit/Sekunde gesendet. In einer Schule in Freiburg brach er prompt nach wenigen Minuten zusammen, berichtete die Badische Zeitung.
Wichtiger wohl für das Musikvermittlungsprojekt in Richtung einer jungen Zielgruppe: Im Vorfeld des Live-Konzerts hatte man die Website „schulkonzert.ard.de.“ installiert, in der es Informationen zu Dvořáks 9. Sinfonie und seinem Leben quasi als Unterrichtsmaterial für Schulen gab, das sie nutzen konnten, um sich auf das Live-Event kreativ vorzubereiten. Die Verantwortlichen in den jeweiligen ARD-Landesrundfunkanstalten versuchten vorhandene Netzwerke zu nutzen, um Lehrer, Eltern und vor allem Schüler zum Mitmachen zu aktivieren, um beispielsweise in Workshops Dvořák – wie Marmor sagte – „zum Anfassen“ zu erleben. In Berlin, das war im Livestream zu sehen, spielten Schülerinnen und Schüler Dvořáks 9. Sinfonie auf selbstgebastelten Panflöten nach. In Köln musizierten sie gemeinsam mit der WDR Bigband. Letztlich, so Dean, „haben sich fast 370 Schulen mit insgesamt etwa 22.000 Schülerinnen und Schülern am Dvořák-Experiment beteiligt“.
Was die ARD als Erfolg feierte, dürfte aber vorerst nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, weil es in Deutschland nicht 370, sondern knapp 35.000 allgemeinbildende Schulen mit viel zu wenigen Musiklehrern gibt. Weil es der Livestream für die Bildung im globalen Internet möglich gemacht hat, haben sich am Dvorák-Experiment auch Deutsche Schulen in den USA, in Tschechien, Russland, England, San Salvador und auf Gran Canaria beteiligt, was die Bedeutung des Projektes unterstreicht. Und Schirmherr für das gemeinsame Projekt von ARD und Deutschem Musikrat ist kein geringerer als Bundespräsident Joachim Gauck.

Pilotprojekt und Experiment

Ausdrücklich hat es sich im ersten Anlauf, wie alle Beteiligten von Anfang an wussten, um ein Pilotprojekt und Experiment gehandelt. Man wisse, dass man das Projekt noch optimieren könne, sagt Dean. Großes Lob hat die ARD nach Abschluss des Experimentes vom Generalsekretär des Deutschen Musikrats Höppner erhalten: „Die ARD hat mit ihrem Engagement einen zukunftsweisenden Grundstein gelegt und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für musikalische Bildung einmal mehr veranschaulicht.“ Umso wichtiger sei es nun, so Höppner weiter, „dieses Engagement zu intensivieren und damit vor allem den Entscheidungsträgern in der Politik zu verdeutlichen: Musikalische Bildung geht uns alle an.”


Gut also, dass sich die ARD entschlossen hat, es in Zukunft einmal im Jahr zu veranstalten. 2015 wird in Nachfolge vom NDR der BR die Federführung übernehmen und damit die zentralen Kosten für das Projekt zahlen müssen. „Musik ist Kunst“, weiß Dean. „Es ist kein Mittel zum Zweck, sondern gehört zum menschlichen Dasein hinzu“. Eine Erkenntnis, die auch Internetpionier Lanier mit seinem laotischen Musikblasinstrument intonierte.

Erika Butzek

MB 8/2014

© Marcus Krüger

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